Beschwerdechöre bringen Bürgerkritik schwungvoll in die Öffentlichkeit.von Angela Kuboth, erschienen in Ausgabe #32/2015
Heute schon wütend gewesen? Auf den Nachbarn, den Bundespräsidenten oder wegen weggeworfener Lebensmittel?
Catriona Shaw hatte sich über die Ignoranz der Leute geärgert, die gestern, am letzten Tag ihres Familienurlaubs in Frankreich erst den Bus nach Paris ausfallen ließen und dann keine Auskunft gaben, wann der nächste kommen würde. Und auch keiner nahm Rücksicht auf Catrionas dreijährige Tochter … Als wir uns in ihrem Atelier treffen, ist der Ärger verraucht. Hätte es geholfen, wenn sie am Vortag angefangen hätte zu singen, frage ich sie. Sie lacht: »Vielleicht?« Catriona ist in Nordschottland geboren, arbeitet als Malerin und Musikerin und lebt seit 2003 in Berlin. Als Sängerin erforscht sie bei Konzerten, wie sich die Grenzen zwischen Bühne, Tanzfläche und Publikum sowie Klang, Kostüm und Sängerin verwischen lassen. Manchmal finden ihre Experimente auf der Straße statt – als »Beschwerdechor«. Über diese Chöre möchte ich mehr erfahren, denn auch in Deutschland, dem Land der Meckerer, ist die Bewegung der singenden Kritiker auf dem Vormarsch. Auf YouTube stellt sich eine Beschwerdechor-Probe für Neulinge wie mich als ziemlich chaotischer Haufen dar, der eine Art Rap ausprobiert. Alle halten einen Zettel in der Hand, Kinder laufen durch den Raum, ein Mann im Rollstuhl gibt den Rhythmus vor. Angefangen hat alles mit dem finnisch-deutschen Ehepaar Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen. Als die beiden sich mal wieder über das schlechte Wetter in Helsinki ärgerten, fanden sie im Wörterbuch den Ausdruck »Valituskuoro« – Beschwerdechor. So war die Idee der »Complaints Choirs« geboren: Den Ärger fröhlich hinaussingen! Die erste öffentliche Aktion, bei der ein Lied aus den Klagen der Beteiligten improvisiert wurde, fand im November 2006 in Birmingham statt. Während einer Artist Residency (Künstleraufenthalts) in Finnland saß Catriona mit Tellervo Kalleinen in der Sauna. Die stellte fest, dass sie Catriona früher in New York hatte musizieren hören, und so fassten beide den Plan, den nächsten in Berlin geplanten Beschwerdechor gemeinsam zu begleiten. Wie war das für Catriona? »Ich bin Sängerin, kann Lyrik schnell in Musik umsetzen«, sagt sie. Mit vielen Leuten zu kommunizieren, falle ihr leicht. Trotzdem sei es eine Herausforderung gewesen, in so kurzer Zeit praktisch auf Zuruf ein Lied zu schreiben. »Ich wusste, das kann auch scheitern. Aber damit hätte ich kein Problem gehabt.« Worüber haben sich die Teilnehmer damals aufgeregt? »Hundekot, Jackenfarbe, dass jemand immer zu spät kommt – da kamen die unterschiedlichsten Sachen aus Politik, Verkehr oder Job zusammen.« Alles wurde aufgeschrieben, nach Kategorien geordnet und die Gruppe stimmte ab, was ins Lied aufgenommen werden sollte. Sind kaputte Schuhe genauso bedeutsam wie Atommüll? Dieses Hinterfragen, was für einen selbst wichtig sei, löse innerlich schon einiges, findet Catriona. Sie veränderte den Text so, dass alles rhythmisch passte. Indem sie die Kategorien mischte, entstand eine gewisse Art von Humor. Den Beschwerdechor empfindet Catriona als gute Art, etwas auszudrücken, was unter den Nägeln brennt. Im Januar war sie Leiterin eines Chors zur Agrar-Demo »Wir haben es satt!« in Berlin. »Bei den Vorbereitungen habe ich viel über Agrarpolitik gelernt«, sagt sie. »Sich auf ein Thema zu konzentrieren, war eine neue Erfahrung.« Catriona zweifelt, ob ihre einzelne Stimme bei jener Urlaubsrückfahrt aus Frankreich etwas bewirkt hätte. »Doch: Ein wenig mehr Aufmerksamkeit wäre mir gewiss gewesen!« •