Titelthema

Parlament des Augenblicks

Damit Kunst und Wissenschaft sich miteinander verbinden, bedarf es mancher Handreichungen und ­Geburtshilfen. Ein Künstlerkollektiv in München schritt zur Tat und installierte den »DantonDenkRaum«.von Claus Biegert, erschienen in Ausgabe #32/2015
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Wer an den zwei November-Wochenenden im letzten Herbst bei Dunkelheit des Wegs kam, konnte in der Münchener Pettenkoferstraße über dem Eingang zur Anatomie der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) ein Schild sehen, das tagsüber noch nicht da war: »DantonDenkRaum«. Um Mitternacht war es wieder weg. Es war wie ein Spuk. Wie ein Sandbild, dessen Muster der Wind nach dem Ritual wieder auflöst, indem er die farbigen Körner zurück ins Chaos bläst. Die Medizinstudenten, die montags in die Anatomie-Vorlesung kamen, ahnten nichts von dem Geschehen, alles war wieder sauber und aufgeräumt.

Die Pianistin heißt Masako Ohta, die Schlangenfrau ist die Tänzerin Katrin Schafitel. Sie gehören zur großen, weit verzweigten Entourage des Künstlerzweigespanns Kremer-Krötsch. Die bildende Künstlerin Isabelle Krötsch und der Bühnenschauspieler Hans Kremer betreiben im Münchener Westend ein interdisziplinäres Atelier. Auch privat sind sie ein Paar, begegneten sich in der Theaterszene. Georg Büchner hat sie schier zusammengetrieben, und jetzt treibt die Begegnung Blüten. Hans ­Kremer eint ein ganzes Theaterleben mit Büchner, gleich bei seiner ersten großen Rolle war er mit »Leonce und Lena« beim Berliner Theatertreffen 1982. Isabelle Krötsch stolperte in ihrer Laufbahn zwischen szenischer und bildender Kunst immer wieder über den »bei näherer Betrachtung hieroglyphisch anmutenden Büchner-Text von Dantons Tod«. Wie andere eine Redensart fallen lassen, haben die beiden diesen poetisch-politischen Autor auf den Lippen. Sie ist schneller: Die Zeit, die er für einen Büchner-Satz braucht, füllt sie mit zwei Zitaten. Es nimmt wenig Wunder, dass die beiden in ihrer Bühnenabenteuerlust Anleihe beim Meister des Vormärz nahmen.
Vormärz – so nennen Historiker die Zeit vor der Märzrevolution 1848, die Zeit des hessischen Schriftstellers, Mediziners, Natur­wissenschaftlers und Revolutionärs Georg Büchner (1813–1837). Nur 23 Jahre wurde er alt, doch seine Worte klingen wie Altersweisheit, zeugen von radikalem Durchblick und tiefen Erfahrungen. Sein Stück »Dantons Tod«, in dem es von medizinischen Allegorien wimmelt, steht nun Pate für eine experimentelle Veranstaltungsreihe in einem Anatomischen Theater. Geschrieben hat Büchner diesen Text am Seziertisch; unter der Tarnschicht der Französischen Revolution mutierte er zu einer Innenschau menschlicher Beziehungen und Verhältnisse. Die Münchener Künstlertruppe ist sich einig: »Dantons Tod ist eine Flaschenpost fürs 21. Jahrhundert!«
Georges Danton: Protagonist der Französischen Revolution 1789. Gegenspieler von Maximilien de Robespierre, mit dessen Namen man die Terrorherrschaft assoziiert, in der die Revolution »ihre eigenen Kinder fraß«. Von Robespierre ist dieser Ausruf überliefert: »Ich behaupte, dass wer immer in diesem Augenblick zittert, schuldig ist, denn die Unschuld hat von der öffentlichen Überwachung nichts zu befürchten!« Kennen wir diese Behauptung nicht? Haben wir sie nicht erst kürzlich aus dem konservativen Lager gehört? Die digitalen Lauscher unseres Überwachungszeitalters – haben sie ihren Robespierre studiert? Oder werden solche Behauptungen jeder neuen Generation von der Geschichte eingeflüstert? Danton wurde geopfert, Robespierre nur ein wenig später. Wir Heutigen stellen uns die immer wiederkehrenden Fragen: Müssen Revolutionen ihre Kinder fressen? Können wir eine Revolution entfachen, die Danton leben lässt? Wie muss eine Revolution beschaffen sein, die ihre Kinder nährt, statt sie zu opfern?
Gleich zu Anfang des Projekts, 2013 war das, hatten sich Kremer und Krötsch für diese Frage einen »Raumdenker« geholt, der inzwischen – am 18. Mai 2014 – in einen anderen Raum gewechselt ist: Hans-Peter Dürr, den Pazifisten und Physiker, den Lehrer und Mahner – einen schwäbischen, weißbärtigen Weltenbummler, der aus Quantensprüngen seine Energie schöpfte. Er sprach täglich vom Prinzip der Allverbundenheit, die den individuellen Standpunkt nicht zugunsten einer reinen Einheitslehre vereinnahmt, sondern jeden zum bewussten Beitrag des Ganzen – dessen Teilhaber sie bzw. er ist – werden lässt.

Jeder ein Revolutionär? Die Tür ist offen, die Zeit reif!
Isabelle Krötsch orientiert sich an Hans-Peter Dürr: »Er stellte die ›Kunst‹ unter Umständen als eine Metapher fürs ›Festhalten‹ infrage, pries aber gleichzeitig die Bedeutung von Kunst und Musik als gesellschafts- und gemeinschaftsbildenden Prozess, als Resonanz, die wiederum auf die Gesellschaft zurückwirkt. Er sah die offene und bewegliche Grundhaltung des Künstlers als wichtiger an als das fertige Werk, das Dazwischen als gewichtiger als die Materie, die er ›verschlackten Geist‹ nannte.« Für den Denkraum bedeutet das: »Wir nehmen den Augenblick, die Bewegung des künstlerischen Vorgangs, die Hommage an die Skizze im Seziersaal unter die Lupe und lassen das Skalpell weg.«
2013 war Hans-Peter Dürr, der Physiker und Tänzer (seine Frau Sue tanzte mit ihm durchs Leben), zu Gast im DaDeRa. Als er den Hörsaal betrat, die Musik spielte bereits, fühlte er sich verzaubert, schnappte sich nacheinander die Schauspielerin Katalin Zirner und die Schattenbildnerin Gisela Oberbeck – und eröffnete tanzend den Abend. Die anderen fühlten sich von einem Sternennebel berührt. »Er war wie ein Kind«, erinnert sich die Pianistin Masako Ohta. »Mein fernes Vorbild und wissenschaftliches Idol, plötzlich vor mir, das Tanzbein schwingend – ich dachte, das kann nicht sein«, sagt der Videokünstler und Professor an der Kunstakademie Münster Andreas Köpnick. Der Tanz des großen alten Mannes berührte das gesamte Kollektiv, und so kam man überein, ihm sechs Monate nach seinem Tod den Denkraum 2014 zu widmen.
Der Hörsaal der Anatomie ist ein Hörsaal der Anatomie ist ein Hörsaal der Anatomie – auch wenn ihn ein Schwarm von Querdenkern und Grenzgängern samt -denkerinnen und -gängerinnen mit Splittern diverser Parallelwelten füllt. Doch das ist gut so. Dort, wo sonst während der Semester die Leichen liegen und den Studenten das Wissen über das Leben übergeben, dort sitzen dann für ein paar Stunden die DaDeRa-Akteure und schenken ihr Wissen her. Wie ein Instrument wird der Raum vom »Anders Denken« benetzt. Wissenschaft und Philosophie kommen im Dialog mit Kreativität und Improvisation nach Hause. Alle gehen dabei an ihre Grenzen. Überwindung der gesellschaftlich etablierten Ängste ist ebenso Programm wie das Auflösen der Angst vor dem Scheitern. Das kann Sternstunden ergeben, muss es aber nicht. Kremer & Krötsch: »Für derartige Risiken haben wir unser Atelier geschaffen. Unser Motto, angelehnt an eine Bach-Kantate, heißt denn auch: »Vereinigte Zwietracht der wechselnden Seiten!«.

Jede eine Revolutionärin? Die Tür ist offen, die Zeit reif!
Das Wachs-und-Gewinn-System frisst Menschen, Tiere, Bäume, Böden. Ohne Revolution keine Zukunft. Was lehrt uns »Dantons Tod«? »Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?«, fragt Danton seine Frau Julie. Und dann, es lässt uns an die anonymen Kräfte des Kapitalismus denken: »Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen: nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.« Und: »Die Welt ist ein Chaos.« Ja. Und? »Soll ich mir das Leben nehmen, weil ich es nicht begreife?«
Der temporäre, in Fortsetzungen angelegte DantonDenkRaum ist auch eine Versammlungs- und Werkstätte zur Untersuchung des Stadt- und Handlungsspielraums. Des Denkens sinnliche, nicht-lineare Seite soll herausgefordert werden. Der Salon-Charak­ter der Veranstaltung öffnet auch Vernetzungsräume. Neue Künstler-Ehen werden gestiftet: Elektronische Musik & Johann Sebastian Bach. Live-Zeichnung & Videokunst. Schauspiel & performative Akte. Die augenblicklichen Begegnungen geben sich die Hand und laden zum Dialog mit dem Publikum ein. Ein DantonDenkRaum-Abend ist eine große Einladung, ein Gastmahl der Sinne. Jeder bringt etwas mit: Statt Wein eine Portion eigenes Wissen, statt Antipasti ein paar Rezitationen, die den Ablauf lenken, statt Salat ein Stück am Klavier, statt Fingerfood Fingerspitzengefühl, statt Konfekt Zeichnungen, die sich live auf der Leinwand entfalten. Der Kamera, die den Zeichnern über die Schulter schaut, ist es zu verdanken, dass die Disziplinen nicht nebeneinanderstehen (und sei es auch noch so eng), sondern sich verschränken. Denn die Zeichner ruhen nicht. Eine Diskussion wird durch den Bogenstrich einer Geige interpunktiert, ein Konzert unterwandert die Vorherrschaft des Worts, und die Zeichner zeichnen weiter. Es entsteht eine Ahnung von kollektiver Intelligenz und morphogenetischem Feld.
Isabelle Krötsch und Hans Kremer sitzen am Küchentisch, formulieren im Duo: »All das geschieht im sogenannten Anatomischen Theater, das sowohl dem Amphitheater als auch dem Globe-Theatre Shakespeares gleicht und große architektonische Ähnlichkeit zu einer Nationalversammlung hat, was den DantonDenkRaum zum Parlament des Augenblicks macht.«
Ziel dieser Reizüberflutung oft gleichzeitiger Aktionen ist die Öffnung der Wahrnehmung, das Ausschalten des kalkulierenden Gehirns und des instantan einsetzenden Bewertungsapparats.
»Braucht’s dös?!« So pflegt der bayerische Kabarettist Gerhard Polt seinen eigenen Hintersinn zu hinterfragen. Die Antwort: Ja freilich, denn es geht um elementarste Fragen. Ein Parlament des Augenblicks wirkt lange nach. Die Bewohner eines Denkraums nehmen ihn mit in die Stadt, in ihre Wohnstuben, ihre Kreise.
Es ist Nacht. Draußen sitzen Krähen in den Bäumen. Drinnen sitzen wir und lauschen. Plötzlich schrumpfen wir im Hörsaal auf mikroskopische Größe. Was ist passiert? Der masselose Raum unserer Körper geht fließend über in den identischen Raum der uns umgebenden Luft, in diesem besonderen Fall die Anatomie der LMU in der Pettenkoferstraße, dann weiter in die Atmosphäre der Erde und schließlich in den Kosmos bis in die Unendlichkeit des Universums. Winzig, wie wir nun sind, lauschen wir mit kleinen Ohren und hören, dass wir und alle Materie zu 99,999 Prozent des Raumvolumens aus masseleerem Raum bestehen. Ohne diesen Raum wären wir 20 Mikrometer groß. Man müsste uns mit dem Mikroskop suchen. Der weißhaarige Zauberer – er heißt Ulrich Warnke und ist Physiker, Philosoph und Mediziner – hat Erbarmen und lässt uns Zuschauer wieder zu unseren Originalgrößen wachsen.
Ja, wenn sich Wissenschaft und Kunst begegnen, kann die Welt kopfstehen – oder wieder zur Ruhe kommen. »Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben. Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden […] ich habe keinen Namen dafür – aber wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?« (Dantons Tod).
Der DantonDenkRaum ist eine Achterbahn der Moleküle. •


Claus Biegert (68) ist Autor und Aktivist. Unter dem Eindruck der Bedrohung indigener Völker durch den Uranabbau gründete er den »Nuclear-Free Future Award«. www.nuclear-free.com.


Fortsetzungen der Bühnenabenteuer
Isabelle Krötsch und Hans Kremer haben in einer Eigenproduktion Büchners Novelle »Lenz« verfilmt. Kinostart von »Büchner.Lenz.Leben« ist Mai 2015.
 Das Konzept »Art Meets Science«, das den DantonDenkRaum bestimmt, wird in einer Ausstellung von Isabelle Krötsch im Europäischen Patentamt München ab 30. Juni fortgesetzt. Auch die Anatomische Anstalt in München wird bald wieder mit Gedanken und Geschöpfen bevölkert. 
www.dantondenkraum.de

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