Bildung

Frei aufwachsen mit guten Regeln

Bastian Barucker sprach mit der Journalistin und Ethnologin Catherina Rust über ihre Kindheitsjahre in einem Stamm von Amazonasindianern.von Bastian Barucker, Catherina Rust, erschienen in Ausgabe #32/2015

Catherina, du bist in einem Indianerstamm aufgewachsen, hast die ersten Jahre deiner Kindheit quasi in der Steinzeit verbracht. In deinem Buch beschreibst du paradiesische Zustände: Ihr Kinder hättet kaum Pflichten gehabt, aber viele Rechte und Freiheiten.

Meine Eltern erforschten Naturvölker. Sie waren schon etliche Jahre mit dem Stamm der Aparai-Indianer im brasilianischen Regenwald vertraut, kannten die klimatischen Bedingungen mitsamt der Flora und Fauna und wussten auch, wie man sich medizinisch vorbereitet. Sie sahen keinen Grund, wegen ihres Babys nicht an diesen schönen Ort zurückzukehren. Besonders für kleine Kinder schien ihnen das Umfeld perfekt.

Und – war es das?

Welches Kind würde diese Natur nicht als wunderschön empfinden? Diese Vielzahl von Bäumen, Palmen, die kleinen Waldgärten, in denen die Indigenen alles kunterbunt anbauten: Maniok, Bananen, Cashews, Erdnüsse, Baumwolle und vieles mehr. Und dann dieses Vergnügen, sich den ganzen Tag in der freien Natur bewegen zu dürfen!
Wie alle anderen Indianerkinder bin ich meistens nur mit Lätzchen herumgelaufen; Ausnahme waren die Flipflops, die ich zum Schutz vor Hakenwürmern und Schlangen tragen musste. Wir schwammen im Fluss, schwangen uns in Lianenschaukeln und wetteiferten in allen möglichen Disziplinen: Bootfahren, Fischefangen, ­Bogenschießen, Speerwerfen, Tiere beobachten, ihre Laute nachahmen und so fort. In Begleitung der älteren Kinder durften wir auch in den Urwald zum Sammeln nahrhafter Kerbtiere, Beeren und Kräuter.

Beim Lesen deines Buchs bekam ich den Eindruck, dass du schnell zum Teil der Dorfgemeinschaft wurdest.

Man könnte sagen, ich wurde in den Stamm »hineinadoptiert«, mit allen Pflichten und
Rechten. Ich wurde eher vom ganzen Stamm und weniger von meinen Eltern erzogen. Die gingen meistens ihrer Arbeit nach, und ich sah sie kaum. Als ich dann mit sechs Jahren nach Deutschland kam, musste ich bestimmte Dinge völlig neu lernen. Im Stamm waren die Kinder weit weniger auf Vater und Mutter fixiert gewesen. Alle Älteren – die Tanten, Onkel und älteren Kinder – sind dort für die Jüngeren im selben Maß zuständig wie die Eltern.

Wäre das Beziehungssystem in eurem Stamm nicht interessant für alternative, ­intentionale Gemeinschaften im Westen?

Wie bei vielen Naturvölkern gab es auch bei den Aparai ein Patensystem. Man bekommt einen älteren Paten oder auch mehrere Personen, die man ansprechen kann; falls vorhanden, hat man zudem einen vertrauten Genossen im gleichen Alter. Mit etwas Glück bekommt man selbst ein kleines Patenkind, für das man dann verantwortlich sein darf.
Bei mir war es so, dass eine fast Fünfjährige, die Silvia, mich spontan zu ihrem Patenkind erklärte und schnell mein volles Vertrauen erwarb. So kam es, dass ich schon bald mehr bei meiner Wahlfamilie als bei meinen Eltern zu finden war. Später entschied ich mich, die Patenschwester für die kleine Tanshi zu sein, deren Geburt ich miterlebt hatte.

Du schreibst, etliche Menschen im Dorf hätten besondere Qualitäten gehabt.

Als Kind habe ich darüber nicht nachgedacht. Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich am meisten von meinen indianischen Großeltern Antonia und Araiba geprägt wurde. Sie waren meine Vorbilder, haben mich in den Arm genommen, mich geführt und mir Sachen beigebracht. Großvater ­Araiba zeigte mir das Feuermachen, er war eine Art Lehrmeister. Als Deutscher hätte er bestimmt Latein gesprochen und Schach gespielt. Er war klug und besonnen und sprach unglaublich viele indigene Sprachen, dazu Portugiesisch, ein wenig Niederländisch und sogar etwas Französisch. Er war der Hüter der Mythen, und wenn man eine Geschichte hören oder etwas über die alte Zeit erfahren wollte, konnte man wunderbar zu ihm gehen. Er war das Gedächtnis, der Chronist des Dorfs.
Bei Großmutter Antonia durfte ich irgendwann zuschauen, wie sie ihre Speisen würzte. Sie hat mir gezeigt, wie man Baumwolle spindelt – und noch tausend andere Dinge. Beim Häuptling wusste ich, dass man mit besonderen Anliegen zu ihm darf; dann sagte er etwa: »Ich flicke dir dein kaputtes Fischnetz.« Als ich noch ganz klein war, hat er mir einmal ein winziges Bänkchen angefertigt, was ich nie verlangt hätte. Jeder wusste, den stört man besser nicht unnötig. Für Kuscheleinheiten oder praktische Dinge im Alltag wurde Tanta Malina angesprochen. Waren alle anderen Großen fort und nur die Kinder im Dorf, wusste man, die alte Peputo war noch da und hat ein Auge auf uns. Es gab also für alles einen Ansprechpartner. Man wusste, wer ein guter Handwerker war oder wer gut malen konnte. Man wusste, welche Frauen helfen konnten, wenn sich die Baumwollspindel verheddert hatte, und mit wem man vielleicht auf die Brandrodung gehen durfte, um Stecklinge zu setzen. Ganz wichtige Ansprechpartner für mich waren die älteren Kinder im Dorf. Und umgekehrt kamen die jüngeren Kinder zu uns Älteren. Kinder leben ja intuitiv, und es gab keine Hack- oder Rangordnung. Das war selbstverständlich.

Gerne würde ich von dir wissen: Was verstanden die Aparai unter Erziehung? Bei uns gibt es darüber ja sehr verschiedene Vorstellungen.

Wie ich schon sagte: Es gab keine Pflichten, sondern Freiheiten. Autoritäre Verbote waren unbekannt, man bekam eher Empfehlungen. Die Unterstützung der Erwachsenen war uns auf alle Fälle sicher. Es war ein respektvolles Führen auf Augenhöhe.
Im Nachhinein betrachtet, war Großmutter Antonia sicherlich die Strengste und zugleich die Gütigste von allen. Sie hat enorm viel verlangt, und meine Eltern meinten einmal: »Wenn wir etwas von dir wollen, dann antwortest du nur ›Keine Lust!‹ oder ›Keine Zeit!‹. Aber wenn die Antonia nur die Augenbrauen hebt und feststellt: ›Der Wasserkessel ist leer‹, dann flitzt du los.« Wir haben das anstandslos, freiwillig und gerne gemacht, weil die Großmutter eine unglaubliche Würde hatte. ­Umgekehrt wäre auch sie für mich durchs Feuer ­gegangen.
Die Frauen und Männer waren den ganzen Tag über beschäftigt, da war nicht viel mit Kinderunterhaltung. Wurden wir Kinder mal gebraucht, so hieß es doch niemals »Du musst helfen!«. Wir waren bemüht, helfen zu dürfen – etwa auf unserem Reibebrettchen mitreiben zu dürfen oder zum Holzsammeln auf die Rodung zu gehen. Wir waren so stolz, wenn wir mal gebraucht wurden!

Was sind nun die Unterschiede von dieser gemeinschaftlichen Art von Erziehung zu der unsrigen – und wie funktioniert sie?

Kamen wir mit einer Rückenkiepe voller Holz ins Dorf zurück, wurde das mit einem anerkennenden Blick von einem Erwachsenen wertgeschätzt und so verstärkt. Hatte man sich hingegen falsch verhalten, wurde man nicht geschimpft oder gerügt. Der Tadel bestand darin, dass dazu geschwiegen wurde, oder dem Kind wurde gezeigt: »Das ist nicht, was wir hier machen, das ist nicht gern gesehen.« Damit wurde nicht das Kind verurteilt, sondern es ging um die Sache. Das wurde so kommuniziert, dass man erkennen konnten, was aus der Perspektive des Stamms sinnvoll war und was nicht. Diese Art von Beziehung in gegenseitiger Achtung machte es möglich, dass wir bereit waren, einzusehen, welche Notwendigkeiten erfüllt sein müssen, damit ein gutes Leben für die Gemeinschaft möglich ist. Am Amazonas ist das keine tiefe Lebensphilosophie, es ist einfach so, seit Jahrtausenden. Daraus entwickelt sich wohl auch das Gemeinschaftsgefühl, das bei den Aparai alles zusammenhielt: Das Gefühl, sowohl mitzutragen als auch getragen zu werden.
Das meint sicher auch dieser schöne afrikanische Spruch: «Es bedarf nur zweier Menschen, um ein Kind zu zeugen – aber einen ganzen Stamm, um es zu erziehen.«

Angeblich dürfen Kinder in Wildbeuter-Stämmen fast alles, und zwar konsequenzfrei. Kommt das Leben im Regenwald ohne klare Regeln aus?

Klar gibt es dort Regeln, Gesetze und Verhaltensweisen! Aber nicht, um eine bestimmte Form der Kultur zu zelebrieren, sondern aus reiner Notwendigkeit; die Natur und die Gemeinschaft, in der man ja aufeinander angewiesen ist, diktieren die Regeln. Jedes Kind weiß, dass man nicht nach Sonnenuntergang an den Fluss geht, weil es dort viele Giftschlangen gibt. Oder: Beim Essen behält man immer ein bisschen Resthunger, von seinem besten Stück isst man nur wenig und gibt es an die anderen weiter. Sich selbst am meisten zu nehmen und die anderen hungrig zurückzulassen, würde schnell zu Unfrieden führen.
Von Jean Liedloff gibt es dieses wunderbare Buch, worin sie aber schreibt, die Kinder würden sich nur durch ihr Mitein­anderleben und -spielen erziehen – und das glauben die Leute dann. Aber die Kinder wachsen dort nicht völlig frei und gesetzlos auf. Wenn man länger bei diesen Menschen lebt, sieht man, dass die Kinder nicht einfach nur spielen, sondern dass bestimmte ältere Kinder, die schon mehr mit der Stammeskultur vertraut sind, den Ton vorgeben. Bei einigen Spielen geht es darum, wichtige Fähigkeiten zu schulen, und auch, sich dar­in mit den anderen zu messen. Solch ein Spiel war etwa, mit Hilfe von Fußschlingen auf Palmen zu klettern. Ich weiß noch, wie schwer mir das gefallen ist, ich hatte unheimliche Höhenangst. Aber die Angst zu überwinden, gehört eben auch dazu.
Ohne Regeln und Verhaltenskodex ging es nicht. Deshalb halte ich auch von extrem freier Erziehung nicht viel. Es ist okay, wenn Kinder alles ausprobieren dürfen, aber eben nur im Maß dessen, was für das Gesamte verträglich ist. Es tut dem Kind nicht gut, wenn es nur dann isst, wenn es Hunger fühlt, weil es dann keine gemeinsamen Tageszeiten und Rituale mehr mit den Eltern hat. Bei den Aparai gab es da ganz klare Regeln: wann gegessen wurde, in welcher Runde und wie viel. So entstanden gemeinsame Mahlzeiten in schöner Atmosphäre, wo man sich gegenseitig etwas erzählte. Das Essen wurde zelebriert, und jeder gute Bissen wurde gewürdigt. Man wusste, da steckt viel Arbeit dahinter, also wurde noch ein kleiner Spruch vor dem Essen gemacht und danach noch einer. Man bedankte sich bei der Köchin, beim Jäger und bei den Geistern der Tiere, die ihr Leben dafür lassen mussten, dass wir satt wurden. Was die sogenannten Tischsitten und Manieren betraf: Da wächst du als Kind hinein, indem du andere beobachtest und sie imitierst. Die Leute sind wirklich sehr offen, aber wenn ich mich nicht adäquat verhalten hätte, hätte ich dort auch keine so schöne Kindheit gehabt. Dieser Rahmen von Regeln und unausgesprochenen Gesetzen gibt dir Orien­tierung. Aber es war nicht dogmatisch, Ausnahmen konnte es immer mal geben.

Deine Tochter wächst heute in unserer Kultur auf. Wie ist das für dich – vor dem Hintergrund deiner eigenen Kindheit?

Ich erlebe es mit einem lachenden und einem weinenden Auge, denn ich kann mir meine Kindheit nicht nur schönreden. Ich hatte und habe noch immer gesundheitliche Folgen, etwa Hautprobleme wegen der intensiven Sonne dort, und es gibt einige Krankheiten, die für Europäer sehr gefährlich sind. Bei mir ist es gutgegangen, aber ich kenne Kinder von Entwicklungshelfern, die Schaden genommen haben.
Heute ist es hier wie dort schwieriger, noch Kind sein zu dürfen.
Aber kleine Kinder sind sozial und lieben die Natur. Sie reagieren empathisch, wenn sie jemanden weinen sehen, und Spinnen finden sie spontan süß. Aber später werden sie in ihrer Forscher- und Entdeckernatur korrumpiert. Dann finden sie Spinnen und Käfer eklig, und wer die toll­sten Markenklamotten trägt, ist der Held.
Der Vorteil meiner Kindheit war vielleicht, dass wir alle nichts hatten: fast keine Spielsachen, keine Kleidung, keinen Bausparvertrag, keine Kindergärten oder Schulpflicht. Wenn wir Spielzeug haben wollten, haben wir es größtenteils selbst gemacht – und so hatten wir eigentlich doch alles. Ich glaube, ich konnte einiges aus meiner Kindheit an meine Tochter weitergeben, aber leider nicht die Erfahrung der wunderschönen Natur und der völligen Freiheit. Das macht mich sehr traurig.

Gibt es noch etwas, das dir auf dem Herzen liegt und das du dir wünschst?

Ich wünsche mir, dass die Menschen dort einfach so weiterleben dürfen, wie sie es seit Jahrtausenden gemacht haben. In ihrem angestammten Lebensraum, dem man nicht die letzten Ressourcen des Planeten abquetscht und dadurch uns selbst die Luft zum Atmen nimmt. Es wird immer von Naturschutzgebieten, Indianerschutzgebieten geredet. Es ist, als ob wir einen Zoo aufmachen, und drumherum darf weiter zerstört werden. Aber es ist ihr angestammtes Land, das ihnen auch formaljuristisch gehören sollte. Es ist auch eine völkerrechtliche Entscheidung, ob wir zulassen, dass die Ureinwohner geopfert werden, damit dem Land, auf dem sie leben, auch die letzten Rohstoffe abgetrotzt werden können. Das Pro­blem ist, dass die Indigenen keine mächtige Lobby haben, die sie vertritt.
Mein Wunsch ist, dass die Konsumenten hierzulande genauer hinschauen. Sei es beim Kauf von Aluminium, das aus Bauxit gewonnen wird, oder Edelhölzer, Kaffee und Kakao. Oder Palmöl, was das nächste große Verbrechen ist. Oder das in den Portfolios der Banken steckende Gold, das besondere Verheerungen anrichtet, weil die Amazonas­flüsse durch die Goldgewinnung mit Quecksilber verseucht werden. Ich glaube, dass man durch gezielten und bewussten Konsum sehr viel mehr Weichen stellen könnte als durch alle politischen Vorhaben weltweit.

Vielen Dank für das aufschlussreiche und bereichernde Gespräch. •


Catherina Rust (43) stammt aus Bonn und wuchs bis zum Schuleintritt bei den Aparai-Wajana-Indianern im brasilianischen Urwald auf. Nach der Trennung ihrer Eltern lebte sie bis zum 18. Lebensjahr in den USA. In Deutschland studierte sie Politikwissenschaften, Ethnologie und Psychologie und volontierte anschließend beim Rundfunk. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit engagiert sie sich für eine bewusstere Lebensweise und den Schutz von indigenen Völkern. Mit ihrer Familie wohnt sie im Berliner Umland.

Bastian Barucker (31) wirkt als Wildnispäda­goge und Prozessbegleiter und interessiert sich für innere und äußere Natürlichkeit. Er ist Gründer einer Wildnisschule und Referent in diversen Bildungseinrichtungen. www.bastian-barucker.de

Lesetipps:
• Catherina Rust: Das Mädchen vom Amazonas – Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern. btb, 2012
• Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück – Gegen die ­Zer­störung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit. Beck, 2013

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