von Christina Stange, erschienen in Ausgabe #32/2015
Mit seiner kritischen Betrachtung »Gewaltlosigkeit – Eine Gegengeschichte« rückt der italienische Philosophieprofessor Domenico Losurdo die mehr oder weniger gewaltfreien Versuche von Konfliktlösungen auf politischer Ebene ins Blickfeld – und gleichzeitig eine verzerrte Geschichtsschreibung zurecht. Der Autor befasst sich in seiner Analyse sowohl mit der schwierigen Definition von Gewaltlosigkeit als auch mit der Komplexität und Ambivalenz von Ereignissen wie z. B. dem China-Tibet-Konflikt oder dem angeblichen Gelingen der indischen Unabhängigkeit durch rein gewaltlosen Widerstand. Er untersucht zudem die zwiespältigen Rollen von als Pazifisten gerühmten Friedens- und Freiheitsführern wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder dem Dalai Lama. Anhand von Zitaten und weniger bekannten Schriften der offiziell für Gewaltlosigkeit eintretenden Weltveränderer bietet Losurdo eine Neubewertung von historischen Verklärungen und einseitigen Darstellungen an. Sehr überzeugend und sachlich differenziert beleuchtet diese Ausarbeitung das Thema Gewaltlosigkeit, das sich manche Organisation und mancher Staat offiziell auf die Fahnen geschrieben haben. Lorsurdo stellt allerdings fest, dass es tatsächlich kaum gelungene Erfahrungen in der Geschichte gibt, da viele Ereignisse, die in der Öffentlichkeit als gewaltfrei dargestellt und wahrgenommen werden, aus einer anderen Perspektive als entweder gescheitert, nicht mit Substanz gefüllt oder als reine PR-Maßnahme gesehen werden können. Der Begriff eines »realistischen Pazifismus« eignet sich je nach Auslegung wunderbar dazu, das Ziel der Gewaltfreiheit beliebig zu dehnen, auf bestimmte Situationen, Gruppen oder Methoden anzupassen und sogar bis hin zur Waffengewalt zu verwässern. So stellt Losurdo vermeintliche Gewissheiten in Frage, er zeigt Hintergründe und neue Perspektiven, ohne dabei polemisch zu argumentieren. Mir hat die Lektüre dennoch Tränen der Wut in die Augen getrieben und diese in mancher Hinsicht geöffnet: Auch Gandhi war weit entfernt davon, ein friedvoller Heiliger zu sein – ganz zu schweigen von den »friedliebenden« Tibetern, die von der CIA zu Guerillakämpfern gegen China ausgebildet wurden. Was ist gewaltfrei daran, Kinder bewusst in die Gewalt zu führen und zu opfern, um empörende Bilder zu provozieren, die der Welt moralische Überlegenheit beweisen sollen? Wo überall wird formale Gewaltlosigkeit als manipulative Waffe eingesetzt, um Aufsehen zu erregen, den Gegner in ein schlechtes Licht zu setzen – und letzlich auf diese Weise politische Ziele zu ereichen? Das Buch bietet zahlreiche Antworten, auch auf Fragen, die ich vorher noch nie gestellt hatte – und dient leider auch zur Hinterfragung persönlicher Utopievorstellungen von einer gewaltlosen Menschheit auf Erden.
Gewaltlosigkeit Eine Gegengeschichte. Domenico Losurdo Argument Verlag 2015, 270 Seiten ISBN 978-386754105 33,00 Euro