Oya-Praxisexperiment: Wie ein junger Tischlerlehrling sich im alten Stellmacherberuf versucht und im Auftrag der Redaktion eine Holzschubkarre baut.
von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #33/2015
Im alten China gab es einst ein mehrere Millionen Kilometer umfassendes Netz gut ausgebauter Pfade für den Schubkarrenverkehr; breitere Straßen waren nicht nötig. Man kannte damals neben den Lastenkarren auch solche für den Personentransport. Diese Information aus dem Buch »Fortschrittsgeschichten« von Marcel Hänggi (siehe Seite 90) inspirierte die Oya-Redaktion zu einer Idee: Wäre es nicht spannend, wenn ein noch zu findender Mensch versuchte, eine Holzschubkarre nach traditionell-europäischem Vorbild zu bauen? Schubkarren sind unverzichtbares Hilfsmittel bei zahlreichen Tätigkeiten, doch leider entstammen die meisten heute erhältlichen Baumarktmodelle mutmaßlich fernöstlicher Produktion. Selbst die Exemplare »Made in Germany« beruhen auf kaum nachhaltig zu nennenden Grundstoffen und Herstellungsweisen. Schmälert der Gebrauch solchen Werkzeugs nicht den ideellen Wert von zum Beispiel selbstangebautem Gemüse? Lässt sich Subsistenz nicht auch etwas weiter denken? Als der Plan, eine regionale Schubkarre zu bauen, drei Wochen vor dem Drucktermin Gestalt annahm, ahnten wir nicht, wie komplex sich das Unterfangen tatsächlich gestalten würde. Immerhin meldete sich, nachdem der Ruf in die Welt gesetzt war, Wibke Seifarth von den offenen Werkstätten im vorpommerschen Gatschow mit einem entscheidenden Hinweis: Axel, ein vielseitig interessierter, 21-jähriger Tischlerlehrling aus ihrem Nachbardorf, habe bereits einmal bei einem alten Stellmachermeister – im süddeutschen Raum spricht man vom Wagnerhandwerk – angeklopft. Herr Schwertfeger hatte dem Jungspund damals beschieden, er möge bitteschön nach erfolgreich beendeter Ausbildung wiederkommen, wenn er etwas von ihm lernen wolle. Den quasi mit den Füßen scharrenden Axel von dem Karren-Projekt zu überzeugen, war freilich nicht schwer. So suchte ich den bald 80-jährigen Meister auf, um ihm unsere Sache zu unterbreiten und ihn milde zu stimmen. Wir würden seine Expertise benötigen! Die Schwertfegers leben in einem Dorf bei Demmin in dem Haus mit der umwerfend schönen Werkstatt, in der bereits der Großvater das heute praktisch ausgestorbene Handwerk ausgeübt hatte. All die altertümlichen Werkzeuge im Raum, die Patina an der Wand, der Dielenboden – ein Museum! Der betagte Meister, der den größten Teil seines Berufslebens als Bautischler gearbeitet hat, zeigte mir das Berichtsheft aus seiner Lehrzeit in den frühen 1950er Jahren: akkurate Bleistift-Konstruktionszeichnungen etwa von Holzschlitten, Sensenbäumen, Werkzeugstielen oder ganzen Leiterwagen (»Ackerwagen«), daneben jeweils Maße und Beschreibungen in Tinten-Schreibschrift – ein Schatz! Eine Heftseite zeigt auch die Geometrie eines »Karrenrads« mit Nabe, acht Speichen und vier bogenförmigen Felgenstücken. Tatsächlich willigte Herr Schwertfeger ein, Axel beim Bau des Schubkarrengestells zu beraten – selbst wolle er so ein Rad nicht mehr fertigen. Das Nabendrechseln und Zapflochbohren und -stemmen sei doch allzu mühsam! Außerdem brauche man selbstverständlich einen Schmied, der den Metallreifen an das Rad anpasse, und vier Ringe um die Nabe.
Im Rad verschmelzen zwei Gewerke Diesen Punkt hatten wir noch nicht bedacht: Früher gab es in jedem größeren Dorf einen Stellmacher und einen Schmied, und beide Gewerke ergänzten sich notwendigerweise in vielen Dingen. Im Jahr 2015 noch einen Wagner aufzutun, war eine Sache bzw. reine Glückssache. Aber fänden sich heute in unserer Gegend noch Schmiede, die es verstehen, ein Holzrad »aufzuziehen«? Nun, wir würden einstweilen mit dem Karrengestell anfangen. Herr Schwertfeger gab mir eine uralte Schablone für die beiden fast zwei Meter langen Holme für eine Heu- oder Dungkarre mit. Dieses Modell hat keinen Kasten, sondern nur auf Lücke gesetzte Querstreben zwischen den Holmen; auf diese wird das Transportgut gelegt. Das Radlager sitzt am Ende der Holme; die Transportfläche wird mittels zweier von diesen abgehenden Schenkeln, zwischen die weitere Querstreben eingesetzt sind, über das Rad verlängert. Die nächste Herausforderung würde darin bestehen, gemäß der alten Schablone eine fünf Zentimeter starke Bohle aus Esche oder Eiche aufzutreiben, bei der die Maserung die leichte Krümmung der auch »Bäume« genannten Holme mitmacht. Andernfalls, so Meister Schwertfeger, würde das Holz bei Belastung brechen.
Verkettung von Glücksfällen Wollte ich das Projekt anfangs eigentlich nur anschubsen, so war spätestens an diesem Punkt klar: Wenn rechtzeitig etwas Vorzeigbares entstehen sollte, würde ich mehrere Fäden in der Hand halten und organisieren müssen: Axel brauchte eine Werkstatt mit dem richtigen Werkzeug – die existiert keine 50 Meter neben dem Oya-Büro in den kaum genutzten Arbeitsräumen eines Holzboot-Skippers. Außerdem zeigte sich ein befreundeter Sägewerkbesitzer zuversichtlich, das richtige Stück abgelagerten Eschenholzes für uns finden zu können. Damit war die Glückssträhne aber noch nicht zu Ende. Während eines Telefonats mit Stellmachermeister Schwertfeger erinnerte der sich plötzlich, dass ein regionaler Tischlerbetrieb vor etwa zehn Jahren versucht hatte, Holzschubkarren nach traditionellem Vorbild in Serie zu bauen und zu vermarkten. Zufällig hatte Axel in ebendieser Werkstatt schon einmal ein Praktikum gemacht, und zufällig hatte der freundliche Tischlermeister Nemitz nicht nur umfangreiche Konstruktionszeichnungen von alten Heu- und Maurerkarren (letztere mit Kasten) aufbewahrt – Axel und ich durften bei unserer Visite sogar eines der Serienmodelle (rundum aus Robinienholz, Verkaufspreis damals etwa 800 Euro) als Anschauungsobjekt ausleihen. Das Allerbeste: Für unser Projekt bekamen wir eine übriggebliebene Karrenrad-Nabe geschenkt! Mit dieser fetten Beute fuhren wir sodann zu Herrn Schwertfeger, wo der erfahrene mit dem angehenden Holzexperten über die schwierigen Details der mitgebrachten Heukarre fachsimpelte. Mit letzten Tipps versorgt, ging es darauf zur Holzauswahl ins kleine Sägewerk beim Allmende-Waldhaus bei Anklam (siehe Oya-Ausgabe 9) und schließlich – ausgestattet mit dem richtigen, frisch zugesägten Rohmaterial – ins Oya-Dorf Klein Jasedow, wo Axel sich mit der Werkstatt vertraut machte. Ist so viel Zufall normal? Redaktionskollegin Lara Mallien vermutet, dass Glückssträhnen in handwerklichen Dingen durchaus typisch sein könnten: »Du suchst eine Lösung, bekommst Ratschläge oder Material geschenkt, findest deinen Weg – und hast am Schluss ein beglückendes Werkstück in der Hand. Dass wir das heute außergewöhnlich finden, zeigt vielleicht nur, wie fremdversorgungskolonisiert unser Bewusstsein ist.«
Schmied fängt Feuer Axel war mit seiner Begeisterung und seinen Talenten genau der Richtige für unser Experiment. Der nächste Glücksfall in der Geschichte heißt Wilhelm Netzband, ein Schmiedemeister in seinen Siebzigern. Wilhelm wurde uns von einem ehemaligen Lehrling von ihm vermittelt, der sich für die Gongmacherei von Oya-Herausgeber Johannes Heimrath interessiert und zufällig mithörte, wie wir zwischen Oya-Büro und Gemüseacker das Problem des fehlenden Schmieds erörterten … Als der weißhaarige Schmied zwei Tage später Axels temporäre Arbeitsstätte aufsuchte, hatte dieser entschieden, sich zunächst ganz auf den Bau des Rads zu konzentrieren. Mit der Bandsäge hatte er die Felgenabschnitte ausgesägt und brachte nun – auf dem Schnitzpferd sitzend – die Speichen mit einem Zugmesser in Form. Wilhelm erklärte, er müsse das fertige Rad in Händen halten und exakt ausmessen, um den Reifen planen zu können; dafür sei viel Vorbereitung nötig, aber er freue sich, uns demnächst in seiner Schmiede zu helfen.
Eine (noch nicht ganz) runde Sache Es dauerte etwas mehr als zwei Tage, dann hatte Axel alle Einzelteile des Rads fertig. Die Speichen passten in die vorgesehenen rechteckigen Zapflöcher der Nabe sowie in die runden Löcher der Felgen – doch an diesem Punkt bekam ich Zweifel aufgrund einer theoretischen Unmöglichkeit, die ich mit Worten nur mangelhaft erklären kann: Jeweils zwei V-förmig auf der Nabe sitzende Speichen wollen mit ihren oben sitzenden Zapfen zugleich in die beiden Zapflöcher eines Felgenabschnitts gesteckt werden – aber wenn man die Felge von oben auf die Speichen drückt, verändert sich doch der Winkel … Als Tischlerlehrling wusste Axel jedoch, dass Holzverbindungen immer ein gewisses »Spiel« haben; das Material lässt sich in der Regel ein paar Millimeter biegen und drücken – und er behielt recht! Mit etwas Nachdruck ergaben die vorbereiteten Einzelteile ein wunderschönes Holzrad, bei dem die Felgenabschnitte an ihren Stößen mit kleinen Streifen aus Blech verbunden werden. (Erst nach der Eisenbereifung können diese nicht mehr herausfallen.) Axel nahm den Bausatz noch ein paarmal auseinander und setzte ihn wieder zusammen. Als er sich sicher fühlte, nahm er die Holzstücke, einige seiner Werkzeuge und das Schnitzpferd und baute sich in der Mitte des just an diesem Tag im Dorf stattfindenden alljährlichen »Holundermarkts« zwischen Ständen mit Kunsthandwerk, Kräutern und Klanginstrumenten auf, um vor interessiertem Publikum die Konstruktion des Rads zu demonstrieren. Welch würdiger Schlusspunkt eines spannenden, glücklichen Projektabschnitts! Freilich markiert er nicht das Ende des Experiments: Axel freut sich auf die kommenden Arbeitsschritte; er will sich demnächst an den Weiterbau der Schubkarre machen. »Die Erfahrungen der letzten Tage haben meine Lust weiter gesteigert, Holz zu etwas Praktischem zu verarbeiten«, resümierte er bei unserem Abschied. Mehr noch als beim Tischlern scheine ihm bei der Stellmacherei die Wahl des richtigen Holzes von Bedeutung zu sein: die Baumart und der Faserverlauf. »Das ist faszinierend! Mich würde jetzt auch reizen, einmal in die Bootsbauerei hineinzuschnuppern – oder irgendwann einmal ein richtiges Ackerwagenrad zu machen.« Der Bau von letzterem erfordert allerdings einiges Können mehr: Weil bei großen Wagen die Räder mit »Sturz« angebracht werden – das heißt, sie neigen sich gegenüber der Senkrechten etwas nach außen –, stecken die Speichen hier aus Gründen der Statik nicht rechtwinklig in Felge und Nabe, sondern schräg. Zunächst werden wir also unser Karrenrad in Wilhelm Netzbands Schmiede bringen und dort Gelegenheit haben, das Aufziehen des Metallreifens live (und nicht nur auf YouTube) mitzuverfolgen. Wilhelm hat übrigens den Klein Jasedowern als Grundstein für den Aufbau einer kleinen Dorfschmiede eine Feldesse geschenkt. Mit den alten Handwerksmeistern im Hintergrund und zunehmend besser ausgestatteten Werkstätten vor Ort werden wir hoffentlich demnächst alles bauen können, was rund um Haus, Garten und Acker nötig ist. Wie sich dieser Selbstversorgungsgrad anfühlen wird – davon hat das Schubkarren-Experiment bereits unerwartet einen Duft ins Dorf gebracht. Zu gegebener Zeit werden wir berichten, wie es mit der Schubkarre weitergegangen ist. •