Das »Erdzeitalter des Menschen« fordert uns zu einer neuen Ethik heraus.von Andreas Weber, Hildegard Kurt, erschienen in Ausgabe #33/2015
Eine neue Idee vom Menschen breitet sich aus. In ihr wird der Mensch nicht mehr als der Natur gegenüberstehend gedacht, sondern hat diese ganz durchdrungen. Spuren von Pestiziden, nuklearer Fallout, Stickstoffdünger finden sich heute in den Kristallen der Arktis und in den Böden des Amazonas. Spätestens der Klimawandel zeigt: Der Mensch ist unentrinnbar mit der Erde verflochten. Das ist die Botschaft im »Anthropozän«, der Erdepoche des Menschen. »Anthropozän«, ein junger Begriff des Chemikers Paul J. Crutzen, schreibt die geologische Bezeichnung der Erdzeitalter fort: Das Holozän sei zu Ende, inzwischen dominiere der Mensch den Erdhaushalt in einem Maß, das die bisherige Vorstellung von Natur außer Kraft setzt. Seit den Ursprüngen der westlichen Zivilisation in der Antike und ihren ersten massiven Eingriffen in die Landschaft, so die das Anthropozän begründende Beobachtung, hat sich die menschliche Kultur zu einer entscheidenden geologischen Kraft entwickelt. Die seit der Antike, spätestens aber seit der Aufklärung vorgenommene Trennung zwischen Natur und Geist, der sie ordnet, ist im Anthropozän offiziell als beendet erklärt worden. In der neuen geologischen Epoche, in der das Kulturelle alles Gewordene überformt, stellen sich das von uns Geschaffene und dessen Kontrolle vielen Menschen als einzige Wirklichkeit dar. Der Dualismus, der 250 Jahre lang unser Denken und Handeln festlegte, ist offiziell vorbei. Das sollten wir als Erlösung feiern. Denn die Aufteilung in seelenlose Ressourcen und handelnde Menschen hat die derzeitige Katastrophe, die wir in der Biosphäre des Planeten verursachen, erst möglich gemacht. Ironischerweise haben Technikentwicklung und Wissenschaft den Dualismus darum überwunden, weil sie so bedingungslos auf ihm beharrten. Lange glaubte unsere Zivilisation, die Erde sei ein Objekt, mit dem sie nach Belieben verfahren könne. Ungewollt hat sie so den Beweis des Gegenteils erbracht. Die Erlösung jedoch bleibt aus. Denn die Art, wie die vorgebliche Versöhnung zwischen Mensch und Natur stattfindet – nämlich als universeller Sieg der Kultur –, macht erneut die Chance zunichte, Leben zu verstehen und zu schützen. Im Horizont des Anthropozäns hält man am Menschenbild der Industriemoderne fest, am Homo faber, der technische Mittel zur Naturbewältigung schafft. Auch die »Grüne Ökonomie« schreibt dies fort. Auch hier wird der Haushalt der Wesen als etwas Human-Kulturelles verstanden, nämlich als eine Ökonomie, die nach Effizienz und Knappheit organisiert ist. Diese Unterstellung kolonialisiert die individuelle Existenzerfahrung lebender Subjekte. Sie macht Wesen zu Mitteln und zerstört die Praxis vieler Gemeinschaften, die Umgebung, mit der sie verbunden sind, nicht als auszubeutende Ressource, sondern als Identität stiftende Lebensquelle zu betrachten. Wer Natur und Mensch allein darum schon versöhnt denkt, weil Technik die Erde dominiert und weil wir erkannt haben, dass kulturelle Imagination unser Bild des Lebens immer schon vorprägt, missachtet, dass jeder materielle Austausch unweigerlich auch die Erfahrungsmöglichkeiten dieser Welt verändert. Er übersieht, dass es nichts Lebendes gibt, das keine Innenseite hat.
Hin zur Lebendigkeit Viele Probleme unserer Kultur haben einen gemeinsamen Ursprung: Wir betrachten die Welt als etwas Totes. Der Mainstream in Wissenschaft, Ökonomie, Politik und Bildung folgt der Auffassung, die Welt sei ein kybernetischer Zusammenhang unbelebter Bausteine – unbegrenzt verbesserbar, indem wir diesen Zusammenhang analysieren, auf seine Elemente reduzieren und technische, ökonomische oder ökologische Maßnahmen ergreifen. Dabei begreifen immer mehr Forscher und Philosophinnen die Wirklichkeit zunehmend als Geflecht einander verwandelnder, bedeutungshafter, subjektiv erfahrbarer Verbindungen. Die Welt ist kein Mechanismus, der auf Effizienz beruht, sondern ein Prozess schöpferischer Beziehungen und Durchdringungen auf dem Weg zu Erfahrung und Ausdruck. Diese Auffassung ist keine Utopie. Sie beginnt sich in der gegenwärtigen Revolution des biologischen Denkens durchzusetzen, deren Tragweite vergleichbar mit den in der Physik durch Relativitätstheorie und Quantenmechanik ausgelösten Revolutionen ist. Mensch und Natur sind eins, weil schöpferische Imagination und fühlender Ausdruck Naturkräfte sind. Wenn wir die Welt als lebendig erfahren, wird es unmöglich, unsere Beziehungen zueinander und zur Materie weiterhin als Ausbeutung von Ressourcen zu gestalten. Das Anthropozän lässt sich nur überstehen, wenn wir begreifen, dass nicht nur der Mensch die Natur durchdringt, sondern dass etwas uns ausmacht, das nicht anthropogen ist: unsere sich selbst organisierende, in Begriffen unverstehbare, in die Wirklichkeit von Ökosystemen eingewobene Lebendigkeit. Die wichtigste Aufgabe im Anthropozän besteht darin, Lebendigkeit neu zu denken und neu zu erzeugen.
Was der Mensch sein kann Im Blick auf eine Zivilisation, die wahrhaft ökologisch und – davon untrennbar! – auch wahrhaft human wäre, gebührt dem Kultivieren unserer »Humana« – unserer spezifisch menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten – der Status einer globalen Bildungsaufgabe. Denn was nutzt alle wissenschaftlich-technische Potenz, wenn das Entscheidende verschüttet ist: der Zugang zu jener Mitte im Menschen, worin alles Lebendige und Schöpferische zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen sucht? Man kann das die Seele nennen, das Herz, mit Erich Fromm die »geistige Natur« des Menschen oder mit Gary Snyder das irreduzible »Wilde«, das allem Lebendigen zugrundeliegt. Das Anthropozän, wie es bislang überwiegend gedacht wird, ist zutiefst anthropozentrisch. Der Kosmos im Anthropozän kreist explizit um den Menschen. Auch wenn seine Verfechter oft das Gegenteil anstreben, soll das Menschliche, die Kultur, künftig das Zentrum aller Wirklichkeit bilden. Dieser Anthropozentrismus – nicht zu vergessen: abendländischen Ursprungs – ist ein schwacher, aber gleichwohl tödlicher Ersatz dafür, dass der industrialisierte Mensch, indem er das Lebendige als stets präsente zentrale Dimension allen Seins vergaß, mit dieser verschütteten Mitte sich selbst verloren hat. Ohne eine gründliche Revision des Menschenbilds – und damit des Lebensbilds – der Industriemoderne wird der Anthropozentrismus im Anthropozän weitere verheerende Steigerungen erfahren. Im Menschen manifestiert sich Lebendigkeit auch als Bewusstheit. Die Freiheit, die allem Lebendigen auferlegt ist, wird ihm zur Aufgabe. Daraus resultiert unsere Verantwortung für das Leben. Das jetzige Stadium der gemeinsamen Geschichte von Erde und Mensch fordert unaufschiebbar zum Herausbilden und Kultivieren einer neuen Praxis des Handelns-in-Verbundenheit auf, worin Freiheit und Verantwortung in ein neues Gleichgewicht gebracht werden können. Erst eine Gesellschaft, die zu üben begönne, sich kraft aus Freiheit gewonnener Einsicht neu ins lebendige Sein zu integrieren, würde wirklich versuchen, die Aufklärung zu vollenden – und das »Enlightenment« in ein »Enlivenment« überführen. Eine ökologisch und sozial gerechte Zukunft wird es im Anthropozän nur von einem emphatischen Selbstverständnis ausgehend geben können. »Emphatisch« bedeutet hier, an die eigene Entwicklungsfähigkeit zu glauben: daran, dass es möglich ist, Fähigkeiten, die überwiegend im potenziellen Bereich liegen – Empathie, Sinn für Gerechtigkeit, Sinn für das Maß, Achtsamkeit, Vorstellungskraft, Beziehungskraft und Friedfähigkeit – verstärkt herauszubilden. All das nimmt mit Gebrauch nicht ab, sondern zu. Doch stehen diese Fähigkeiten nur in dem Maß zur Verfügung, wie sie wahrgenommen und herausgebildet werden. Auch vermehren sie sich allein dadurch, dass man sie teilt.
Eine Politik des Lebens Nachhaltigkeit können wir nur aus dieser Perspektive neu denken. Heute freilich ist der Begriff vom technischen Verständnis einer Ressourceneffizienz aufgezehrt. Aber in einem im Horizont des Anthropozäns möglichen Verständnis füllt er sich mit jenem Ringen um eine Verbindung von Freiheit und Verantwortung, das nicht nur ein technokratisches Problem darstellt, sondern sich als Ethos einer existenziellen Haltung ergibt. Kulturen der Lebendigkeit zur Entfaltung zu verhelfen, ist ein epochales politisches Projekt und eine zivilisatorische Vision jenseits des Verwaltens von Krisen und des tagespolitischen Navigierens auf Sicht mit seiner Unfähigkeit, große Herausforderungen – wie den Klimawandel – zu integrieren. Nennen wir diese Vision eine Politik des Lebens. Diese orientiert sich an der Idee einer Zivilisation, deren Prinzipien, Institutionen und Wirtschaftspraktiken dem Leitsatz folgen, dass Lebendigkeit sei. Dieses Ethos ist nicht kurzfristig erreichbar. Es erfordert einen Einsatz vergleichbar dem für die Durchsetzung der Menschenrechte. Diesmal aber geht es nicht nur um die Erlösung des denkenden Subjekts von der Unmündigkeit, sondern um die Befreiung des verkörperten Subjekts von der Entmachtung durch Maschinendenken. Es ist das Ziel einer Politik des Lebens, dass ausnahmslos allen Wesen das Recht zustehen soll, lebendig zu sein, und das heißt, ganz sie selbst und zugleich ganz in Verbindung sein zu dürfen. Eine solche Aufgabe kann nur über ein für viele Generationen weitergetragenes Engagement in tiefer Daseinssolidarität gelöst werden. Die politische Agenda der Aufklärung versuchte die Entmündigung des als rational gedachten Anthropos zu beenden. Eine Politik des Lebens erweitert diese Befreiung hin zur Freiheit des zu mitfühlender Verantwortung fähigen, schöpferischen Anthropos von der Unterwerfung unter eine Ideologie des Toten. Eine Politik des Lebens wahrt nicht nur die Werte der Aufklärung – die Würde des Individuums und die Prinzipien von Gerechtigkeit und Gleichheit –, sondern verbindet sie mit ihren Wurzeln, die in der Mitgeschöpflichkeit alles Lebendigen ruhen. Eine Politik des Lebens sucht Alternativen zu Wachstumsdogma und Konsumsucht. Sie setzt nicht auf technische Kontrolle, sondern macht Lebendigkeit erfahrbar. Sie ermöglicht materielle Produktivität durch ökologische Stabilität, und diese durch sinnhaftes Handeln. Eine Politik des Lebens macht, was uns implizit am Leben hält, explizit. Sie ist plural, dialogisch, vermittelnd. Sie übernimmt Verantwortung für die Wirklichkeit und unterstützt uns auf dem Weg zu uns selbst. Erst in dieser Solidarität mit allem, was lebendig ist, wird das Anthropozän zu einer Menschenzeit, die den Namen verdient.•
Aus: »Lebendigkeit sei! Für eine Politik des Lebens. Ein Manifest für das Anthropozän«, thinkOya, 2015. Die Schrift ist Auftakt von »Erkundungsreisen in Kulturen der Lebendigkeit«: www.cultures-of-enlivenment.org
Andreas Weber (47) studierte Biologie und Philosophie und promovierte bei Hartmut Böhme und Francisco Varela über Natur als Bedeutung. Als freier Publizist forscht er an einer Poetik des Lebendigen und veröffentlicht regelmäßig Beiträge in Magazinen und Zeitschriften. Für die in GEO erschienene Reportage »Lasst sie raus!« wurde er 2010 mit dem Reporterpreis ausgezeichnet. 2014 veröffentlichte er »Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie«, 2015 erscheint bei Matthes & Seitz »Enlivenment. Eine Kultur des Lebens«. Andreas Weber hat zwei Kinder und lebt in Berlin und Italien. www.autor-andreas-weber.de
Hildegard Kurt (56), promovierte Kulturwissenschaftlerin, ist als Autorin, Referentin und Initiatorin von Kunstprojekten tätig. In ihrer Arbeit verbindet sie forschend wie auch in Praxisformaten das erweiterte Verständnis von Kunst – »jeder Mensch ein Künstler« (Beuys) – mit dem Leitbild Lebendigkeit. Sie lebt in Berlin, wo sie 2004 das »und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit« mitbegründete. 2010 erschien »Wachsen! Über das Geistige in der Nachhaltigkeit«, 2014 bei thinkOya das mit Shelley Sacks verfasste Gemeinschaftswerk »Die rote Blume. Ästhetische Praxis in Zeiten des Wandels«. www.hildegard-kurt.de