von Veronika Bennholdt-Thomsen, erschienen in Ausgabe #33/2015
Alberto Acosta, Professor für Wirtschaftswissenschaften in Quito, ist in Deutschland durch seine Auftritte und Beiträge zur wachstumskritischen Debatte gut bekannt. Von 2007 bis 2008 war er Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors, durch die das entwicklungskritische, aus den indigenen Weltanschauungen stammende Konzept des »Buen Vivir« (Gutes Leben) in die Konstitution aufgenommen wurde. Von diesem Konzept, seinem Ursprung und seiner Bedeutung für die globalisierte Welt handelt das vorliegende Buch. Auch davon, wie Acosta als Minister für Energie und Bergbau versucht hat, ein Modell umzusetzen, durch das internationale Entwicklungsgelder dafür genutzt werden sollten, das Erdöl im amazonischen Yasuní-Naturpark nicht zu fördern. Damit taucht eine Frage auf, die das Buch für mich besonders spannend macht: Ist ein Modell, das in der Gedankenwelt der internationalen Entwicklungspolitik verankert ist, zu der seit neuerem die Beunruhigung wegen der globalen Klimaerwärmung gehört, kompatibel mit den Zielen einer Weltsicht, in der »Pacha Mama« die Hauptrolle spielt und in der die aktiv betriebene Zugehörigkeit der Menschen zu Mutter Erde das gute Leben ausmacht? Alberto Acosta formuliert die Frage nicht explizit, geht ihr aber durch das ganze Buch nach: »Ein mit Widersprüchen gepflasterter Weg«; »Die Wege der Hölle kennen, um sie zu meiden«; »Zivilisiert – wild: eine perverse Dichotomie«; »Überall lauert Verwirrung«; »Neues kann nicht mit alten Werkzeugen gebaut werden«. Die Frage, die hier zum Ausdruck kommt, treibt uns alle um: Ist ein gutes Leben im schlechten möglich? Nein, soll Adorno gesagt haben, der wohl noch an die Revolution als ein Auswechseln des Gesamtsystems glaubte. Alberto Acosta hingegen setzt auf den Prozess: darauf, dass wir von den verfemten, »unterentwickelten« »Primitiven« lernen, obwohl uns dafür nur jene Kategorien und Mittel zur Verfügung stehen, die zur Geringschätzung und Plünderung eben dieser indigenen Welt geführt haben. Mehr noch, die Menschen in den Anden und im Amazonas sind bei weitem nicht so indigen, wie wir uns das romantisch verbrämt wünschen würden. Sie leben und handeln in und nach denselben aktuellen, gleichzeitigen Gegebenheiten wie wir auch. Alle zusammen brauchen wir einen anderen Kompass, als es das »Gespenst der Entwicklung« ist, das seit Mitte des 20. Jahrhunderts umgeht. Wir brauchen nämlich das gute Leben – verstanden als Lebensphilosophie! Auch die westliche Philosophie und die alltägliche Praxis vieler Menschen im überkonsumierenden Norden enthalten Wissen zum guten Leben. Es wiederzuentdecken und zu mobilisieren, dazu können uns die kolonisierten Völker helfen, die, der Verachtung trotzend, ein nicht kolonisierendes Naturverständnis lebendig gehalten haben. Alberto Acosta erklärt die Bedeutung von Buen Vivir aus dem Kontext der südamerikanisch-indigenen Kosmovision; er gibt Beispiele für ähnliches Denken aus anderen Weltgegenden. Und er wägt ab, welche aktuellen Instrumente für eine Umsetzung tauglich sind: was von der Technologie, was von der politischen Verfasstheit als Staaten, was vom Rechtssystem? Alberto Acosta plädiert für den Aufbau plurinationaler Staaten und für die Verankerung der Natur als Rechtssubjekt im Gegensatz zu ihrem bisherigen Objektstatus. Dabei schöpft er aus den breitgefächerten Expertisen für die verfassungsgebende Versammlung. Wir Leserinnen und Leser profitieren von Alberto Acostas Fächer und Kontinente übergreifendem Wissen, das er stets anwendungsorientiert aufbereitet, nach dem Motto »Eine andere Welt ist möglich«. Meine Empfehlung an alle engagierten Menschen: Buch lesen, miteinander diskutieren! Ist ein gutes Leben im schlechten möglich?
Buen Vivir Vom Recht auf ein gutes Leben. Alberto Acosta oekom, 2015 224 Seiten ISBN 978-3865817051 16,95 Euro