Titelthema

Heiße Blasen

Zu Besuch in einer Glashütte.
von Alex Capistran, erschienen in Ausgabe #33/2015
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© Glashütte Lamberts Waldsassen

»Wir leben in einer anderen Welt«, sagt Hans Reiner Meindl, Geschäftsführer der Glashütte Lamberts an der bayerisch-böhmischen Grenze, und meint die Welt der Schönheit. »Wenn ich mich darauf einlasse, sprechen wir nicht nur über Glas, sondern auch über Farbe, über Licht, Wohlfühlen – das ist eine andere Dimension.« An einem Maimorgen darf ich in die Welt des Glases eintauchen und bin beständig hin- und hergerissen zwischen der Faszination für dieses zauberhafte Material und der Skepsis, welchen Stellenwert schönes Glas in einer Welt hat, die leider weniger aus Schönheit denn aus scheinbaren Sachzwängen gebaut ist.
Woher kommt unser Fensterglas? Bisher war mir das schleier­haft. Was für die traditionelle Herstellung von Fensterscheiben benötigt wird, klingt nicht nach Glas: Pfeife, Hobel, Bügelholz und Aufschneider – so erfahre ich es in Waldsassen. Dort befindet sich eine von weltweit nur noch drei Manufakturen, die Fenstergläser mundgeblasen fertigen. Den Betrieb gibt es seit 1934, sein Handwerk seit über 1000 Jahren. Die Glasmacherpfeife ist sogar noch älter: »Bei den römischen Legionen waren immer auch Fensterglasmacher dabei«, berichtet Robert Christ von Lamberts. Der Industriekaufmann ist seit 1989 im Betrieb, hat anfangs auch selbst in der Ofenhalle mitgearbeitet und ist mittlerweile Prokurist. »Die Technik, die wir zur Glasherstellung nutzen, ist im Prinzip die gleiche wie im Mittelalter«, betont er. »Damals gab es Hüttenherren, die in einer waldreichen Gegend nur einen Ofen hingestellt haben, worauf sich mehrere Glasmacher zusammenschlossen und Glas produzierten, das sie dann zum Teil als Gegenleistung an den Hüttenherren abzugeben hatten.« Diese Wanderhütten stellten »Waldglas« her. Den Namen trug es nicht nur, weil die Öfen einen ungeheuren Holzbedarf hatten, sondern weil das Glas durch den leicht verunreinigten Sand einen Grünstich bekam. Wo immer – wie eben auch in Waldsassen – große Wälder standen, konnten sich Hüttenherren ansiedeln. Wenn sie die Bäume vor lauter abgeholztem Wald nicht mehr sehen konnten, zogen sie weiter – nachhaltig war das nicht. Heute wird Gas als Brennstoff eingesetzt, und der Kühlprozess ist besser kontrollierbar als zu mittelalterlichen Zeiten. Wenn Glas heiß ist, steht es unter Spannung und muss langsam abgekühlt werden: »Damals konnten die Handwerker nicht messen, dass der Punkt, an dem sich das Glas entspannt, exakt 563 Grad beträgt«, erklärt Hans Reiner Meindl.
Industrielles Fensterglas, das insbesondere die gegenwärtigen Großbauten prägt, ist sogenanntes Floatglas, das in riesigen Scheiben auf Fließbändern hergestellt wird: Auf einer Schicht flüssigen Zinns verteilt sich der heiße Glasguss gleichmäßig und härtet dann aus. Floatglas ist daher homogen, präzise und billig. Verständlich, dass die Glasbläser nicht besonders gut darauf zu sprechen sind!

Das Runde muss ins Eckige – der Produktionsprozess
Robert Christ führt mich in die Ofenhalle. Überall dampft es, klingt Metall, rufen Arbeiter Kommandos – es ist kurz nach acht Uhr am Morgen. Die Halle ist riesig. Sie wird von einem formschönen Holzbogenskelett getragen, darunter tauchen zu beiden Seiten farbtrunkene Glasfenster die Produktionsstätte in ein melancholisches Licht. Wenn da nur nicht diese Musik wäre: Aus diversen Radios blubbert Pop von Shakira bis Natalie Imbruglia, was die Nostalgiestimmung ebenso bricht wie der Klang zerbrochenen Glases, der sich alle paar Sekunden daruntermischt. Das Brechen ist aber Bestandteil der Produktionskette, erfahre ich. Seinen Anfang nimmt der komplexe Ablauf im Gemengehaus. Dort lagern die Grundzutaten Sand, Soda und Kalk. Weil diese Stoffe praktisch überall vorkommen, konnte schon immer ohne große Schwierigkeiten Glas hergestellt werden. Heute sind die Zutaten chemisch reiner und garantieren so die klare, helle Farbe des Glases. Das Rohmaterial kommt jeweils am Nachmittag in Ofenbottiche, auch »Häfen« genannt, wo die Masse auf bis zu 1500 Grad erhitzt wird, um dann in der eigentlichen Produktionsschicht zwischen 3.30 Uhr und 9.30 Uhr zu Glastafeln verschiedenster Couleur geblasen zu werden.
Das geschieht nachts, weil sonst die Temperaturen für die Arbeiter unaushaltbar wären. Lamberts stellt neben dem etwa einen Quadratmeter großen, farblosen Restaurationsglas – auch Goetheglas genannt – Echtantikglas her, dessen farbige Glasplatten etwas dicker und kleiner sind. Im ersten Schritt des Prozesses dreht der sogenannte Anfänger das flüssige Glas an die Glasmacherpfeife. Die Pfeife ist ein langer, hohler Stab, dessen unteres Ende in den Bottich mit der Glasschmelze getunkt wird. Beim Herausziehen bleibt am Stabende ein großer Tropfen Glasmasse wie Honig kleben. Der Anfänger setzt das obere Ende der Pfeife an den Mund, bläst den Glastropfen zu einem kleinen Ballon auf und übergibt das Ganze dem Meister. Dieser bläst den Ballon mit viel Gefühl unter stetigem Drehen auf die gewünschte Größe. Mit furchteinflößendem Geräusch wird beim Restaurationsglas der Ballon in einer Grube hin und her geschwungen, wo er nochmals größer wird. Stichwort Grube: Robert Christ betont, dass alles, was in der Halle zu sehen ist, nur die Spitze des Eisbergs sei, da die Befeuerungstechnik im Untergrund verborgen liege. Für einen Eisberg ist es ziemlich heiß hier, denke ich, während der Meister den Ballon immer weiter aufbläst und ihn dabei in einem halboffenen Metallstück dreht. Dieses Drehen ist besonders wichtig, da hier das Glas seine unverwechselbare Struktur bekommt: Auf dem »Hobel« genannten Metallstück sitzen einige Noppen, die schließlich die endgültige Struktur des Glases hervorrufen. Lufteinschlüsse und Schlieren entstehen bei diesem Vorgang, erzählen die Geschichte der Glasherstellung, lassen eine »Zeichnung« erkennen, wie die Glasmacher sagen. Es wäre kein Problem, die Noppen abzudecken und somit Glas ohne oder fast ohne sogenannte Hobel – dünne Schlieren – zu schaffen, aber das kränkte den gehobenen Glasgeschmack. Womöglich sind schon einige vom Blick durch Restaurationsglas berauscht worden, denn die Schlieren bringen einen leichten Verzerrungseffekt mit sich. Sie bewirken auch die Brillanz mundgeblasenen Glases, denn sie brechen einfallendes Licht und sorgen für ein intensives Strahlen und Leuchten. »­Maschinengläser sind immer stumpf. Wenn man ein Maschinenglas gegen die Sonne hält, sieht man die Sonne – aber das war’s auch«, sagt Robert Christ.
Doch bis wir die Scheibe in den Händen halten, muss noch einiges passieren. Der nunmehr längliche Ballon wird erwärmt, in mehreren Schritten an beiden Seiten geöffnet und zu einem »Zylinder«, der nach einer kurzen Abkühlphase von der sogenannten Aufschneiderin einmal längs aufgeschnitten wird. Robert Christ grüßt und wird gegrüßt, als er mich zum Streckofen, der vorerst letzten Station, führt: »Servus!« – das Klima scheint in jeder Hinsicht warm zu sein. Glas kann man nur formen, wenn es eine bestimmte Temperatur hat. Im Streckofen wird unser Zylinder wieder beweglich. An der aufgeschnittenen Seite verliert er durch Hitze und sein Eigengewicht die Rundung – das Glas biegt sich wie ein Ofenkäse langsam auf und wird schließlich mit einer Art Holz­bügeleisen glattgestrichen: Fertig ist die Glasscheibe! Jetzt muss sie in einem etwa 20 Meter langen Kühlofen langsam über mehrere Stunden hin abgekühlt werden. Der »Kühlofen« und Christs glühender »Eisberg« versinnbildlichen mir, was für ein paradoxes Material Glas in seiner Härte und Beständigkeit, aber auch Zerbrechlichkeit, ist. Es muss enorme Spannung und einen langsamen Regenerationsprozess durchlaufen, um nicht zu zerbrechen.

Die Glasmenschen
Was bedeutet es für die Menschen, Glas auf diese Weise zu erschaffen? Die Arbeiter sind konzentriert bei der Sache. Jeder schwenkt und dreht seine lange Pfeife und übergibt sie rasch dem nächsten; es sieht aus wie ein Scharmützel zwischen Lanzenrittern – unmöglich, sie für ein paar Fragen zu unterbrechen. Ich komme aber mit Herrn Bauer ins Gespräch, einem der Hüttenmeister. Er ist seit 37 Jahren bei Lamberts und hat bis vor fünf Jahren selbst Glas geblasen; Opa, Onkel, Tante, Schwester, Neffe haben alle hier in der Glashütte gearbeitet. Heute ist es seine Aufgabe, den einzelnen Werkstätten mit Rat und Tat beiseitezustehen und darauf zu achten, dass die Farben für das mehrfarbige »Überfangglas« stimmen: »Das ist ein Knochenjob. Fitnessstudio und solche Sachen brauch’ mer nimmer. Aber wir hatten auch Leute mit riesigen Armen, die es nicht geschafft haben, weil ihre Technik nicht ausgereicht hat. Erstmal muss man schauen, dass an der Pfeife so ziemlich die gleiche Glasmenge ist, also ein Gefühl für das Gewicht haben. Dann muss man die Temperatur abschätzen können – ist das Glas zu warm, zu kalt? Schnell reagieren ist wichtig, man muss wissen, wie jeder Atemzug und jede Drehung auf das Glas einwirkt.« Glas scheint mir in jeder Hinsicht ein kommunikatives Material zu sein. Der Hüttenmeister erzählt von früher: »Man kann die Situation von vor 20, 30 Jahren nimmer vergleichen. Heute ist die Mentalität eine ganz andere. Früher war der Zusammenhalt stärker. Es waren drei Mann auf einer Werkstatt, und über Jahre hat sich des net geändert. Wir haben eine Kantine gehabt, da is mer dann nach Feier­abend zusammengesessen. Jetzt lebt jeder sein Leben.« Auch sei damals alles ein bisschen lockerer zugegangen, die Ansprüche der Kunden waren nicht so hoch, dabei war die Nachfrage weit größer: Heute gibt es zwei Schmelzöfen, damals haben sie in der Halle mit fünf Öfen gearbeitet. Wirtschaftlich ist Lamberts nach wie vor gut aufgestellt, nur die Kundschaft hat sich verändert: »Des is halt a Luxusartikel.«
 

Zerbrechliche Beständigkeit
Die farbigen Gläser werden für Möbel, Decken und Kunstobjekte verwendet, das farblose Fensterglas für detailgetreue Restaurierungen, aber höchstens bei bei einem Drittel der Gebäude, in die es eigentlich gehören würde. Es ist eben kostspielig: Mit Preisen ab 120 Euro pro Quadratmeter ist es zehnmal so teuer wie vergleichbares Floatglas.
Ich gehe wieder ins Büro, wo Hans Reiner Meindl meine nachhaltigkeitsschwangeren Hoffnungen enttäuscht: »Wenn ich in eine Kirche eine Scheibe Industrieglas einbaue, hängt die da 800 Jahre lang drin. Besser im Nutzwert ist unser Glas auch nicht – nur schöner.« Generell ist Glas wegen der reichlich vorhandenen Grundbestandteile ein umweltfreundliches Produkt. Darüber hinaus achtet Lamberts darauf, Materialien von regionalen Partnern zu beziehen und die Befeuerungstechnik so energieeffizient wie möglich zu halten. Eine vollautomatische Maschinenglasproduktion hat zwar einen deutlich höheren Energieverbrauch als die mittelalterliche Produktionsweise. Doch dafür drücken Lamberts Exporte – mehr als die Hälfte der Produktion geht nach Übersee – die Nachhaltig-keitsbilanz. Ich wage einen Zukunftsgedanken: Könnte es in einer post-industriellen Zeit vielleicht eine Vielzahl von Hütten geben, die den Menschen zu ihrem Glas verhelfen? Warum sollte nicht jede größere Region eine Glashütte unterhalten? Kleinteiligkeit scheint hier weniger opportun, oder wie Robert Christ es ausdrückt: »Vierzehnhundert Grad im Vorgarten sind eher nicht empfehlenswert.« Aber davon einmal abgesehen: Ab heute werde ich Fensterglas mit anderen Augen betrachten, nicht nur als Medium des Durchblicks, sondern als ein lebendiges Etwas, das wie alle Medien einen großen Effekt auf denjenigen hat, der mit ihnen umgeht. Die Dinge, die wir nutzen – die Medien unseres Lebens –, sind wahrscheinlich nicht nur, wie das Glas, lebensdienlicher, wenn sie durch ihre Vielfältigkeit leuchten. •


Alexander Capistran (24) interessiert sich für alternative Bildungsformen, Theater und gemeinschaftliches Zusammenleben. Mit dem Team von »gewagt.info« gibt er Workshops an Schulen, an der Cusanus Hochschule studiert er »Philosophie und Spiritualität«.

Die Glasmacher besuchen?
www.lamberts.de

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