Mutig, wissbegierig, widerständig – eine kleine Gemeinschaft junger Leute baut ihren Lebensort in der Lausitz mit einfachen, oftmals traditionellen Mitteln auf.von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #33/2015
Idyllisches Landleben sieht anders aus. Wer die alte Spinnerei am Ortsrand von Neustadt an der Spree mit dem Auto von Berlin aus ansteuert, fährt kurz vor dem Ziel noch vier Kilometer am Zaun eines riesigen Kohlekraftwerks entlang; der Name des DDR-Industrieorts schockiert mich nicht mehr, ich kenne ihn von Landkarten: Schwarze Pumpe; die niedersorbische Bezeichnung Carna Plumpa klingt unverfänglicher. Nach ein paar weiteren Kilometern durch Kiefernforst – dessen Monotonie nur durch den Schienenstrang für den Güterzug unterbrochen wird, der die Braunkohle aus dem Tagebau Nochten ins Vattenfall-Kraftwerk karrt – stehe ich schließlich vor der wildromantischen 3000-Quadratmeter-Oase, die Friederike, Ursula und Adrian »Eine Spinnerei – vom nachhaltigen Leben« nennen. Das Ausmaß allein der baulichen Herausforderung des Orts offenbart sich auf den ersten Blick. Diese Leute müssen wirklich ein bisschen verrückt sein, denke ich, als ich die steile Auffahrt hinab und in eine belebte Baustelle hinein stapfe. Den Anblick der ruinösen Holzwoll-Spinnfabrik kenne ich bereits aus einem Vortrag, den die beiden Frauen – die Kinder Helene und Anton auf dem Arm – bei der großen Degrowth-Konferenz im Vorjahr anboten. Mehr als 80 Leute hatten sich damals in einen Seminarraum der Leipziger Universität gedrückt, um von Friederike und Ursula zu erfahren, wie der Traum vom gemeinschaftlichen Landleben mit Selbstversorgung wahr werden kann. Ihre Gruppe hatte sich in Potsdam kennengelernt. Als sie vor vier Jahren den Schritt aus der Stadt hinein ins wilde Siedlerleben wagten, waren sie Mitte zwanzig, kinderlos und noch zu viert: Matthias, der Vater von Ursulas Sohn Anton, hat nach drei Jahren Spinnerei neue Wege gesucht. Ich trete zum Tisch vor der bereits grundsanierten linken Hälfte des Wohnhauses. Dort sitzen die Frauen mit einem Mitarbeiter der Firma, die genau an dieser Stelle eine biologische Kläranlage installiert hat – eine Auflage der Baubehörden. Unter unseren Füßen dröhnt der Motor der Umwälzanlage vernehmlich; die Aura der automatisierten Technik will sich nicht so recht in die ansonsten von künstlerischer Improvisation, Ruhe und Selbstbau-Lowtech geprägte Szenerie einfügen. Improvisiert präsentiert sich auch die Küche, in der ich mein Gepäck abstelle: neben dem Schlafsofa ein Klavier, die Küchenhexe aus dem Realsozialismus ist auf unkonventionelle Weise mit dem Schornstein verbunden. Der Raum weist drei unterschiedliche Fußbodenniveaus und der Boden mindestens vier verschiedene Oberflächenmaterialien auf. Den grob verlegten Ziegelboden mit den Sandfugen unter dem Esstisch als »pflegeleicht und praktisch« zu bezeichnen, wäre grob übertrieben – wie gesagt: Leben in der Baustelle. Man weiß ja, das geht irgendwann vorbei. Etwas später erfahre ich jedoch, dass Komfort-Verbesserung an diesem Platz nicht unbedingt die höchste Priorität besitzt. Nicht immer. Vor der gegenüberliegenden Fabrikruine treffe ich auf den »Baubeauftragten« Adrian. Neben ihm steht Ronan aus Nantes, der als freiwilliger Helfer zwei Wochen vor Ort ist, um das unabhängige Leben zu lernen. Adrian erklärt dem Franzosen mittels einer durchhängenden Schnur, an die in bestimmtem Abstand gleichschwere Gewichte geheftet sind, wie sich die Holzform für den Bau eines stabilen Ziegelgewölbes konstruieren lässt. Den Trick – und auch das Mauern – hat er von einem Maurermeister aus der Region gelernt. Dieser war in seinem Berufsleben nie dazu gekommen, auf solche Weise Gewölbe zu bauen, doch der »gescheiterte Veterinär« Adrian hat mit Unterstützung von diversen temporären Helfern tatsächlich ein wunderbares, sieben Meter langes Erdkeller-Gewölbe gemauert. Wieso er solch ein Riesenprojekt angehe, noch bevor die Wohnsituation geklärt sei, frage ich staunend angesichts des noch unfertigen Baus. »Ich brauchte das, um zu wissen, dass ich auf dem richtigen Weg bin«, antwortet Adrian, »weg von den doofen Kühlschränken zum Beispiel«. Eine gut kühlende Speisekammer sei ja ein essenzieller Teil jedes Selbstversorgerhaushalts, fügt er hinzu. Die Umsetzung des Vorhabens hat ein halbes Jahr beansprucht. Derzeit sind er und Ronan dabei, den Keller, der bereits ganz passabel funktioniert, von außen mit Lehm abzudecken. Später will Adrian dem Kühlhaus noch zusätzlich kalte Luft aus einer feuchten Senke zuführen, denn er hat an einer aufgegebenen Produktionsstätte eine Unmenge Tonröhren gefunden. Mit der Zeit erkenne ich, dass diese Röhren auf dem Platz für alles Mögliche verwendet werden, als Stufen der Freitreppe neben dem Keller etwa; oder auch – der Länge nach halbiert – als Firststeine des schönen, bunten Dachs aus recycelten Biberschwanz-Ziegeln, das auf der sanierten Haushälfte thront. Die Außenwände dieses Gebäudeteils hat Adrian ebenfalls neu aufgemauert – und eher nebenbei diverse kleinere Projekte wie Hühnerstall, Gartensauna, Gewächshaus und Solartrockner realisiert. Selbst wenn dabei jeweils Helferinnen und Helfer beteiligt gewesen sein mögen, wird mir der gutgelaunte, ruhig-kraftvolle Typ allmählich unheimlich: Wie konnten er und die anderen Spinner all das Erreichte in nur vier Jahren schaffen? Mit zwei kleinen Kindern? Ohne viel Geld?
Die spinnen, die »Köhler«! »Das letzte Jahr war äußerst turbulent«, erzählt Friederike, die »Gartenbeauftragte«. »Wir haben bestimmt 50 Prozent unserer Zeit für die Arbeit gegen Nochten II aufgewendet.« Als die vier in die Gegend zogen, war das nahe Braunkohle-Tagebaugebiet Nochten das letzte in Deutschland ohne organisierten Bürger-Widerstand. Der Stromkonzern hatte es verstanden, die Hoheit über die Köpfe der Menschen zu gewinnen. Auch wenn die Beschäftigtenzahlen bei weitem nicht mehr das DDR-Niveau erreichen, gilt der Tagebau in der Lausitz bei der Mehrheit noch immer als heilige Kuh. Die versprengten Andersdenkenden wagten kaum, ihre Meinung offen auszusprechen. Doch dann avancierte die Spinnerei-Baustelle zum Hauptquartier der neugegründeten Bürgerinitiative gegen den Kohlewahnsinn. »Das Telefon stand nicht mehr still«, erinnert sich Ursula ans vergangene Jahr. Aber nicht nur Sympathisanten und Presse interessieren sich seither für die Spinner – ihre politische Positionierung polarisiert. Die in alle Bereiche des täglichen Lebens reichende Kohle-Lobby sorgte für Gegenwind und Knüppel zwischen die Beine: Dass der Briefkasten mehrfach gesprengt wurde – nun ja, Hunde, die bellen, beißen (hoffentlich) nicht. Dass Bekannte sie anflehten, sich um Gottes Willen nicht gegen den Konzern zu stellen, sie hätten keine Ahnung, welche Kräfte sie da herausforderten – »Schon ein seltsames Gefühl.« Dass Adrian seinen Job als Leiter einer Bastelgruppe an der örtlichen Grundschule verlor, nachdem die Schulleiterin ihn wegen seines Engagements vor den Kindern angeschrien hatte – dies und ähnliche Konsequenzen waren irgendwie zu verschmerzen. Doch wer ein Lebensprojekt wie die »Spinnerei vom nachhaltigen Leben« im Außenbereich eines Dorfs installieren möchte, ist auf die Kooperationsbereitschaft der Behörden angewiesen. Und die sind in der Lausitz seit Jahrzehnten mit willfährigen Handlangern der politischen Entscheidungsträger besetzt. Da versagte das Bauamt auf einmal – entgegen früherer Zusagen – das Wohnrecht für das Grundstück; ein vom Spinnerei-Verein veranstaltetes Feriencamp wurde mit fadenscheinigen Begründungen just in dem Moment untersagt, als die teilnehmenden Kinder gerade von ihren Eltern abgegeben worden waren; die Baugenehmigung für die Sanierung der alten Fabrik stand wegen eilig diagnostizierter »Einsturzgefahr« plötzlich auf der Kippe und konnte erst mit Hilfe eines Anwalts und diversen Expertengutachten erkämpft werden. Bei den zeit-, geld- und nervenraubenden Auseinandersetzungen lassen Behördenvertreter hin und wieder durchblicken, dass sich unkomplizierte Lösungen durchaus finden ließen – wenn es da nicht »diese Probleme« gäbe. Aber es sieht so aus, als seien unsere Helden-Spinner auf diesem Ohr taub; ans Beigeben denken sie in Zeiten der Energiewende, wo die Braunkohleverstromung zunehmend in die Defensive gerät, nicht im geringsten.
Zukunftsmusik Stattdessen spinnen sie munter weiter an ihrer professionell aufgemachten Widerstandszeitung »NOCHTEN heute«, deren neunte Ausgabe gerade erschienen ist. Und trotz der herausfordernden Wohnverhältnisse wird bereits an die nächste Baustelle gedacht, ein wahres Megaprojekt in der Do-it-yourself-Klasse: Die noch zu sanierende Holzwollspinnerei soll in den oberen Etagen öffentliche Seminarräume für die Bildungsarbeit des Spinnerei-Vereins bekommen, im Erdgeschoß sollen Holz- und Metallwerkstätten entstehen. Ursula und Friederike lachen, als sie von Adrians unbändigem Schaffensdrang und seiner ausufernden Fantasie erzählen: Hatte er doch tatsächlich erwogen, die vorgeschriebene Rollstuhlzufahrt ins öffentliche Fabrik-Obergeschoß mittels einer gemauerten Bogenbrücke zu realisieren, eine Art Aquädukt von der höhergelegenen Straße aus. Friederike: »Gewölbe kann er ja jetzt, und die nötige Holzform hat er auch schon!« Realistischer – und auch sinnvoller hinsichtlich des damit verbundenen Arbeitsaufwands – erscheint mir eine andere Vision, die mir der Baubeauftragte während eines Rundgangs durch die ursprünglich per Mühlrad betriebene Fabrik anvertraut: Wäre es nicht großartig, an dem vorbeiführenden kleinen Wasserlauf wieder ein Rad zu installieren, um damit in den Werkstätten verschiedene Maschinen zu betreiben? – Ja, das wäre grandios, allein schon wegen der Symbolkraft: dort das landschaftsfressende Großkraftwerk, hier die sanfte Energiequelle der »Spinnerei vom nachhaltigen Leben«! Sollte es ihnen gelingen, von den derzeit reservierten Behörden eine Genehmigung zu erhalten, so würde Adrian ein kleines Mühlrad aus recycelten Materialien konstruieren und die Wasserkraft mittels einer Drehwelle über Transmissionsriemen für Mörtelmischer, Waschmaschine usw. nutzbar machen. Seine Augen leuchten, als er mich auffordert, mir die wunderbare Atmosphäre vorzustellen, die so ein laufendes Mühlrad erzeugt. Im Garten steht – noch unter einer Plane schlafend – eine drei Meter hohe Esse. Selbstverständlich will er das Ding irgendwann reaktivieren und sich das Schmieden zumindest so weit beibringen, dass es für gröbere Dinge reicht. »Die Bauern konnten früher alle ein bisschen schmieden, und wandernde Handwerksgesellen freuen sich bestimmt, wenn sie hier einen Ort vorfinden, wo sie ihr Werkzeug reparieren können.« Mit dem Wasserrad ließe sich vielleicht auch der Blasebalg der Esse betreiben, ein mechanischer Schmiedehammer – und eine Glühbirne zur Beleuchtung des Arbeitsplatzes. »Mit einer Auto-Lichtmaschine«, weiß Adrian, »kann man die Drehbewegung auch in einer Batterie speichern«. Zuletzt hat sich Adrian von einem Bekannten ein Breitbeil geliehen und sich die Theorie angelesen, wie damit schnurgerade Balken aus einem Baumstamm gehauen werden, wenn gerade kein Sägewerk zur Hand ist. Adrians erste praktische Versuche hätten einem Zimmermann des alten Schlags vermutlich Respekt abgenötigt. »Ich fange immer einfach an«, erklärt er sein Vorgehen. »Mit der Zeit kommt dann das Gefühl für das Material und das Werkzeug. Außerdem kann ich mittlerweile darauf vertrauen, dass hier früher oder später ein Besucher aufkreuzt, der sich mit einer angefangenen Sache auskennt oder sich zumindest dafür interessiert. Bei diesen Begegnungen erhalte ich dann die nötigen Hinweise zur Optimierung.« Das Lernen und Experimentieren geschieht bei den Spinnern offenbar stets spielerisch, flexibel, organisch. Alles darf sich entwickeln, nichts muss sofort sein. »Natürlich mache ich beim allgemeinen Geschwindigkeits-Irrsinn auch selbst noch hier und da mit«, bekennt Adrian. »Doch wenn ich es eilig habe und etwa den Akkuschrauber benutze, beschleicht mich immer öfter das Gefühl, bei meinen Nachhaltigkeitsbemühungen zu schummeln. Moderne Technik verschafft uns ja oft nur die Kraft von irgendwo weit weg ausgebeuteten Menschen und geplünderter Natur. Ich träume von einer Welt, in der die Leute wieder geduldiger sind und die Schönheit in der Langsamkeit erkennen.« Der ungeliebte Akkuschrauber – das muss zu seiner Ehrenrettung gesagt wer-den – wird von Ursula, Friederike und Adri-an übrigens auch dafür genutzt, in Streifen geschnittene Textilreste zu verdrillen. Die bei dieser Upcycling-Seilerei entstehenden Schnüre, Seile und Taue kommen an allen möglichen Stellen im Garten, im Haus und auf der Baustelle zum Einsatz.
Mut, zu fragen und zu experimentieren So, wie sie vermutlich jeden Spinnerei-Gast prüft, testet Friederike, ob mein praktisches Wissen nicht zufällig die Antworten auf einige offene Fragen kennt: Was beim Anbau von Linsen zu beachten sei, möchte sie aktuell wissen. Wie sich Schafwolle schonend vor Motten schützen lässt, so dass sie als Deckenisolierung verwendet werden kann. Und ob ich hinsichtlich der Fabriksanierung nicht einen Ansprechpartner mit Erfahrung in Sachen Gemeinschafts- bzw. Wandergesellen-Baustelle wüsste. Was die Linsen betrifft, muss ich passen, doch dafür kenne ich tatsächlich eine frisch von der Walz heimgekehrte Tischlergesellin; und, ja, ich hatte vor Jahren einmal gehört, dass sich Wolle statt mit Borsalz vor dem Einbau auch mit aufgesprühtem Urin imprägnieren lässt. Aber was ist mit dem Geruch? Ich rate Friederike, vor einem entsprechenden Experiment besser über die E-Mail-Liste der Permakulturszene nach Erfahrung zu suchen. Die neugierige, offene, unkomplizierte Art, wie sich die Spinnerei-Besatzung notwendiges Wissen zusammensucht und Neues lernt – und eben auch lehrt –, fühlt sich erfrischend an. Zu spüren ist eine große Bereitschaft, Dinge ohne viel Bedenken auszuprobieren. Adrian kennt offenbar auch bei komplizierteren Angelegenheiten wie der Haustechnik kaum Berührungsängste. Er möchte demnächst eine Fuß-bodenheizung aus Abfallmaterialien bauen. »Viele Leute bewundern, was ich mache«, sagt er. »Aber du hättest mal meinen älteren Bruder zu seinen besten Zeiten kennenlernen sollen – der ist wirklich genial! Leider schätzt er dieses Talent nicht so sehr wie ich und wendet es nur noch selten an. Als Kind lernte ich von ihm, dass für den wahren Tüftler nichts unmöglich ist: Im Garten hinterm Haus gruben wir mal ohne Wissen unserer Eltern einen dreieinhalb Meter tiefen Brunnen. Oder wir drechselten uns Holzmünzen, mit denen wir Kaugummiautomaten überlisten konnten, ohne sie zu zerstören. Nach dem Raubzug ließen sich die Münzen wieder entnehmen …« Der kleine Einblick in die frühe Jugend des Baubeauftragten erklärt einiges, was mir zuvor ein wenig unheimlich erschien. Selbstverständlich wirken in der »Spinnerei vom nachhaltigen Leben« keine Superhelden, sondern ganz normale Menschen. Doch die bringen genau die richtigen Eigenschaften mit, die Pionierinnen auf der Suche nach dem enkeltauglichen Leben an diesem Ort brauchen – darunter auch den nötigen Schuss Verrücktheit. Nachdem ich den Dreien zum Abschied meine besten Wünsche für alle ihre Unterfangen ausgedrückt habe, gehe ich die Auffahrt hoch und werfe einen letzten Blick zurück auf die große Fabrikruine. Nein, ich muss meine erste Einschätzung der Platzbewohner nicht revidieren: Es sind großartige Spinner! •