Titelthema

Zurück in die Steinzeit?

Jochen Schilk erklärt mit Marshall Sahlins, warum das theoretisch gar keine so schlechte Option wäre.von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #5/2010
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Haben Sie das auch schon erlebt? Diskussionen über mögliche zukünftige Gesellschaftsformen und weniger verschwenderische Lebensstile gelangen ziemlich häufig an den Punkt, wo irgendjemand mahnt: »Aber wir wollen und können doch nicht zurück in die Steinzeit!«

Mal ganz ­abgesehen von der Frage, ob die Menschheit eines Tages tatsächlich vor dieser Notwendigkeit bzw. Option stehen wird, habe ich mich beim Auftauchen dieses Einwurfs jedesmal gefragt: Woher eigentlich stammt diese schroffe Ablehnung der Idee einer Rückkehr in »vor-geschichtliche« Verhältnisse? Die Entschiedenheit, mit der sie vorgebracht wird, deutet darauf hin, dass es um heftige (Verlust-)Ängste geht: Wir wollen unseren mühsam errungenen Komfort nicht aufgeben! Ich behaupte: Die Hinterfragung unserer zivilisatorischen Errungenschaften in dieser Konsequenz stellt heute eines der großen Tabus dar.
In der düsteren Steinzeit, so besagt ja die kollektive Vorstellung, lebten die Jäger und Sammlerinnen mehr schlecht als recht von dem Wenigen, das sie finden konnten. Sie hausten in Horden in zugigen Höhlen und mussten sich unausgesetzt gegen eine grimmige Natur zur Wehr setzen. Es drohten jedoch nicht nur Raubtierattacken und Kälteperioden, sondern auch die Holzkeulen der Nachbarhorde. Da das Recht des Stärkeren galt, hatten die Männer als jagende Haupternährer und Kämpfer das Sagen. – Wer kennt diese Bilder nicht aus Kinder­büchern und TV-Geschichtsdokus?

Es gibt kein Zurück! – Warum nicht?
Nun betrifft »die Steinzeit« einen Zeitraum von mehr als zweieinhalb Millionen Jahren, und es ist freilich nicht auszuschließen, dass während Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit solche Szenarien immer wieder auch Realität gewesen sind. Allerdings hat sich mir, wenn ich in den vergangenen Jahren auf Berichte über die Jahrtausende vor der »landwirtschaftlichen Revolution« und dem Beginn des Bronzezeitalters stieß (also bis vor etwa 12 000 bis 4000 Jahren), ein ganz anderes, fast gegensätzliches Bild zu den üblichen Vorstellungen vom Steinzeitleben geboten. Betrachtet man z. B. steinzeitliche Hinterlassenschaften, wie die Motive der Höhlenmalereien, Schmuck, Kult-Figurinen oder einige sa­krale Bauwerke, deren Errichtung auf ganz ausgezeichnete astronomische und andere wissenschaftliche Kenntnisse schließen lassen, so drängt sich der Eindruck von friedlichen Kulturen auf, die das Leben zu feiern verstanden, von Menschen, die wussten, wie es sich unter den jeweils vorgefundenen Bedingungen gut leben ließ. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man ethnologische Untersuchungen von Gesellschaften heranzieht, die heute noch auf dem technischen Niveau der Steinzeit-Menschen leben – und einen ganz zufriedenen Eindruck machen, solange sie nicht mit der zivilisierten Moderne in Berührung kommen.

Ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft
Der Wildnispädagogik-Pionier Tom Brown jr. sagt sinngemäß: »Es hängt von den Fähigkeiten und Kenntnissen ab, ob der Aufenthalt in der Natur ohne große technische Hilfsmittel zur reinen Hölle oder zum Paradies auf Erden wird.« Unsere steinzeitlichen Urahnen hatten genügend Zeit, sich solches Wissen anzueignen. Und einmal abgesehen davon, dass Brown aus langjähriger eigener Erfahrung spricht, erhält seine Aussage wissenschaftlichen Beistand durch den US-amerikanischen Anthropologen Marshall Sahlins. Der veröffentlichte 1972 sein Buch »Stoneage Economics«, in dem er anhand verschiedener ethnographischer Quellen nachweist, dass Jäger-und-Sammlerinnen-Gesellschaften selbst unter den Bedingungen von Wüste oder Eiswüste in einer spezifischen Form des »Wohlstands« zu leben verstanden. Unser Bild vom kärglich-harten Steinzeitleben müsse vollständig revidiert werden. Ja, es sei vielmehr die heutige Gesellschaft, in der die Knappheit ein institutionalisiertes Wirtschaftsprinzip darstellt! Im Gegensatz zur zivilisierten Welt, wo ein riesiger Teil der Bevölkerung jeden Abend hungrig ins Bett geht, kennen traditionell lebende Jäger und Sammlerinnen wie die Kalahari-Buschleute oder die australischen Aborigines Hunger höchstens als eine außergewöhnliche, bald vorübergehende Erscheinung, die so gut wie niemals lebensgefährliche Ausmaße annimmt.
Die ganze Lebensweise der Jäger und Sammlerinnen ist auf Mobilität ausgerichtet, so dass sie immer in die Gebiete wandern können, in denen Nahrung in Hülle und Fülle vorhanden ist. Ethnologische Untersuchungen hätten ergeben, dass diese Menschen das Ziel der eigenen Gesund­erhaltung mit primitiven technischen Mitteln in aller Regel sehr leicht erreichen und dabei sogar noch Überschüsse anfallen. Nur ein Teil einer Gruppe sei überhaupt mit Nahrungsbeschaffung beschäftigt, und anders als man glauben möchte, ist die »Arbeitswoche« von Jägern und Sammlerinnen auch noch wesentlich kürzer als in unseren modernen Verhältnissen. Typisch sei hier ein »altsteinzeitlicher Rhythmus« von einem oder zwei Tagen Arbeit, gefolgt von einem oder zwei Tagen Freizeit – Bedingungen also, »von denen Industriearbeiter nur träumen« könnten.
Ausführlich legt Sahlins dar, dass Jäger und Sammlerinnen aufgrund ihrer Erfahrung der Fülle ein unerschütterliches Vertrauen in die Natur und ihre Form der Wirtschaft gewonnen haben. Natur ist für sie eben nicht feindlich, sondern Quell der Nahrung. Dies erklärt zum Teil, warum so viele westliche Reisende erzählen, dass diese Menschen nicht das geringste Bedürfnis nach Anhäufung von Besitztümern kennen. Sie entwickeln keine Methoden für die Lagerung von Essen und gehen sogar auffallend nachlässig mit ihren wenigen selbstgefertigten Gegenständen um, ganz so »als ob sie sämtliche Probleme der Produktion gemeistert« hätten. Was kaputt geht, wird aus massenhaft herumliegenden Materia­lien einfach wieder neu hergestellt; was man nicht hat, lässt sich in der »Demokratie des Besitzes« vom Nachbarn ausleihen. Marshall Sahlins erwähnt die Beispiele einiger nicht-sesshafter Nahrungsbeuter-Völker, die es explizit ablehnen, wie ihre Nachbarn Landwirtschaft zu betreiben, und die den erstaunten Ethnologen mitteilen, dass sie lieber ihre Freizeit behalten möchten und außerdem keine Lust auf derart anstrengende Arbeit hätten …
Die Jäger-Sammlerinnen-Lebensweise ist somit auf paradoxe Weise einerseits von wirtschaftlichem Erfolg und Fülle geprägt, andererseits kann von Reichtum nicht die Rede sein. Das liegt an dem Zwang zur Mobilität, der zwar die Fülle erst möglich macht, zugleich aber den Gedanken an den Bau fester Behausungen oder die Akkumulation von schönen Dingen gar nicht erst aufkommen lässt. Mobilität und Besitztum stehen laut Marshall Sahlins in einem Widerspruch, denn Güter würden schnell zur »schmerzhaften Bedrückung«, wenn man sie über viele Meilen auf dem Rücken tragen muss. »Es ist aber nicht so«, meint Sahlins, »dass Jäger und Sammlerinnen ihre materialistischen Impulse gezügelt hätten; sie haben sich einfach niemals welche angeeignet.« Nur in einem Punkt haderten Jäger und Sammlerinnen mit der absoluten Notwendigkeit, um jeden Preis mobil bleiben zu müssen: dann nämlich, wenn die Transportfrage nicht nur Dinge, sondern Menschen betrifft – sprich, wenn Alte und Schwache dem Tod überlassen werden müssen, weil man sie auf der Wanderung in ertragreichere Gegenden nicht mehr mitschleppen kann.

Fortschreiten bis zum Abwinken
In einem Beitrag über menschliche Entwicklungsbiologie schrieb Dagmar Neubronner in der vierten Ausgabe von Oya: »Die Fähigkeit […], im Labyrinth den eigenen Standort zu erkennen, uns umzudrehen und weiterzugehen, anstatt blindlings immer gegen dieselbe Wand anzurennen, wird Adaption genannt.« – »Umdrehen und weitergehen« muss dabei freilich nicht notwendigerweise bedeuten, dass man den gegangenen Weg wieder bis zum Ausgangspunkt zurücklegt. Es gibt vermutlich fast immer auch Optionen in Form von unbekannten Seitenwegen. Aber das Zurück­gehen in einen altbewährten Zustand sollte beim Vorgang der Adaption doch zumindest eine legitime Möglichkeit sein. Unmöglich ist schließlich, noch weiter gegen besagte Wand anzurennen. Wenn man zum Schluss kommt, dass das Bild von der besseren Vergangenheit keine romantisch-nostalgische Vorstellung ist, warum nicht davon lernen? Schließlich waren wir dort schon einmal. Die Angst, man würde durch einen radikal anderen Lebensstil ein »prärationaler« Mensch, erscheint naiv; die Erkenntnisse und Einsichten der Aufklärung und der modernen Zeit werden dadurch ja nicht aus unserem Bewusstsein gelöscht.
Was also, wenn der unwahrscheinliche Fall einträte, und die heutige Menschheit kollektiv erkennen würde: Wir haben uns in einen Irrweg hineinverrannt. Seitdem wir »Zauberlehrlinge« – aus Neugierde und Experimentierfreudigkeit – sesshaft geworden sind und Landwirtschaft betreiben, haben wir nicht mehr aufgehört, uns die Schädel einzuschlagen und unseren Planeten zu verwüsten. Wir stehen heute am Rand des Abgrunds. Was hindert uns, wieder eine naturnahe Wohlstandsgesellschaft zu erfinden?
Gut, für das klassische Jäger-und-Sammlerinnen-Modell fallen mir schnell einige Hinderungsgründe ein, allen voran das Platzproblem: Selbst wenn wir das Jagen und Sammeln wieder erlernen könnten (siehe Seite 22), so ist die Biosphäre dafür mittlerweile vielerorts zu kaputt, und wir Menschen sind viel zu viele, als dass diese Lebensweise funktionieren könnte. (Womöglich sind wir überhaupt viel zu viele.) – Darum geht es mir aber gar nicht, ich stelle nur die herrschende »Fortschritts-Doktrin« in Frage. Warum darf es nicht auch mal zurückgehen? Die Option »Weitermachen wie bisher« macht mir wesentlich mehr Angst als die Vorstellung, in frühere Entwicklungszustände zurückzukehren, und sei es die Option Zurück-in-die-Steinzeit (oder in andere matriarchale Zeiten). Alles scheint besser, als sehenden Auges kollektiv gegen die Wand bzw. in den Untergang zu fahren. Dass die utopische Rückwärts-Option mit einem Denkverbot belegt sein soll, stört mich. Die Lage ist zu ernst, als dass wir uns Scheuklappen und Vorurteile leisten könnten. Ich habe nämlich das Gefühl, dass wir Heutigen von den Steinzeit-Menschen mindestens etwas über das Bewusstsein der Fülle zu lernen haben.
(P. S.: Noch weitere Vorurteile über die Steinzeit können heute als widerlegt gelten: So war das damals bevorzugte Bau- und Werkzeugmaterial nicht Stein, sondern Holz. Und bei vielen Nahrungsbeuter-Völkern sind es nicht die Jäger, sondern die Sammlerinnen, die den Hauptanteil des ­Essens herbeischaffen …) 

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