Wie Schülerfirmen Slums in Nairobi unterstützen.von Irmgard Wutte, erschienen in Ausgabe #33/2015
Zehn Jahre durfte ich in Kenia in einer extremen Pioniersituation zwei Schulen gründen und in der Begegnung mit dieser vollkommen anderen Welt, der völlig anderen Kultur, meine eigenen Denk- und Handlungsmuster erkennen und verwandeln. Eine große Liebe zu den Menschen und dem Leben dort ist daraus erwachsen – und die Erkenntnis, dass es eine wunderbare gemeinsame Zukunft der beiden Welten Europa und Afrika geben könnte. Sie können sich gegenseitig bereichern, wenn nicht gar von ihren gegensätzlichen Einseitigkeiten und Ein-Sichtigkeiten heilen. Die Kraft und Bedeutung Afrikas für Europa und das Potenzial einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit wird hierzulande noch nicht erkannt. Gleichzeitig wurde mir deutlich, dass wir Menschen im Westen in unserer heutigen Zeit nichts konstruktiv bewegen können ohne unternehmerisches – genau genommen: sozialunternehmerische Kompetenzen. Ich schließe mich Bruno Manser an, der sagte: »Wer versteht und nicht handelt, hat nicht verstanden.«
Der Anfang einer Bewegung? Als ich 2001 zurück nach Deutschland ging, bewegten mich folgende Fragen: Wie könnte ich dazu beitragen, junge Menschen auf eine solidarische Weltgesellschaft vorzubereiten? Wie könnten sie sich die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen, um gemeinsam zum Wohl aller die Welt zu gestalten? Ich wollte einen sozialunternehmerischen Handlungsrahmen schaffen, durch den sie die globalen Zusammenhänge aus ihrem konkreten Leben heraus kennen- und verstehenlernen können, z. B. eine Fairtrade-Schülerfirma. Mein Wunsch war, an Schulen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass junge Menschen ihre Kompetenzen für soziales Unternehmertum, Entwicklungszusammenarbeit und interkulturelle Beziehungen entwickeln können. An der Waldorfschule in Ismaning fand ich 2004 ein dafür aufgeschlossenes Kollegium. Zehn Schüler aus der zehnten Klasse standen sofort an meiner Seite, um die erste Schülerfirma unter dem Motto »Nyendo« (»Bewegung« auf Swaheli) zu gründen. Seitdem hat sie in immer neuer Besetzung insgesamt gut 70 000 Euro erwirtschaftet und ihrer Partnerschule in Nairobi geschenkt. 40 Schüler waren zudem vor Ort, denn darum geht es: mit einer nachhaltigen Geschäftsidee tätig zu werden, den Erlös einer materiell bedürftigen Schulgemeinschaft in einem Entwicklungsland zu schenken und diese dann zu besuchen. Erst durch persönliche Betroffenheit – über die Begegnung – wird das neu Erlernte zur Haltung, wie der Neurobiologe Gerald Hüther bestätigt. Haben die Jugendlichen sich vorher selbst als reich und die Menschen dort als arm empfunden – ein Ergebnis des weit verbreiteten kolonialistischen Denkens –, erlebten und lernten sie durch die Verbindung mit Nairobi, wie reich die Menschen dort an Lebensfreude und Herzenskräften sind und welche tief verankerten Sozialkompetenzen sie haben. Ich erlebte zum Beispiel, wie eine kenianische Familie mit neun Kindern sieben weitere, die über Nacht zu Waisen geworden waren, zu sich aufnahm, wissend, dass die eigenen Kinder jahrelang hungrig zu Bett gehen würden. In Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern macht man sich Sorgen wegen ein paar Tausend Füchtlingen – unvorstellbar! Für unsere Jugendlichen sind das wesentliche Lernprozesse eines neuen Denkens aus einer neuen Haltung heraus. Denn es gibt nur eine gemeinsame Zukunft aller Völker und aller Länder auf unserer Erde. Wie wir diese gestalten liegt in unseren, besser gesagt in den Händen unserer jungen Generationen. Dies ist bisher erst der Anfang unserer Nyendo-Bewegung. Mit einem wachsenden Kollegenteam und geringen finanziellen Mitteln bereiten wir uns darauf vor, künftig 50 Nyendo-Schulen in Deutschland mit 50 Partnerschulen in einem Entwicklungsland zu vernetzen. Seit 2012 gibt es zu diesem Zweck die gemeinnützige »nyendo lernen hand in hand UG«. Bisher hat sie fünf deutsche Schulen mit Partnerschulen in Nairobi vernetzt. In dieser Viermillionenstadt, wo knapp zweieinhalb Millionen Einwohner in Slums ums Überleben kämpfen, sind im Kangemi-Slum vier Schulen unsere Partnerschulen geworden. Für etwa 60 000 Kinder gibt es dort nur drei staatliche Grundschulen sowie 83 freie, von Eltern und Lehrern gegründete Schulen, die keine staatlichen Zuschüsse erhalten. Alle Kosten müssen von den Eltern getragen werden, was mit dem durchschnittlichen Tagesverdienst von einem Dollar eigentlich unmöglich ist. Die Lehrerinnen und Lehrer, die meist nur durch eine Reihe von Nebentätigkeiten ihr Überleben sichern, ermöglichen diese Schulen durch ihre Hingabe an die Kinder. In meinen Augen sind sie alle Heldinnen und Helden! In der Schule wird auch eine warme Mahlzeit angeboten. Wäre das nicht der Fall, müsste die Hälfte der Kinder wegbleiben, um sich stattdessen auf die Suche nach Nahrung zu begeben. Wenn ich in eine interessierte deutsche Schule eingeladen werde, um den Schülern über unsere Arbeit zu berichten, und sie dann von den Lebensverhältnissen der Kinder unserer Partnerschulen erfahren, verändert sich die Stimmung im Raum. Die Augen der Schüler werden groß, und sie fragen: »Was können wir tun? Wie können wir helfen?« Ob noch scheu oder schon mutig: Die jungen Leute in unserem Land brauchen Unterstützung, damit sie ihr tiefes Bedürfnis, an einer friedlichen und gerechten Welt mitzuwirken, leben können.
Regionalwährungen ermöglichen Schulgeld Bisher importieren die bestehenden Nyendo-Schülerfirmen fair gehandelten Kaffee, faire Schokolade oder Kunsthandwerk, das auf den Märkten Nairobis eingekauft wird. Es gibt aber auch eine Catering-Firma und einen ersten Versuch, Waren über die Regionalwährung, den Chiemgauer, zu vertreiben. Weitere Geschäftsideen werden noch entwickelt. Der erwirtschaftete Erlös wird zum einen als Hilfe für akute Notsituationen gespendet und zum anderen an Projekte vergeben, die langfristig den Menschen helfen, wirtschaftlich selbst auf die Beine zu kommen. Inspiriert durch die Erfolge der Komplementärwährungen in Brasilien, stellte ich unseren Freunden in Nairobi dieses Konzept vor, unterstützt vom Experten Will Ruddick von »Grassroots Economics« in Kenia. Die Schulleiter haben sofort ihre Chance verstanden und ergriffen. Im Oktober 2014 wurden von den Schulleitern die Zahlungsmittel »Gatina Pesa« sowie »Kangemi Pesa« eingeführt; bald gibt es auch den »Linde Pesa«, jeweils benannt nach den Stadtvierteln. Es ist das erste regionale Währungssystem in Afrika. Zur Gründung einer solchen Gemeinschaftswährung schließen sich Kleinstunternehmer aus der Schulgemeinschaft und der Nachbarschaft als Mitglieder zu einem Wirtschaftsverein zusammen. Nach einer feierlichen Einführung werden an sie Gutscheine im Wert von zwei Euro ausbezahlt, die sie fortan als Tauschmittel untereinander verwenden und auch teilweise das Schulgeld damit bezahlen, das sonst oft gar nicht bezahlt werden kann. Die kenianischen Schillinge bleiben ihnen für notwendige Ausgaben wie Miete und medizinische Versorgung. Durch die »Gatina Business Association« konnten rund 100 Geschäftsleute in den ersten drei Monaten ihr Handelsvolumen um insgesamt 7000 Euro erhöhen. Die Anschubfinanzierung, um das Geld überhaupt in Umlauf zu bringen, kam von den Nyendo-Schülerfirmen in Deutschland. Indem zum einen die deutschen Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Potenzial entdecken und zu entfalten lernen und zum anderen die Menschen in Nairobi ihre eigenen Kräfte und Potenziale entdecken, wird beiderseitig Selbstvertrauen gestärkt. Das Fehlen von Selbstvertrauen ist wohl derzeit die größte Not, dort wie hierzulande. Spenden helfen immer nur kurzfristig; langfristig greifen alternative wirtschaftliche Strukturen und das Vertrauen in die eigene Kraft. Eine starke und zukunftsfähige Gesellschaft, die die heutigen Herausforderungen bewältigen möchte, braucht eine starke und innovative Jugend, die einen unerschütterlichen Glauben an sich und die Zukunft hat. Dieser Glaube wächst mit sichtbaren und wirksamen Erfolgen und ermöglicht Selbstwirksamkeit – nicht durch abfragbares Wissen und dessen Benotung. Der Weg ist noch weit, und unsere Vision lässt sich nur mit vielen Freunden und Förderern umsetzen. Das Schöne ist, dass sich viele verschiedene Akteure beteiligen können: Schulen, Hochschulen, ehrenamtliche Mitarbeiter und Unternehmen. •
Irmgard Wutte (54), Pädagogin und Sozialunternehmerin, hat zehn Jahre in Kenia gelebt und u.a. die Waldorfschulen vor Ort mit aufgebaut, Davon berichtet ihr Buch »Ein leiser Ruf aus Afrika«. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin von »Nyendo Reisen hand in hand« und der gemeinnützigen »Nyendo Lernen hand in hand UG« und lebt im Chiemgau. www.irmgard-wutte.de