Selbstbewusste Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ziehen in Indien mit einem Biodiversitätsfestival durch die Dörfer.
von Elisabeth Voß, erschienen in Ausgabe #33/2015
Am 14. Januar 2015, dem Tag des Sankranti (Sonnenwend- und Erntedankfest), begann im Dorf Hoselli, nicht weit von Zaheerabad im indischen Bundesstaat Telangana, ein großes Festival für Biodiversität. Als bunte Karawane zieht es mit Ochsenkarren durch mehr als 50 Dörfer. Seit 16 Jahren wird es von der »Deccan Development Society« (DDS) organisiert, einer Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich seit mehr als 30 Jahren für die Selbstbestimmung und Selbstversorgung ländlicher Gemeinschaften im Medak-Distrikt von Telangana einsetzt. Als Gottheit dieses Festivals gelten die Samen, deren Manifestationen überall sichtbar sind. Die Bäuerinnen und Bauern feiern sich selbst, ihre kleinbäuerliche Existenz, ihr Wissen und ihre Fähigkeit, ihr eigenes Saatgut herzustellen und ihre eigenen Lebensmittel zu produzieren. Ein Teil der liebevoll geschmückten Wagen präsentiert eine Ausstellung verschiedenster Samen, andere zeigen selbsthergestellte Lebensmittel. In den Dörfern zelebrieren die Menschen ihre spirituelle Naturverbundenheit mit Tänzen und Liedern und stellen ihre lokalen Samen und Früchte vor.
Diese kraftvolle Manifestation setzt dem Feldzug der Agrokonzerne eine erdverbundene, lebensbejahende Alternative entgegen. Die Firmen hatten bessere Einnahmen versprochen, wenn die Bäuerinnen und Bauern industriell hergestelltes, oft genetisch verändertes Saatgut in Verbindung mit Düngemitteln und Pestiziden – zum Beispiel beim Anbau von Baumwolle für den Export – verwenden würden. Anfängliche Abnahmegarantien wirkten als Köder, aber wer sich darauf einließ und für die Industrie anbaute, hatte nach einer kurzen Zeit der erhöhten Produktivität unter Ungezieferbefall und steigenden Pachtforderungen für das Land zu leiden. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich in der Abhängigkeit zunehmend. Wer sich aktiv am Biodiversitätsfestival beteiligt, will nicht in eine ungewisse – und ziemlich sicher elende – Zukunft in den Armenvierteln der Städte ausweichen, sondern auf dem angestammten Land bleiben, ein Leben in Würde führen sowie traditionelles Wissen bewahren und weitergeben. Wie zum Beispiel Anjamma Gangwar, die als Samenhüterin dafür sorgt, dass ihrer Gemeinschaft das hochwertige Saatgut nicht ausgeht. Die vierfache Mutter und siebenfache Großmutter bewahrt vor allem Saatgut von Hirsesorten und Hülsenfrüchten, aber auch von Kräutern und Heilpflanzen. Sie prüft die Samen auf Farbe und Größe und siebt sie aus, um eine hohe Sortenreinheit zu gewährleisten. Die Samen werden in Krügen und Körben aufbewahrt, die mit Kuhdung abgedichtet und mit Neem-Blättern vor Insekten geschützt werden. Vor der Aussaat übergießt Anjamma sie mit heißem Wasser, um Insekteneier zu zerstören, und trocknet sie anschließend in Asche. Die Region Medak kennt sowohl lang andauernde Trockenperioden als auch Regenzeiten. Damit bei jedem Wetter ein Ertrag auf dem Feld entsteht, wird ein durchdachter Mix von Samen ausgesät, von denen einige viel Feuchtigkeit brauchen, andere besser im Trockenen keimen. Um die Aussaat zu schützen, werden die Felder von sogenannten Trap Crops umrahmt – Pflanzen wie Sonnenblumen oder Rhizinus, die Schädlinge anziehen. Wer nicht genug eigenes Saatgut hat, leiht sich bei Anjamma Samen aus und gibt ihr später die doppelte Menge zurück. Saatgut wird verliehen oder getauscht, aber nie verkauft. »Ich kenne mich aus mit Säen, Wachsen, Ernten und Essen. Ich kaufe nie Lebensmittel von außerhalb ein«, sagt Anjamma. Zur Sicherung und Entwicklung von Biodiversität und Ernährungssouveränität arbeitet DDS in erster Linie mit armen Frauen, vorwiegend Dalits. Diese Ureinwohnerinnen stehen als sogenannte Unberührbare im hierarchischen Kastensystem ganz unten und werden nach wie vor gesellschaftlich diskriminiert, auch wenn sie formaljuristisch die gleichen Rechte haben wie alle anderen. Die NGO unterstützte sie anfangs darin, auf ihrem eigenen Land Gemüse und Hirse biologisch anzubauen, indem sie ihnen einen Lohn dafür zahlte. Dann initiierte sie die Gründung von »Sangam«-Gemeinschaften in den Dörfern. Diesen gehören jeweils etwa 30 bis 40 Frauen an, die sich gegenseitig unterstützen, zum Beispiel wenn eine von ihnen Probleme mit ihrem Mann hat oder staatliche Unterstützung benötigt. Monatlich zahlen sie einen kleinen Betrag in eine gemeinsame Kasse, aus der die Mitglieder des Sangam Mikrokredite bekommen können. Die Frauen beantragen kleine, realistische Beträge und zahlen sie verantwortlich zurück. Erste Versuche von DDS mit der Vergabe von Kleinkrediten in Männergruppen waren unter anderem an unrealistischen Kredithöhen und teilweise auch an Missbrauch gescheitert.
Solidarisch wirtschaften, feiern, kämpfen In Zaheerabad betreiben die Frauen gemeinsam einen Sangam-Markt, wo sie ihre Produkte – vor allem Hirse, Zucker, braunen Reis und Linsen – verkaufen. Die biologischen Lebensmittel werden damit sichtbarer, als wenn sie im Supermarkt zwischen konventionellen Produkten stehen würden, und die Frauen können bessere Preise erzielen. Darüber hinaus organisieren sie über den Sangam-Markt auch den gemeinsamen Einkauf für ihren eigenen Bedarf. Zu diesem Zweck zahlt jede zu Beginn eine Einlage als Kapital für die Zwischenfinanzierung der Einkäufe ein. Anfangs wurde diese Einlage alle zwei Jahre verzinst. Später entschieden sich die Frauen jedoch, statt einer Dividende auf das eingezahlte Kapital einen Anteil am Gewinn auszuzahlen, der sich danach bemisst, in welchem Maß ein Mitglied sich am gemeinsamen Einkauf über den Sangam beteiligt hat. DDS setzt sich dafür ein, dass in Telangana die vielerorts in Vergessenheit geratene Hirse verstärkt kultiviert wird. Im Unterschied zum weitverbreiteten Reis benötigt Hirse keine Bewässerung, was der häufigen Trockenheit viel mehr entspricht als der extrem wasserintensive Reisanbau. Hirse ist deutlich reicher an lebensnotwendigen Nährstoffen als Reis, der üblicherweise weiß, also geschält und damit seiner wichtigsten Bestandteile beraubt, verzehrt wird. Insbesondere für ärmere Teile der Bevölkerung wäre es gesundheitlich bedeutend, ihre Essgewohnheiten umzustellen. So regt DDS an, in das staatliche Ernährungssicherungsprogramm, aus dem Menschen mit geringem Einkommen Reis und Bohnen zu subventionierten Preisen erhalten können, auch Hirse aufzunehmen. Die NGO schlägt vor, Telangana zum »Hirse-Staat« zu erklären. Die am Biodiversitäts-Festivals Teilnehmenden bekräftigen diesen Vorschlag lautstark. Ihre Ablehnung der Zerstörung des Landes durch Monokulturen drücken sie aus, indem sie zu Beginn des Festivals eine Baumwollpuppe verbrennen – gemäß einem DDS-Funktionär ein gängiges Mittel der politischen Meinungsäußerung. Wie viele Organisationen in Indien orientiert sich auch DDS am gandhianischen Konzept der Gewaltfreiheit. In diesem Sinn werden auch die Kinder in den DDS-Schulen erzogen. Der Unterrichtsstoff wird dort immer mit Bezug zur landwirtschaftlichen Praxis vermittelt, um die Verbindung der jungen Menschen mit dem Land zu stärken. Vom Leben auf dem Land handeln auch die Sendungen, die das DDS-Community-Radio täglich von 19 bis 21 Uhr sendet – zu einer Zeit, wenn die Frauen nach der Arbeit zu Hause das Essen zubereiten. Vor allem für Analphabetinnen ist das Radio eine wichtige Informationsquelle. Um die Frequenz gab es einen jahrelangen juristischen Kampf. Während des Prozesses zeichnete die Radio-Gruppe bereits Sendungen mit einem Kassettenrekorder auf und spielte sie auf den Dörfern öffentlich ab. Vor 18 Jahren dann sprach ihnen das Gericht – als erstem Community-Radio Indiens – eine Lizenz zu. Die in den verschiedenen lokalen Dialekten ausgestrahlten Sendungen drehen sich um Landwirtschaft und Saatgut, um Pflanzen, Kräuter und Rezepte. Auch lokale Neuigkeiten und ein Kinderprogramm sind enthalten, und wöchentlich gibt es eine Sendung aus einem der Dörfer, in denen DDS aktiv ist. Am beliebtesten sind die Lieder, die auch im Alltag zu vielen Anlässen gesungen werden. Zehn Minuten täglich stehen für die Hörerinnen zur Verfügung; dann können sie ein Feedback zu den Sendungen geben oder eigene Angebote oder Gesuche ansagen. Die Radiostation trägt die laufenden Kosten für drei Mitarbeiterinnen, Technik und Räume selbst – ganz im Sinn der Autonomie, die sich auch in den Inhalten widerspiegelt. 3000 Frauen bezahlen jedes Jahr jeweils 50 Rupien (etwa 70 Euro-Cent) für ihr Radio. •
Elisabeth Voß (60) publiziert, unterrichtet und berät zu Selbstorganisation und alternativem Wirtschaften. Sie verfasste den »Wegweiser Solidarische Ökonomie«. www.voss.solioeko.de.