Gemeinschaft

Ein soziales Dorf in Berlin

Wolfram Nolte sprach mit Gabi Stief und Orsola Raki über die Genossenschaft »Gemeinschaftlich Wohnen im Modellprojekt Möckernkiez«.von Wolfram Nolte, Orsola Raki, Gabi Stief, erschienen in Ausgabe #5/2010
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Das »Möki« ist nicht zuletzt wegen seiner Größenordnung ein besonderes Bauvorhaben. Auf drei Hektar Fläche sollen 385 Wohnungen sowie Gemeinschaftsräume und Gewerbeflächen errichtet werden: ein offener und bunter Lebensraum, ökologisch und barrierefrei gebaut, familien- und kindergerecht, den gemeinschaftlichen und interkulturellen Austausch fördernd. Ein wichtiger Aspekt ist auch das selbstbestimmte Wohnen im Alter.

 

Wolfram Nolte: Hallo Gabi und Orsola, Sie beide sind Mitglieder der Genossenschaft Möckernkiez, die sich besonders für das gemeinschaftliche Wohnen engagiert. Was ist eigentlich so toll am gemeinschaftlichen Leben?

Gabi Stief Schon lange spüre ich den Wunsch nach Veränderung in meinem Single-Dasein. Vor allem möchte ich gerade im Alter, ich bin jetzt 62, auf Kontakt und Austausch nicht verzichten. Ich möchte die Schritte, die die dritte Lebensphase mit sich bringt, mit anderen teilen – sei es als gemeinsame Erfahrung mit Menschen meiner Generation, sei es als unbekannte Per-spektive mit Jüngeren. Aber ich möchte auch ein selbstbestimmtes Leben führen und deshalb nicht ins Heim gehen.
Ich habe sechseinhalb Jahre WG-Erfahrung in positiver Erinnerung: als Bereicherung trotz – oder auch wegen? – aller Probleme und Streitigkeiten.

Orsola Raki Die Perspektive des gemeinschaftlichen Wohnens bedeutet heute für mich – auch ich bin über 60 – eine willkommene Rückkehr in die Vergangenheit, zu bereits erlebten Erfahrungen in einem -Harzer Schullandheim und dem Berliner Studentendorf. Dann habe ich 30 Jahre lang in Gemeinschaftswohnungen in Rom und Berlin gelebt. Die Antennen für gemeinschaftliches Wohnen waren also schon gerichtet, als im letzten Jahrzehnt endlich auch viele andere Menschen hierzulande Wohnformen dieser Art zu suchen begannen.

WN Sie haben lange nach »Ihrem Projekt« gesucht. Wie sehen Sie diese Zeit heute?

GS 2004 gab es in der Berliner Ufa-Fabrik eine große Informationsveranstaltung zum Thema »Gemeinschaftlich Wohnen«, wo Helga Brendel, eine der beeindruckend Aktiven hier, monatliche Treffen zum Thema anbot. Daraus entwickelte sich 2005 die Gruppe »Soziales Dorf Berlin V. i. Gr.«, der ich mich anschloss. Wir waren fast alle jenseits der 55, viele Singles, mit dem Wunsch nach gemeinschaftlichem Leben im Alter. Mit unserem Vorstand versuchten wir zunächst, mit einem Investor das Gelände eines ehemaligen Krankenhauses zu bekommen. Als das nicht gelang, beschlossen wir – mit der Sturheit des Alters! – weiterzusuchen, und schauten uns im Verlauf von vier Jahren verschiedene Immobilien an. Auch wenn keine davon unsere wurde, so erlebte ich diese Zeit dennoch nicht als vergeudet.
Unsere Wünsche wurden uns klarer. Als sich dann 2009 die Chance bot, in die neu sich gründende Genossenschaft Möckernkiez einzutreten, konnte ich dies, wie viele von uns, vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen als große Chance begreifen.

Was hielt Sie in den vier Jahren des -Suchens zusammen?

GS Der Kontakt intensivierte sich. Wir trafen uns nun neben unseren regulären Sitzungen zu Sachfragen auch monatlich zum Brunch. Wir machten gemeinsame Reisen und lernten uns dadurch besser kennen. Die Freude am Anderen half mir bzw. uns, auf der Suche zu bleiben – nach dem Motto »Das Zusammenleben fängt jetzt an!«
Es war zu merken, dass auch unser Umgang miteinander verständnisvoller wurde. Ich lernte, mitzuteilen, wenn ich mich nicht wohlfühlte und mir ein anderes Verhalten wünschte, und mir wurde schneller bewusst, wenn ich zu bestimmerisch wurde.

OR Ja, auch für mich ist die lange Suche keine vertane Zeit gewesen. Das Miteinander war informativ und oft anregend. Und menschlich immer wieder überraschend sympathisch: Man blieb nicht allein im Krankheitsfall oder in anderen Notlagen. In dieser Vorlaufzeit ist schon viel Gemeinschaftliches entstanden, trotz der räumlichen Distanz. Ein unterstützendes Miteinander zwischen Menschen, die sich bis dahin meist nicht gekannt hatten.

WN Das Grundstück ist gekauft, jetzt geht es an den Aufbau. Wie beteiligen Sie sich daran?

OR Einige aus unserem bisherigen Verein sind beim Werben und Informieren neuer Mitglieder sehr engagiert. Wir selber waren auf vielen Genossenschaftsversammlungen und haben uns an Planungsworkshops beteiligt. Wir fanden, dass es dort offen und relativ demokratisch ablief und dass es guten Kontakt gab. Aber unser Engagement blieb bisher punktuell und muss sich wohl noch vertiefen.

WN Die »taz« titelte im Juli zum Möckernkiez: »Das Paradies gibt’s nicht für Kleingeld«. Was müssen Sie an kleinem oder großem Geld aufbringen, um im Möckernkiez wohnen zu können?

GS Ich kann mir nur eine Wohnung von rund 40 qm leisten – der zu zahlende Eigenanteil beträgt 600 Euro/qm Das Ersparte wird dabei ziemlich aufgebraucht, aber das ist es mir wert. Wegen der Kreditabzahlung wird die Miete ziemlich hoch sein, ich rechne mit etwa 10 Euro/qm. Aber das müsste ich bei anderen Neubau-Wohnprojekten in dieser Stadt auch aufbringen.

OR Meine Situation ist nicht so einfach. Aber es gibt ja in der Genossenschaft eine »AG Solidarische Finanzierung«, wo ich hoffentlich einiges klären kann.

WN Sie blicken offenbar voller Optimismus in Ihre Zukunft im Möckernkiez. Gibt es auch etwas, was Ihnen Sorge macht?

GS Es wird Konflikte geben in der Gemeinschaft, z. B. zu Themen wie Lärm und Ruhe oder Pflicht und Freiwilligkeit. Vielleicht kommt Unmut auf, weil einige mehr Geld haben und sich schönere Wohnungen leisten können. Mein Wunsch ist, dass wir achtsam miteinander kommunizieren. Ob wir das schaffen bzw. lernen, kann nur die Praxis zeigen. Auch Konflikte mit dem Umfeld sind möglich. Da wir vom Konzept her offen sein wollen für die Nachbarschaft, frage ich mich – als ängstlicher Typ –, ob wir nicht auch Anziehungspunkt für Stadtstreicher oder zornige Jugendliche werden. Aber da können wir vielleicht das Prinzip einführen: Wer auf unser Gelände kommt, soll etwas Positives mitbringen: im Garten helfen, Breakdance vorführen …

WN Gibt es Erwartungen und Wünsche …?

GS Dass sich die positiven Erfahrungen im Miteinander der letzten Jahre fortsetzen mögen. Vor allem Kontakt, Gespräche, Anteilnahme, gemeinsames Kochen und andere gemeinsame Unternehmungen. Aber alles soll freiwillig sein, jede/r gibt nur, was er/sie geben mag. Meine persönliche Haltung ist: Ich äußere meine Wünsche, und die/der Andere sagt ehrlich Ja oder Nein. Bei einem Nein: Ich vertraue darauf, dass sich eine andere gute Lösung findet.
Wichtig ist mir auch das Teilen von dem, was die eine oder der andere weiß, macht, gut kann. So würde ich gerne »Mütterverwöhnstunden« anbieten. Die Mütter unter uns waren bzw. sind so viel für andere da. Eine Stunde lang dürfen sie mal Wünsche äußern und sich bedienen lassen. Da ich selber nicht Mutter bin, habe ich dazu große Lust. Als ehemalige Lehrerin würde ich auch gerne Austausch-Stunden für Eltern lernender Kinder anbieten, mit Tipps zum Vokabellernen, Infos zu Lerntypen etc.

OR Ich bin neugierig, wie es uns gelingt, Fragen des gemeinschaftlichen Lebens basisdemokratisch zu besprechen und zu entscheiden. Ich wünsche mir eine Praxis umfassender Mitbestimmung und dass wir immer wieder gemeinsam kreative Lösungen finden.

WN Herzlichen Dank für das Gespräch!  


Gabi Stief (62), ehemals Lehrerin, jetzt im Ruhestand, liebt freies Tanzen. 

Orsola Raki (Ende 60), Politikwissenschaftlerin, Publizistin, Dozentin für Italienisch; -interessiert sich besonders für »Demokratie im Alltag«.

Das Modellprojekt Moeckernkiez im Internet
www.moeckernkiez.de, www.wohnportal-berlin.de

www.stattbau.de (Abteilung Netzwerk Generationenwohnen)

www.fgwa.de (Forum gemeinschaftliches Wohnen – bundesweit)

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