Die meisten Oya-Leserinnen und -Leser dürften der Meinung sein, dass Kinder auf Bäumen viel besser aufgehoben sind als beim Videospiel. Dass Kinder Abenteuer in der Natur brauchen und Zeit, in und mit ihr zu spielen, ohne kontrollierende Erwachsene, die einen von Termin zu Termin hetzen. Ist es also überflüssig, hier das neue Buch von Andreas Weber zu empfehlen? Aber nein. In »Mehr Matsch!« steckt viel mehr als ein Ratgeber für Eltern oder Pädagogen. Warum sind Kinder derart fasziniert von allem, was kreucht und fleucht und wächst? Warum gehört es zu ihren Lieblingsspielen, sich in wilde und zahme Tiere zu verwandeln? Das sind Leitfragen des Autors, und er beantwortet sie als Philosoph ganz anders als die konventionelle Entwicklungspsychologie. Diese sieht in der Faszination der Kinder für Natur etwas Unreifes, einen kindlichen Animismus, der auf dem Weg zu einem freien Kulturwesen abgelegt werden müsse. Nein, meint Weber: Die Erfahrungen und die Identifikation mit Natur sind bedeutsam, weil sich Kinder so als fühlende Wesen in einer Welt voller anderer fühlender Wesen begreifen lernen. Das abendländische Vorurteil von der Natur als ein zu beherrschendes Ungeheuer spiegele sich in der verbreiteten Angst vor der unmittelbaren kindlichen Lebendigkeit und der fixen Idee, Kinder seien »von Natur aus« egoistisch, sie müssten erst zu mitfühlenden Menschen erzogen werden. Aber die Natur ist nicht das Böse, sondern schlicht die Welt, die Körper und Geist ernährt. Es gehört zu den schönsten Erinnerungen, irgendwo allein in der Natur das Leben in sich einzusaugen, sich in der Welt zu verlieren und zugleich voll Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu sein. Diese Perspektive ist entscheidend, sie stellt alles vom Kopf auf die Füße. Zum Beispiel erscheint das Spielen der Kinder dann nicht mehr als Vorbereitung für den Ernst des Lebens, sondern das Spiel ist das Eigentliche, worum es im Leben geht. Kind sein bedeutet, leuchtend lebendig sein, schreibt Weber, und dieses Leuchten spricht aus den vielen wunderbaren Geschichten, die er über sich und seine beiden Kinder Max und Emma in allen Kapiteln des Buchs erzählt. Kein Wunder, dass Webers Kritik an der Schule radikal ausfällt. Wie müsste eine Schule gestaltet sein, die nicht auf Lernerfolge und objektivierbare Tatsachen einer zu verwertenden Welt zielt, sondern auf sinnliche Erfahrung, die Entfaltung von Subjektivität und auf unmittelbares Lebensglück? Schule müsste »Leben vertiefen«, schreibt Weber, und genau das könnte doch ein zukunftsweisendes, gesamtgesellschaftliches Ziel sein: das Leben vertiefen. Spätestens jetzt ist wohl klar, warum »Mehr Matsch!« unbedingt zur Lektüre empfohlen sei: Das Buch ist ein leidenschaftliches, poetisches und kluges Plädoyer für einen Kulturwandel – für den beherzten Sprung in die Lebendigkeit dieser Welt.
Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur. Andreas Weber Ullstein Verlag, 2011, 256 Seiten ISBN 978-3550088179 18,00 Euro