Titelthema

Die Heugabe

­Haufenweise geschenktes Heu erinnert Lara Mallien an die informelle Ökonomie des Alltags: nachbarschaftliche Solidarität, wie sie seit Jahrhunderten unter Kleinbäuerinnen üblich ist.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #34/2015
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Als ich zum Hörer greife, habe ich ein mulmiges Gefühl. Mit ­Familie B. hatten wir bislang kaum Kontakt. Vor Jahren waren wir sogar mal wegen einer Sache, an der wir unbeteiligt waren, in Sippenhaft geraten. Kann ich so ein Angebot annehmen, obwohl ich Frau B. noch nie »Guten Tag« gesagt habe? Am Telefon klingt Frau B. freundlich. Ich schöpfe Zuversicht, dass es in Ordnung sein würde, wenn ich morgen mit dem Pritschenwagen vorbeikäme. Aus irgendeinem Grund bitte ich nicht – wie sonst – die starken, jungen Leute in meiner Gemeinschaft, mir zu helfen, sondern meine 62-jährige Mutter. Auf Frau B.s Hof empfängt uns Stille. Erst nachdrückliches Klopfen lässt einen kleinen Hund kläffen, eine alte Dame öffnet die Tür. »Habt ihr Forken dabei?«, will sie wissen.
Bevor wir unsere Schubkarre abgeladen haben, steht sie schon mit einer Heugabel in der Hand vor uns, die Zinken zeigen gen Himmel, über ihrem Kopf schwebt eine Wolke Heu, fast doppelt so groß wie sie selbst. Ich lasse die Karre stehen und mache es ihr nach: Die Schwade, in der das Heu liegt, von hinten her ein paarmal zusammenrollen, dann schwungvoll in den entstandenen Haufen stechen, und mutig über den Kopf damit! Es ist das erste Mal, dass ich nach 18 Jahren Landleben in Vorpommern diese Bewegung ausführe, und mich durchfährt ein eigenartiges Glück darüber, sie von Frau B. lernen zu dürfen. Meine Mutter bleibt lieber beim Schubkarren. Er eignet sich besonders gut dafür, die Reste, die nach der Arbeit mit der Forke auf der Wiese liegengeblieben sind, abzutransportieren. »Alles schön zusammenharken, im Winter findest du nichts mehr – das hat mir schon meine Oma gesagt«, ermahnt uns Frau B. Wir fragen nach ihrem Alter: 82 Jahre. Ich schaue ihr nach, wie sie mit der nächsten Heuladung über dem Kopf davonstapft. Ich sehe meine Mutter, wie sie mit beiden Armen in einen Heuhaufen greift. Drei Frauen mit Altersabstand von jeweils genau 20 Jahren arbeiten auf dieser kleinen Wiese in der Augustsonne. Zwischen uns beginnt etwas zu schwingen, das ich gut kenne und doch so oft wieder vergesse – die Frequenz der Ökonomie der Gabe.
»Acht Tage muss das Heu liegen«, erklärt uns Frau B. »Einmal hat es Regen gekriegt, da war abends Gewitter, aber vorher habe ich Haufen gemacht. So geht das mit den Haufen: Eine Lage kreuz, die nächste quer.« Sie demonstriert den Aufbau anhand kleiner Heubüschel, die sie mit der Harke von der Wiese holt. »Wenn der Regen auf solche Haufen fällt, wird nur die Oberfläche nass, der Rest läuft ab.« Wer hat das Heu früher bekommen? »Unser Pferd. Ich habe es abgegeben, weil mein Mann im Frühjahr verstorben ist. 60 Jahre waren wir verheiratet! Es ist schwer, jetzt allein zu sein.« Ihre Stimme wird brüchig, und sollte noch irgendein Rest Eis zwischen uns gewesen sein – es ist geschmolzen. Frau B. erzählt von ihrem Mann, vom Vier-Felder-System, nach dem auf ihrem kleinen Hof seit Jahrzehnten gewirtschaftet wird, vom Holz, das sie jeden Morgen hackt, um den Ofen zu heizen. »So habe ich wenigstens Beschäftigung!« Als wir uns verabschieden, erwähnt sie ihre Flucht aus Hinterpommern als Kind. Leider müssen wir los, aber wir versprechen, wiederzukommen, um die Geschichte zu hören. Wir werden Brombeermarmelade mitbringen, die hat sie ­besonders gerne. Meine Frage, ob wir ihr für das Heu Geld geben dürfen – nur der Form halber vorgetragen – lehnt die Bauersfrau ab. Was wir einander geben, hat nichts mit Tausch zu tun. Wir bewegen uns in der kleinbäuerlichen Ökonomie der Gabe, wie sie die Menschen auf dem Land seit Ewigkeiten praktizieren. Mit wohltätigen Geschenken hat sie nichts zu tun, vielmehr mit dem selbstverständlichen Fluss der Dinge: Hier zu viel Heu, dort zu wenig. Hier Fragen, dort Erfahrung – und schon fließt es, ohne Berechnung, ohne großes Nachdenken. Oft höre ich den skeptischen Einwand, eine Ökonomie der Gabe funktioniere nur unter Freunden, die einander vollkommen vertrauten. Das stimmt nicht, Frau B. bewies mir soeben das Gegenteil: Es funktioniert selbst unter Fremden, wenn es Teil der gemeinsamen Lebenspraxis und der Kultur ist. •

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