In Wiesbaden probt das »Kiezkaufhaus« einen regionalen Online-Versand.
von Mara Pitz, erschienen in Ausgabe #34/2015
Dirk Vielmeyer ist Radler aus Leidenschaft – und auffällig. Wenn er in der Wiesbadener Innenstadt unterwegs ist, bleiben die Leute stehen und schauen ihm hinterher. Es ist ein sonniger Freitagnachmittag, und der 47-Jährige fährt auf einem Elektro-Lastenrad durch die Straßen. Vorne auf der Transportkiste steht in großen Lettern »Kiezkaufhaus«. Vielmeyer ist einer von neun Fahrerinnen und Fahrern des neugegündeten Wiesbadener Unternehmens, dessen Motto ebenfalls auf dem Rad steht: »lokal liefern lassen«.
Das Kiezkaufhaus, seit April 2015 auf Achse, will eine lokale Alternative zu anderen Versandhändlern sein. Kunden bestellen online aus einem Sortiment von mehr als 20 Einzelhändlern der Stadt. Fahrer holen die Produkte anschließend mit dem Lastenrad in den Geschäften ab – und bringen sie den Kunden nach Hause oder an den Arbeitsplatz. Bezahlt wird an der Haustür, in bar oder mit Karte. Wer bis 14 Uhr bestellt, kann seine Ware noch am gleichen Tag in Empfang nehmen. Per Mail werden die Bestellungen an die Händler verschickt, die dann die Artikel zusammenpacken. Wenn Fahrer Dirk Vielmeyer gegen 15 Uhr ins Backhaus Bürger kommt, stehen die Brote, Baguettes und Brötchen für ihn auf dem Tresen – eingepackt in Papiertüten. Viele Regale in dem kleinen Verkaufsraum sind dagegen schon leer. »Hier wird noch jeden Tag frisch gebacken«, sagt Vielmeyer, »und zwar so, dass möglichst nichts im Müll landet.« Weil die Kunden die Qualität schätzen, kommen sie so früh wie möglich. Seit mehr als 75 Jahren besteht die Bäckerei – und ist in dritter Generation in Familienhand. Dass die Geschäfte inhabergeführt und in Wiesbaden verwurzelt sind, ist für das Kiezkaufhaus entscheidend. »Es müssen Läden sein, um die man traurig wäre, wenn es sie nicht mehr gäbe«, betont Dirk Vielmeyer. Aber wie lokal sind die Produkte, die es dort gibt? »Unser Haushaltswarenhändler bezieht selbstverständlich nicht alles aus der Region«, räumt der Fahrer ein. Trotzdem: »Besser, die Leute kaufen diese Sachen beim Traditionsladen als bei der Baumarktkette auf der grünen Wiese.« Das Kiezkaufhaus hat ziemlich alles im Angebot, was mensch täglich und zu besonderen Anlässen braucht: Lebensmittel können bei zwei Bioläden bestellt werden, Käse gibt es vom Fachhändler. Ein Florist ist dabei, es gibt einen Schreibwarenladen, einen Weinhändler sowie eine Marmeladen- und Senfmanufaktur, die ihre Produkte einmal pro Woche in kleinen Chargen herstellt. Ein Buchladen macht mit, auch ein Schokoladenhändler und ein Gewürzgeschäft. Auf Vielmeyers Liste stehen heute acht Geschäfte. Für ihn, der »eigentlich Projektmanager« ist, ist das Radeln beim Kiezkaufhaus mehr als ein Job. Der gebürtige Bielefelder engagiert sich in Sachen Verkehrswende und ist Mitgründer der Bürgerinitiative »Wiesbaden im Wandel«. Dass er als Kiezkaufhaus-Fahrer aushilft, sieht er als politischen Beitrag gegen die vielen Autos. »Wiesbaden ist die fahrradunfreundlichste deutsche Stadt«, erklärt er. Das habe eine aktuelle Umfrage des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ergeben. »Wir wollen zeigen, dass es auch anders geht.« Wohl nicht alle der neun Kiezkaufhaus-Fahrer sind mit so viel Sendungsbewusstsein unterwegs. »Begeisterte Radfahrer sind sie aber alle«, fasst Vielmeyer zusammen. Die Jüngste ist Lisa Post, 18-jährige Schülerin; der älteste, Hubert Erndt, ist um die 70. Sie alle verdienen mit dem Mini-Job ein paar Euro dazu.
Von der Werbeagentur zum Lastenrad »Mittlerweile haben wir ein bunt gemischtes Team«, sagt Nanna Beyer. Die 37-jährige Designerin leitet das Kiezkaufhaus-Team, das eingebettet ist in die Werbeagentur Scholz & Volkmer. Seit etwa sieben Jahren hat die Agentur einen Schwerpunkt auf die Entwicklung nachhaltiger Unternehmensstrategien gelegt. In erster Linie entwickelt sie Internetseiten für große Kunden wie die Deutsche Bahn. Die Idee für das Kiezkaufhaus entstand während eines Brainstormings im Dezember 2013, erinnert sich Michael Volkmer, Gründer und Inhaber der Agentur. »In unserem Empfangsraum stapelten sich die Amazon-Pakete« – Weihnachtsgeschenke, die sich viele der rund 150 Mitarbeiter in die Agentur hatten liefern lassen. Dieser Berg von Päckchen führte dem Team vor Augen, wie allgegenwärtig der Versandhausriese ist. »Es kann nicht sein, dass wir das unterstützen, nur, weil es bequem ist«, dachten sie sich. Der Ansatz, einen Lieferservice mit dem gleichen Komfort – aber nachhaltig und mit lokalen Anbietern – ins Leben zu rufen, war geboren. Über eine Kooperation der Agentur mit der »Hochschule RheinMain« stießen 2014 die Kommunikationsdesigner Gloria Kison und Tobias Heinemann dazu. Sie beschäftigten sich in ihrer Bachelorarbeit mit der Frage, wie ein sinnvoller lokaler Lieferservice aussehen könnte. Nach ihrem Abschluss heuerten sie bei Scholz & Volkmer an – und kümmern sich heute darum, dass die Abläufe rund um das Onlineportal funktionieren. Koordiniert wird das Kiezkaufhausteam von Nanna Beyer. Wichtige Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Will das Team investieren, legt es die Idee Michael Volkmer vor. Er hat das letzte Wort, »denn letztlich ist es sein Geld, das investiert wird«, sagt Nanna Beyer. Noch ist das Projekt Volkmers Einzelfirma, aber sobald es schwarze Zahlen schreibt, wird es in eine Genossenschaft umgewandelt.
Schwarze Zahlen in Sicht Nächster Halt auf Dirk Vielmeyers Tour: »Der Hofladen«. Für Alexandra Jung, die Inhaberin des Biogeschäfts mit Vollsortiment, kam das Kiezkaufhaus wie gerufen. »Wir hatten schon selbst über einen Lieferservice nachgedacht«, berichtet sie, »weil die Kunden so oft danach fragen.« Aber als kleine Unternehmerin, die den Laden mit einer Handvoll Aushilfen führt, sei das nicht zu stemmen. Jetzt zahlt sie von jeder Bestellung zehn Prozent des Umsatzes an das Kiezkaufhaus. »Das lohnt sich, denn so kann ich Leute ansprechen, die ich sonst nicht erreichen würde.« Besonders für ihre älteren Kunden sei das Angebot attraktiv, sagt Jung, die den Hofladen 2013 übernommen hat. Viele von ihnen kaufen schon seit zwanzig Jahren dort Fleisch, Wurst und Brot vom Hof Fischbach aus dem benachbarten Bad Schwalbach. »Wer mag, kann auch im Laden vorbeikommen und die Sachen später geliefert bekommen.« Rund 400 registrierte Kunden zählt das Kiezkaufhaus knapp ein halbes Jahr nach seinem Start. Die meisten bestellen alle 14 Tage, sagt Nanna Beyer. Bislang werden nur Menschen im Zentrum Wiesbadens beliefert – aber es gibt Pläne, künftig auch andere Stadtteile anzufahren. Täglich gehen zwischen zehn und fünfzehn Bestellungen ein – etwa vierzig müssten es sein, damit sich das Projekt trägt. Die Macherinnen und Macher rechnen damit frühestens im kommenden Jahr. Sie möchten ein ermutigendes Vorbild sein. Gespräche mit Interessierten, die ebenfalls ein Kiezkaufhaus aufbauen wollen, werden laut Michael Volkmer bereits geführt – etwa mit der Marketingabteilung einer deutschen Großstadt, die ungenannt bleiben soll. Dass Kommunen sich für das Konzept interessierten, liege auf der Hand: »Es schützt traditionelle Einzelhändler, erhält das Stadtbild und sichert der Kommune Einnahmen durch Gewerbesteuer.« Die Marke »Kiezkaufhaus« soll zur freien Verwendung an Nacheiferer weitergeben werden – gegen eine »kleine Nutzungsgebühr für die Software, um die Plattform zu erhalten«, erklärt Nanna Beyer. Vielleicht gibt es bald in jeder deutschen Stadt ein Kiezkaufhaus? Michael Volkmer betont: »Ohne Teilhabe großer Handelsketten. Wer so etwas aufziehen will, soll sich einfach bei uns melden.« Voraussetzung sei, dass sich die Leute in ihrer Stadt gut auskennen – und, noch wichtiger, »dass sie mit Herzblut dabei sind.« •
Mara Pitz (33) studierte Sozialpädagogik, Germanistik und Politik. Sie arbeitet als Redakteurin und bloggt unter: www.marasvilla.com.