Ein Dorf in der Stadt
Der »Lindentaler« will mehr sein als eine Regionalwährung. In Leipzig basiert, aber deutschlandweit wirksam, fördert er Leihen, Tauschen und Schenken.
Im Jahr 2005 war eine verheerende Hurrikan-Saison über Guatemala hereingebrochen. Schlammlawinen hatten die Felder der Kaffeeplantagen rund um den Lago de Atitlán im Westen des Landes verwüstet. Bei der Bauernkooperative AMNSI stand der Schlamm kniehoch in der Verarbeitungshalle für die Kaffeebohnen. AMNSI, gegründet 1999, steht für »Asociación Maya Nuevo Sembrador Integral« – »Vereinigung der neuen organisch arbeitenden Maya-Landwirte«. Ihre Mitglieder sind ehemalige Guerilla-Kämpfer aus dem 30-jährigen Bürgerkrieg in Guatemala, der einem Völkermord an den Maya gleichkam. Als sich Ende der 90er Jahre die Situation beruhigt hatte, entschieden sie sich, ihre Ideale nicht mehr als Kämpfer, sondern als solidarisch und ökologisch wirtschaftende Bauern zu leben.
Zwei Jahre nach den Verwüstungen brachte eine kleine Gruppe von Studierenden der Politikwissenschaft im Rahmen eines entwicklungspolitischen Austauschs eine Berliner Schulklasse zu AMNSI. Noch immer galt es, vor Ort die Sturmschäden zu beseitigen. Die Schülerinnen und Schüler fassten mit an und erfuhren, wie schwierig es ist, faire Preise für die Ernte zu erzielen. Der Handel liegt in der Hand von »Coyotes« – Zwischenhändlern, die die Preise diktieren. Würde sich ein Weg finden lassen, die Ernte der Kooperative direkt zu vermarkten? Das fragten sich die Organisatoren des Schüleraustauschs und packten ihre Rucksäcke voller Bohnen. So begann der Kaffeeimport des Kollektivs, das sich heute »FairBindung« nennt und damals ein loser Zusammenschluss von in der Bildungsarbeit engagierten Freunden war.
Die Geschichte hat Robin schon oft erzählt, aber Johannes Heimrath und ich hören sie zum ersten Mal, als wir in der Berliner »thinkfarm« mit ihm sowie Nele und Luis – zwei weiteren Mitgliedern von FairBindung – in gemütlicher Runde sitzen. Wir fragen nach dem Zwiespalt, der FairBindung seit Jahren begleitet: »Warum ist dieses Beispiel-Projekt für solidarischen Handel ausgerechnet der Kaffeeimport, wo doch die Bohnen ein kolonialistisch geprägtes Luxusgut sind?« Geröstet wird Kaffee nur in den reichen Ländern des Nordens, im Süden existiert die entsprechende Technik dafür nicht, erfahren wir von Nele, die seit drei Jahren bei FairBindung vor allem Workshops an Schulen gibt. »Das sind heute noch wirksame koloniale Strukturen. Das Rohprodukt wird nach Europa importiert, so dass hier der Gewinn anfällt oder vor Ort von riesigen Firmen aufgekauft und verarbeitet. Wir suchten und suchen weiterhin eine Alternative«
Die ersten AMNSI-Kaffeebohnen, die 2007 im Rucksack nach Deutschland kamen, hatten aufgrund des Notstands noch nicht einmal den ersten Schälvorgang hinter sich. So pulten die künftigen Kaffee-importeure zu Hause mühselig mit Küchenmessern die Bohnen einzeln aus der Schale. Der Aufwand wurde belohnt, denn die Rösterei war von der Qualität der Bohnen begeistert.
Ein Kollektiv und acht Tonnen Kaffee
»So sind wir ganz laienhaft in den Kaffeeimport gerutscht«, erzählt Robin. »Im nächsten Jahr wurden 500 Kilogramm bei den AMNSI-Bauern bestellt, und weil der Verkauf im Freundeskreis so gut lief, hieß es ein Jahr später: Wir nehmen euch die ganze Ernte ab! Das waren sechs Tonnen. Damals lief alles noch auf private Rechnung. Ich war noch nicht dabei; erst 2009, im Jahr der Vereinsgründung, bin ich eingestiegen. Der Verein hatte von Anfang an zwei Standbeine: mit jungen Menschen zu komplexen globalen Fragen wie Demokratie oder Postwachstum zu arbeiten und die Kooperation mit Guatemala nach dem Motto ›Wir machen Welthandel selbst, erproben Alternativen zum derzeitigen kapitalistischen Wirtschaftssystem und nutzen unserer Erfahrungen auch um sie in der Bildungsarbeit einzufügen‹.«
Letzteres gilt auch für die interne Struktur. Alternativen werden auch in der Vereinsstruktur gelebt. Der Verein hat zwar formell einen Vorstand, aber sein Kollektivstatut sagt, dass nur im Konsens entschieden wird. Es schreibt auch fest, dass alle gemeinsam für die Kredite haften, die für die Vorfinanzierung des Kaffeeimports notwendig waren und die der Verein immer noch abbezahlt.
Welthandel selbermachen – was heißt das? Für sechs Tonnen Kaffeebohnen musste ein Container her – also auch ein Containerschiff, Zollpapiere, ein Lager, Verpackung, Vertriebswege. »Wichtig war uns, dass die Bauern selbst bestimmen konnten, was ihnen ihr Kaffee wert ist«, betont Robin. Das ist noch heute so. Für die Kommunikation mit den Bauern ist derzeit Luis zuständig. »Dieses Jahr haben wir mit anderen Fair-Trade-Importeuren ein Treffen mit elf Kooperativen, darunter auch AMNSI, in Nicaragua organisiert«, erzählt er. »Da konnten wir gemeinsam fragen: Was bedeutet Solidarität? Es ist nicht einfach, auf Augenhöhe mit den Kooperativen zu kommen, weil wir im Norden diejenigen sind, die das Geld haben, um den Kaffee zu kaufen – das ist eine Machtstruktur. Sie lässt sich nur im unmittelbaren Austausch auflösen.« Nele ergänzt: »Wir kaufen die Ernte, bevor wir sie sehen. Das ist ein Unterschied zum normalen fairen Handel. Erst so bilden wir mit AMNSI eine Risikogemeinschaft.«
Tonnenweise Kaffee lässt sich nicht allein durch ehrenamtliches Engagement vertreiben. Robin war einer der ersten, der bei FairBindung eine halbe Stelle bekam. Das Zusammenspiel von Ehrenamtlern und Angestellten brachte Spannungen. »Ich musste lernen, mit dem Druck umzugehen, den ich mir selbst machte – aus dem Gefühl heraus: Das Kollektiv hat mir ermöglicht, Geld zu verdienen, und ich muss jetzt dafür sorgen, dass alles möglichst gut vorangeht! Das Schöne war, dass ich bei Engpässen immer genügend Leute zusammenrufen konnte. Oft haben wir stundenlang im Büro gesessen und Kaffeetüten mit selbstbedruckten Etiketten beklebt«, erinnert sich Robin. »Solche Handarbeit schweißt zusammen.«
Heute hat das Kollektiv 18 Mitglieder. Manche können sich nur zwei Stunden in der Woche für das Projekt einsetzen, andere 30 Stunden. Dabei den Überblick über alle Abläufe und Verantwortlichkeiten zu behalten und mit der Arbeitsbelastung umzugehen, scheint anspruchsvoll zu sein. »Wenn ich als Angestellter eines normalen Betriebs überlastet bin, kann ich mich an eine Personalabteilung wenden«, erklärt Robin. »Wir hatten so etwas zuerst nicht, und so nahm zeitweise das Gefühl von Selbstausbeutung überhand. Inzwischen gibt es eine ehrenamtliche ›Personalabteilung‹ – eine kleine Gruppe, die bei Schwierigkeiten zusammenkommt.«
Das Feuer bleibt lebendig
Was entscheide ich selbst, was gehört ins Plenum? Wieviel Zeit kann ich einsetzen? Solche Fragen machen die Arbeit in Kollektiven herausfordernd. Trotzdem scheinen hier alle mit der Struktur an sich glücklich zu sein. »Ich lerne hier sehr viel«, meint Luis. »Lange Diskussionen auszuhalten, ist für mich nicht einfach, aber in unseren Plenen treffen wir immer wieder gute Entscheidungen. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas Sinnvolles beitrage.« Nele genießt die Diversität der Gruppe. Sie mag es, wenn der Ex-Immobilienmakler Luis pragmatische Überlegungen oder Robin eine herausfordernde, neue Idee einbringt, oder wenn jemand ein Sonderprojekt vorschlägt, wie kürzlich einen Nord-Süd-Austausch mit einer freiwilligen Helferin aus Puerto Rico. Besonders stärkend empfindet sie die Klausurtage, zu denen alle ihre Familien mitbringen, Zeit füreinander haben, am Lagerfeuer sitzen und sich fragen, was ihnen für die gemeinsame Zukunft wichtig ist.
Robin ist heute nicht mehr bei FairBindung angestellt. »Vor einem Jahr dachte ich, dass ich mich bald ganz abnabeln werde, aber irgendetwas lässt mich nicht gehen. Ich habe wieder Feuer gefangen.«
Unser Gespräch enthüllt zunehmend den besonderen Geist von FairBindung. Nele erklärt, dass die Gruppe nur langsam wächst oder sich verändert. »Berlin ist ein kurzlebiger, unverbindlicher Ort. FairBindung hat dagegen Kontinuität, Verlässlichkeit. Jeden Mittwoch kann ich mich mit allen Leuten von FairBindung, die gerade da sein wollen, treffen.« Es ist bezeichnend, dass am Anfang der Initiative eine echte Notsituation stand – es ging um die Zukunft von gut 50 Kleinbauernfamilien und um bedingungslose Unterstützung. Solche Gründungsgeschichten haben eine große Kraft. Sie werden das Kollektiv hoffentlich in eine weiterhin lebendige und abenteuerliche Zukunft begleiten.
Lust auf solidarischen Kaffegenuss?
www.fairbindung.org
Der »Lindentaler« will mehr sein als eine Regionalwährung. In Leipzig basiert, aber deutschlandweit wirksam, fördert er Leihen, Tauschen und Schenken.
Gewächshäuser werden oft mit Tomaten- oder Gurkenanbau gleichgesetzt. Ihr großes Potenzial, die lokale Gemüsesaison in den Winter hinein zu verlängern, wird allgemein unterschätzt.
In einem Netzwerk selbstverwalteter Betriebe gedeiht ein kleines Berliner Druckereikollektiv.