Oya-Autorin Sylvia Buttler und Chefredakteurin Lara Mallien sprachen mit Frauke Frech und Julia Costa Carneiro, Aktivistinnen vom Augsburger »Grandhotel Cosmopolis«, das als soziale Plastik neue Formen des kosmopolitischen Zusammenlebens erprobt.von Lara Mallien, Sylvia Buttler, Frauke Frech, Julia Costa Carneiro, erschienen in Ausgabe #34/2015
Lara Mallien Im »Grandhotel Cosmopolis« wohnen gut 60 Geflüchtete, zugleich wird das Haus von einer Gruppe Kulturschaffender mit Ateliers und Hotelbetrieb belebt. Wie kam beides zusammen?
Frauke Frech Seinen Anfang hat das Projekt im Herbst 2011 genommen, als eine Handvoll befreundeter Künstlerinnen und Künstler auf der Suche nach neuen Wirkungsstätten durch die Stadt gezogen sind. Dabei sind sie auf das heutige Grandhotel-Gebäude gestoßen, ein leerstehendes Altenheim. Es stellte sich heraus, dass es der Diakonie gehört, die dort Geflüchtete unterbringen wollte. Der Glücksfall war, dass einer der Leiter der Diakonie, Fritz Grassmann, erkannte, welche Chance darin liegt, Wohnraum für Geflüchtete und ein Kunstprojekt zu verbinden. Zusammen leben, zusammen eine neue Gesellschaft bilden – das leuchtete ihm ein.
LM Konntet ihr gleich einziehen?
FF Das Haus musste umgebaut werden, erst im Sommer 2013 war der Bereich für die Geflüchteten bezugsfertig. Die Diakonie hat die Kosten für den Umbau vorfinanziert, und die Künstlergruppe hat sehr viel ehrenamtlich am Bau gearbeitet. Etwa die Hälfte des jetzigen Kernteams war damals schon dabei. Diverse Leute in Augsburg haben vom Umbau Wind bekommen und sich eingebracht. Wir haben viele Spenden bekommen – zum Beispiel hat die Firma, die den Fußboden in der Gastwirtschaft verlegt hat, kostenlos gearbeitet.
Julia Costa Carniero Als es darum ging, die Hotelzimmer einzurichten, wurden alle möglichen Künstlerinnnen und Künstler gefragt, ob sie ein Zimmerdesign übernehmen möchten – hiesige aus dem erweiterten Freundeskreis ebenso wie überregionale Leute. Nichts war dabei vorgegeben. Das Material kam durch Aufrufe an die Stadtbevölkerung zusammen. »Wir suchen alte Möbel – bringt uns die schönen Dinge, die ihr nicht mehr braucht!«, war damals der Aufruf. Das hatte gute Resonanz, die Menschen in der Stadt haben sich mehr und mehr für das Projekt interessiert. Sylvia Buttler Wie kam es, dass das Grandhotel von der Nachbarschaft so positiv aufgenommen wurde?
FF Ich glaube, das liegt daran, dass wir uns nie einer bestimmen politischen Richtung untergeordnet, sondern von Anfang an deutlich gemacht haben: Dies ist ein Ort, an dem alle willkommen sind. Wer sich angesprochen fühlte, konnte einfach kommen und mitmachen. In einer Zeit, in der die Menschen in den Städten stark unter Vereinzelung leiden, ist so ein offener Ort etwas sehr Anziehendes. Da ist diese Sehnsucht, sich mit anderen zu verbinden.
SB Frauke, wie bist du denn zum Grandhotel hinzugestoßen?
FF Ich kam von Berlin nach Augsburg, und was ich hier erlebte, hat mich so fasziniert, dass ich im letzten Jahr ganz hergezogen bin. Als ich im Grandhotel ankam, sagten die Macherinnen und Macher zu mir: ›Du musst dir hier selbständig deinen Weg suchen, herausfinden, was du tun willst, und dir die nötigen Sachen und Mitstreiterinnen selbst zusammensuchen.‹ Damit konnte ich loslegen. Ich bin ja Künstlerin und arbeite an einem Langzeitprojekt, das ich »Mein ganz privates Deutschland« nenne. Dabei widme ich mich charakteristischen Orten in Deutschland und arbeite mit der Bevölkerung an unserem Selbstverständnis und Zusammenleben. Die Stimmung und die Ästhetik im Haus haben mich auf Anhieb sehr angesprochen, die alten Möbel bringen etwas Warmes mit. Das Haus kommt mir vor wie ein Körper mit verschiedenen Organen. Da gibt es einerseits die Küche, die Lobby und Ateliers, die gemeinschaftlich genutzt werden, und andererseits private Bereiche wie die Hotelzimmer, Wohnräume von Künstlerinnen und Künstlern sowie die Zimmer der Geflüchteten, die nicht öffentlich sind, sondern wo du nur auf Einladung hingehst. Alle diese Bereiche bilden für sich genommen eine ganz eigene Welt, und sie durchdringen sich, indem alle Beteiligten eigenständig entscheiden, wohin sie gerade gehen wollen oder wie sie sich einbringen.
SB Du bist also von Berlin nach Augsburg gezogen – normalerweise ist es genau umgekehrt! Julia, was hat dich hierhergezogen?
JCC Ich bin für mein Masterstudium der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung nach Augsburg gekommen. Das Mitmachen hier ist auch ein Experiment für mich, partizipative Forschung entsprechend der Situation zu entwickeln und dabei meine eigene Involviertheit im Prozess ernstzunehmen. Ich arbeite schon eine Weile als Sozialpädagogin mit Menschen in Flucht- und Migrationskontexten. Hier im Grandhotel interessiert mich, wie das Zusammenleben von unterschiedlichsten Menschen friedlich gestaltet werden kann. Frauke und ich arbeiten beide intensiv an der Dokumentation und Reflexion der vielen Prozesse hier am Ort – wir nennen das »Gepäckbeförderung«. Uns ist wichtig, in diesem Jahr danach zu fragen, warum die Leute hier sind und mitwirken, und wie verschiedene Perspektiven auf das, was daraus entsteht, zusammenzubringen sind.
SB Habt ihr hier so etwas wie eine Chefin oder einen Chef, eine hauptverantwortliche Person?
JCC Am Anfang gab es eher einzelne Impulsgeber und kaum definierte Verantwortungsbereiche. Das Gebäude war der Rahmen dafür, sich jeden Tag aufs Neue auf Augenhöhe zu begegnen. Dann kamen einige der Leute, die hier unentgeltlich gearbeitet haben, teilweise unter größerer finanzieller Not als die Geflüchteten leiden, und so wurde entschieden, projektbezogene Förderungen zu beantragen und Betriebe wie die Gastwirtschaft und das Hotel weiterzuentwickeln. Es war nötig, an einigen Stellen die Verantwortung zu klären. In diesem Prozess kam die Frage auf, ob durch die Förderung nicht der Laborgedanke des Grandhotels verlorengeht.
FF Wenn es heute weitreichende Entscheidungen zu fällen gibt, wird der Vereinsvorstand gefragt, aber alles Alltägliche entscheiden diejenigen, die damit befasst sind. Wir sind in der Kerngruppe etwa 20 Leute, im weiteren Kreis um die 40, und sporadisch machen wohl um die 100 mit. An die notwendigen Informationen und damit an Kompetenz und Verantwortung kommst du in so einem Zusammenhang nur durch Präsenz: Wer da ist, weiß, was läuft.
LM Haltet ihr auch regelmäßig Versammlungen ab, um all die Aktivitäten zu koordinieren? Ihr macht ja auch große Veranstaltungen, wie Ende Juli die »Grandhotel Cosmopolis Peace Conference«.
FF Einmal in der Woche trifft sich der »Rat der Hoteliers«, um über wichtige Themen zu verhandeln. Er setzt sich aus den jeweils Hauptverantwortlichen in den verschiedenen Arbeitsfeldern zusammen, also aus dem Hotelbetrieb, der Gastronomie, dem Barbetrieb, der Upcyclingwerkstatt, dem Asylbereich – also der Gruppe von Menschen, die die Geflüchteten ehrenamtlich unterstützen – und aus unserem »provisorischen Sanatorium«, wo man Physiotherapie oder psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen kann. Die Gruppe bemüht sich, dass möglichst kontinuierlich immer die gleichen Leute dabei sind, aber sie fluktuiert natürlich auch – je nachdem, wer Zeit hat. Neben dem Rat gibt es noch das monatliche Hausplenum, das für alle offen ist.
LM So eine Plenums- und Ratsstruktur scheint mir eurem Projekt sehr zu entsprechen. Welche Rolle spielt dabei der Vereinsvorstand? Bringt das nicht eine schwierige Machtstruktur hinein?
FF Ja, dass es noch keine klare Legitimation für Entscheidungen des Rats gegenüber dem Vereinsvorstand gibt, wurde immer wieder als Problem benannt. Aber manche Vorstände sind Teil des Rats, und so fließt das in der Praxis ineinander.
SB Viele Gruppen entscheiden im Konsens, diskutieren so lange, bis alle mit einem Entschluss leben können. Wie ist das bei euch?
FF Bei uns ist der Dissens Programm! Ewige Kompromisse würden viel zu viel Energie rauben, davon bin ich überzeugt. Wir leben damit, dass ungemütliche Entscheidungen getroffen werden, auch damit sich das kreative Potenzial einer Person entfalten kann. Oft sagt jemand: »Das übernehme ich!« Auch wenn diese Person nicht die Zustimmung der gesamten Gruppe hat, kann sie ihr Projekt verwirklichen, solange sie einige findet, die ihr Interesse teilen. Es gibt aber auch Themen, die wieder und wieder im Rat gewälzt werden – sie lassen sich nicht schnell entscheiden, sondern haben ihren eigenen Rhythmus, auf den wir uns einlassen müssen.
JCC Wir schaffen uns teilweise selbst die Notwendigkeit, Dinge umzudenken und mit Lösungsansätzen zu experimentieren, auch beim Thema der Wirtschaftlichkeit bzw. der Überlebensfähigkeit des Grandhotels. Wie viel der Künstler bekommt, der ein Objekt in der Upcyclingwerkstatt, die potenziell ein beständiger Wirtschaftsbetrieb fürs Grandhotel werden kann, hergestellt hat – das ist zum Beispiel derzeit nicht generell geregelt, weil wir Zeit und Raum brauchen, um diese Frage in ihrem Ursprung anzugehen und darüber zu sprechen, wie wir einen Wert- oder Energieausgleich schaffen können. Unsere Bar funktioniert nach dem Prinzip »jede zahlt, so viel sie kann«, was sicherlich auch nochmal überdacht wird, wenn wir uns mit der Wirtschaftlichkeit auseinandersetzen. Das genauer anzuschauen, steht zur Zeit dringend an.
SB Wie bringen sich die Geflüchteten in die öffentlichen Bereiche des Grandhotels ein?
JCC Einige wenige kommen von alleine in die Bar oder in die Werkstätten. Für manche scheint es schwierig zu sein, sich in die kaum definierten Arbeitsstrukturen selbstbestimmt einzubringen. Ihre unsichere Lebenssituation fordert, erstmal einen sicheren Raum zu schaffen. Letztlich geht es vielen von uns ähnlich, und der Austausch darüber schafft ein Gefühl für das Gesamte. Es gibt viele Zweifel über passende Formen der Vermittlung. Wir hatten eine Tafel mit unseren Terminen im Haus hängen und dachten: Jetzt wissen alle Bescheid und kommen! Aber die Tafel wurde überhaupt nicht genutzt, sie war nicht das richtige Medium für die Leute.
SB Ja, so etwas stelle ich auch in meiner eigenen Arbeit mit Geflüchteten fest. Unser Denken ist oft noch kolonialistisch geprägt – was wir gut finden, müssen sie noch lange nicht gut finden.
JCC Wir haben einmal im Hausplenum gefragt, ob alle wissen, warum wir uns treffen. Die Antwort einiger Geflüchteter war: »Weil wir hier zusammen essen.« Dass es um die Möglichkeit der Mitbestimmung geht, war vielen nicht klar. Viele kommen eben aus extrem repressiven Systemen; es ist völlig neu für sie, dass sie mitgestalten können.
LM Sind nicht die künstlerischen Projekte eine Chance, zu einem gemeinsamen Zusammenwirken auf Augenhöhe zu kommen?
FF Ich habe als Teil meines Projekts »The Grand Beauty Salon« ins Leben gerufen. Dort erlebe ich genau diesen Effekt. Ich selbst habe eine Leidenschaft dafür, auf das Äußere des Menschen einzuwirken, und ich fand heraus, dass es im Grandhotel erstaunlich viele Expertinnen und Experten in diesem Bereich gibt, auch unter den Geflüchteten. Selbstverständlich sind wir kein offizieller Kosmetiksalon. Interessierte können sich einmal in der Woche mit uns verabreden. Sie müssen mit uns aushandeln, was passieren soll – oft über Sprachbarrieren hinweg. Wir verwenden andere Begriffe als die des Schönheitshandwerks. Ein Haarschnitt heißt bei uns »viel oder wenig Haare lassen«, Make-up »Schokoladenseitensupport«. Dann gibt es noch die »Hand- und Fußlackiererei« und die »Fingerspitzenfeinübertragung« für Kopfmassagen. Das Wichtigste ist, dass wir uns in der Gruppe viel Zeit füreinander nehmen, und auch für die Gäste, die zu uns kommen. Der Grand Beauty Salon ist ein »sicherer Ort«, an dem Vertrauen wachsen kann. Unser Ziel ist die gesellschaftliche Gleichstellung aller Beteiligten.
JCC In diesem Sinn sehe ich das Grandhotel auch nicht als Projekt, sondern wirklich als soziale Plastik. Ich merke es ganz stark an mir selbst, wie die Arbeit hier meine Art zu forschen beeinflusst und mir die Sicherheit entzieht – das ist sehr spannend. Das Gefühl von »Ich weiß Bescheid« ist verlorengegangen, das ist reizvoll.
SB Wir danken euch für dieses interessante Gespräch und wünschen euch weiterhin viel Erfolg! •