Buchtipps

Kommt, Geister (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #34/2015
Photo

Die Frankfurter Poetikdozentur zählt zu den höchsten Weihen des deutschsprachigen Literaturbetriebs. Im Sommersemester 2014 erhielt diese Daniel Kehlmann, dessen fünf Frankfurter Vorlesungen hier gesammelt vorliegen. »Kommt, Geister, die ihr lauscht auf Mordgedanken« lautet die titelgebende Zeile aus »Macbeth«, und ebenso wie Shakespeares Tragödie sind auch diese nichts für Zartbesaitete: Sie handeln von Mord und Totschlag, Verdrängung und Erinnerung und der Entstehung von Literatur in Kriegs- und ­Zwischenkriegszeiten.
Die Vorlesungen beginnen mit einem luziden Psychogramm der deutschen Nachkriegsgesellschaft und deren organisiertem Vergessen, das als Verdrängung zu bezeichnen noch beschönigend wäre. Als personifizierte Vergangenheitsflucht identifiziert der Autor die Filmfiguren Peter Alexanders, die auch unter Auffahrung aller Register nicht verhehlen konnten, welche Abgründe sich in der Gesellschaft der Nachkriegszeit auftaten: Bezeichnender als das, wovon erzählt wurde, ist in diesem Fall das, worüber mit aller Gewalt geschwiegen wurde. Ähnlich vermutete auch Kehlmanns Vorläuferin Ingeborg Bachmann, die 1959 die erste Frankfurter Poetikvorlesung hielt, dass das Ich des Schreibenden dann am stärksten zutage trete, wenn dieser nicht von sich selbst, sondern von etwas ganz anderem erzähle. Daran anknüpfend, wähnt Kehlmann in der literaturtheoretischen Vorlesung die vielleicht persönlichste literarische Form überhaupt. So erfährt man hier kaum etwas über die Schreib­praxis des Autors, dafür umso mehr über die Themen, Geister und Ahnen, die ihn umtreiben und die unsere Gesellschaft mit der Wucht des Verdrängten heimsuchen. Ein Symptom solcher Verdrängung sei das blanke Unverständnis, mit dem die Literaturkritik ihrerzeit den subtilen Geisteraustreibungen Ingeborg Bachmanns oder W. G. Sebalds begegnete.
In fünf Essays verknüpft Kehlmann spielerisch ­Zeiten, Orte und Traditionen, lüpft Schleier des Vergessens und lotet Abgründe, Gipfel und Untiefen auf der literarischen Landkarte aus. Nicht zuletzt gelingt es ihm, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit J. R. R. Tokiens üblicherweise als Fantasy abgetanem Werk zu beginnen. »Kommt, Geister« ist eines der schönsten literarischen Sachbücher der vergangenen Jahre – es sei allen an Literatur und Literaturgeschichte Interessierten wärmstens ans Herz ­gelegt! ◆ MF

Kommt, Geister
Frankfurter Vorlesungen
Daniel Kehlmann
Rowohlt 2015, 176 Seiten
ISBN 978-3498035709
19,95 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #34

Photo
von Jochen Schilk

Die SEKEM-Symphonie (Buchbesprechung)

Vielleicht kennen Sie den Spielfilm »Fitzcarraldo« von 1982, der vom verrückten Unterfangen eines von Klaus Kinski gespielten Mannes handelt, einen Raddampfer von einem Amazonasfluss über einen Berg hinweg in einen anderen Fluss zu überführen. Noch beeindruckender

Photo
Permakulturvon Ulrike Meißner

Die zweite Gartensaison beginnt im August

Gewächshäuser werden oft mit Tomaten- oder Gurkenanbau gleichgesetzt. Ihr großes Potenzial, die lokale Gemüsesaison in den ­Winter hinein zu verlängern, wird all­gemein unterschätzt.

Photo
von Lara Mallien

Aus Hanf spinnt man keine Seide

Aus Hanf spinnt man keine Seide«, ist ein altmodisches Sprichwort. Es will darauf hinweisen, dass der Mensch mit dem jeweils Verfügbaren zufrieden sein soll, auch wenn das ein wenig kratzig sein mag. Dabei tut es dem Hanf unrecht. Wer die Fasern der Winter- und Sommer­ernte

Ausgabe #34
Diesmal: Wirtschaft!

Cover OYA-Ausgabe 34
Neuigkeiten aus der Redaktion