Im Großen und Ganzen besitzt die russische Gesellschaft das, was Transition-Town-Aktivisten in westlichen Kommunen und Regionen anstreben: Resilienz, also die Fähigkeit, größeren Krisen widerstehen zu können. Während der Präsidentschaft Boris Jelzins etwa erhielten viele hunderttausend Staatsangestellte jahrelang keinen oder nur sehr unregelmäßig ausgezahlten Lohn. Dasselbe galt für viele Arbeiter in halbstaatlichen oder privaten Betrieben – doch kaum jemand litt lebensbedrohliche Not, es kam zu keinen größeren Aufständen. Ein Grund hierfür liegt in den vielerorts aus sowjetischen Zeiten übernommenen Versorgungsstrukturen, als die Menschen unter anderem Gesundheitsdienste, Kinderbetreuung, Wohnungen und Energieträger über ihre Betriebe erhielten. Mindestens ebenso wichtig ist die wesentlich ältere Tradition der ergänzenden Familienwirtschaft zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln. Laut Statistik ist diese Zusatzwirtschaft mit nur 6,7 Prozent an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt, liefert jedoch die Hälfte der Agrarprodukte. Mit den dörflichen Hofgärten und den Datschas der Städter erfüllen die Menschen ihre Grundbedürfnisse an pflanzlicher Nahrung und oft auch an tierischen Produkten. In der Regel arbeiten dort die älteren Familienmitglieder, und um die Wohnungsnot etwas zu lindern, sind die Großeltern oftmals dazu übergegangen, zusammen mit den Enkeln mindestens den Sommer in den Datscha-Hütten zu verbringen. Den Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 jedenfalls haben die Russen, so der langjährige Russland-Experte Kai Ehlers, mit »er- staunlicher Gelassenheit« zur Kenntnis genommen – sie sind den Umgang mit Krisen gewohnt. In seinem aktuellen Buch fragt Ehlers deshalb einmal mehr, ob wir Mitteleuropäer nicht vielleicht etwas von den russischen Erfahrungen lernen können. In Russland macht man derzeit neue Erfahrungen damit, dass die führenden Politiker ihr Land mit aller Macht in einen Supermarkt und den genügsamen Selbstversorger der Sowjetzeit in einen Konsumenten zu verwandeln trachten. Privatisierungen verschärfen die Lage, und unter dem Druck der Krise erlebt die traditionelle Kultur der familiären Zusatzversorgung als Überle- bensmodell landesweit ihre Erneuerung. Nur ein Strohfeuer für die Dauer der Krise? Für sein Buch hat sich Kai Ehlers in den vergangenen Jahren mehrfach nach Russland begeben, um herauszufinden, ob auch die Bevölkerung bereit ist, sich »auf eine Masse von Konsumenten ausrichten zu lassen«. Um zu verstehen, wie sich die Situation in diesem Spannungsfeld der Kräfte entwickelt, führte er Gespräche mit einfachen Menschen und mit ausgewiesenen Experten. Das Erlebte verdichtete Ehlers dann zu einem ebenso spannenden wie informativen Reisebericht mit zahlreichen guten Interviews und erhellenden Analysen.
Kartoffeln haben wir immer Überleben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha. Kai Ehlers Horlemann, 2010, 250 Seiten ISBN 978-3895022937 14,90 Euro