von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #5/2010
Robert Grainier lebt alleine. Der Tagelöhner wurde »irgendwann im Jahr 1886« geboren und wohnt in einer Hütte im Wald irgendwo im Nordosten der USA. Er ist ein Mann ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Seine Eltern lernte er nie kennen, und er wird keine Nachkommen hinterlassen: Frau und Tochter verlor er nach drei kurzen Ehejahren bei einem Waldbrand. Die Einsamkeit der Wälder hat er nicht bewusst gewählt, er kennt nichts anderes. In den Sommermonaten verdingt er sich beim Eisenbahnbau oder als Holzknecht, die Wintermonate verbringt er allein in seiner Hütte. Nachts heult er mit den Wölfen, träumt von Zügen, und immer wieder erscheint ihm seine tote Frau Gladys. Irgendetwas lässt sie keine Ruhe finden. Als Gerüchte über ein Wolfskind, halb Mädchen, halb Wölfin, die Runde machen, beschleicht Grainier ein wilder Verdacht: Was, wenn seine Tochter gar nicht umgekommen wäre? Die darauffolgende Begegnung wirkt einer meta- physischen Schauergeschichte vergangener Zeiten entlehnt und fügt sich doch organisch in die naturalistische Beschreibung des Walds ein. In unsentimentaler, bildstarker Sprache lässt Denis Johnson eine vergangene Welt auferstehen, in der die Wälder, die Rauchschwaden der Dampfloks und das Heulen der Wölfe geradezu sinnlich erfahrbar werden. Noch im Angesicht von Tod und Zerstörung findet er Worte von unerhörter Schönheit, etwa wenn Grainier die Sonne über jenem verbrannten Tal untergehen sieht, das die gleichen Flammen verzehrten, die ihm auch Frau und Tochter entrissen. Ähnlich wie der Film »Bal« (siehe Rezension auf Seite 55) lässt sich auch Johnsons große Erzählung als eine Form von »spirituellem Realismus« beschreiben. Statt auf epische Breite setzt der Autor auf kammerspielhafte Reduktion. Hundert Seiten genügen ihm, um die Geschichte eines Lebens und einer Epochenwende zu erzählen. Denn die Eisenbahnbrücken, an deren Bau Grainier mitwirkt, künden vom Einzug eines Fortschritts, der die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändern wird. Grainier bekommt dies nur am Rande mit. Wenn er als alter Mann beim Bau einer Autobahnbrücke zusieht oder den Privatzug des »seltsamen, jungen Hillbilly-Entertainers Elvis Presley« nur knapp verpasst, wird deutlich, dass die Kluft zwischen Grainiers Welt und jener modernen Welt wesentlich größer ist, als ein paar Jahrzehnte gelebten Lebens vermuten lassen. Als über Achtzigjähriger verlässt Grainier diese Welt, alleine und unbemerkt. – »Und jene Zeit war für immer vorbei.«
Train Dreams Denis Johnson Rowohlt, 2006, 112 Seiten ISBN 978-3499237706 8,95 Euro