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Tagebuch eines schlimmen Jahres (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #2/2010
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Selten waren sich Leser, Kritiker und Preiskomitee so einig wie im Herbst 2003, als J. M. Coetzee mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Seine Bücher sind meisterhaft komponierte Studien der menschlichen Seele. Sein Blick ist klar und unbeirrt. Ohne je zu werten, zu psychologisieren oder seine Figuren ungebührlich vorzuführen, lotet er die Grenzen von Ethik und Moral aus und wirft dabei immer auch große Zeit- und Menschheitsfragen auf, so auch in seinem zwölften Roman.
Der Ort der Handlung ist ein Appartementhaus in Sydney, die Zeit ein knappes Jahr zwischen 2005 und 2006. In diesem räumlich wie zeitlich klar umgrenzten Mikrokosmos entfalten sich die Geschehnisse eines unguten Jahrs, dessen Ausgang jedoch überra- schend und versöhnlich ist. Erzählt wird von der rührenden, mitunter quälend ungelenken Bewunderung, die der alternde Literaturprofessor J. C. seiner jungen Nachbarin Anya entgegenbringt. Um sie in seiner Nähe zu wissen, bietet er ihr eine Stelle als Sekretärin an. Als ihr hitzköpfiger Freund auf den Plan tritt, spit- zen sich die Ereignisse zu.
Was anderen bereits Stoff für einen Roman bieten würde, dient Coetzee als Aufhänger für messerscharfe Gegenwartsanalysen und zeitlose Meditationen über das Dasein. Dabei bedient er sich eines besonderen Kunstgriffs: Die Buchseite ist durch vertikale Linien in zunächst zwei, später drei Abschnitte unterteilt, in denen sich verschiedene Erzählebenen entfalten. Den Anfang machen J. C.s Tagebucheinträge zu Überwachung und Terrorismus, Demokratie und Anarchie oder Kunst und Naturwissenschaft. Auf weiteren Ebenen wird die Handlung aus der Perspektive der drei Hauptfiguren erzählt.
In hochpräziser Sprache, die wie ein Skalpell unter die Oberfläche der Dinge dringt, beschreibt er seine Exkursionen in die Tiefen und Untiefen der menschlichen Natur. Diese gehen weit über die Einzelschicksale seiner Figuren hinaus; da kann man sich beim Lesen leicht ertappt und entblößt fühlen – so als läge man selbst auf dem Seziertisch des Menschenforschers Coetzee. Dabei ist er kompromisslos, aber nicht gnadenlos. Er ist den Menschen und seinen Figuren durchaus zugetan, vielleicht durchschaut er sie deshalb so gründlich. Letztlich ist der scharfe Blick, mit dem er in ihr Inneres vordringt, vielleicht auch ein liebender Blick – ein meisterhafter ist es allemal.

Tagebuch eines schlimmen Jahres
J. M. Coetzee
Fischer Verlag, 2010
240 Seiten
ISBN 978-3596180462
10,95 Euro

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