Gesundheit

Die Erde in uns

von Petra Steinberger, erschienen in Ausgabe #5/2010
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Dieser Sommer war so lala, was nicht so schlimm war, wir sind es inzwischen ja gewohnt, immer mehr Zeit drinnen zu verbringen. Ist nur ärgerlich wegen der Kinder, sie wollen selbst im grauenvollsten Wetter nach draußen. Ab vor den Fernseher mit ihnen, sonst wäre alles voller Matsch! Im Fernsehen oder im Internet erfahren wir dann auch von den großen Überschwemmungen dieses Jahres, von Dürren und Wirbelstürmen, finden das alles schrecklich und haben es gleich wieder verdrängt. So wie im letzten Jahr. Und im Jahr davor. Die Realität da draußen, die wir Natur nennen, erleben wir heute vor allem als digitales Bild flach auf einem Bildschirm. Die Natur verschwindet aus unserem Bewusstsein, wir kennen sie vielleicht in ihrer domestizierten, ästhetisierten Form, als hübsches Idyll, als Park, geschnitten, gestaltet, eingezäunt und ordentlich bepflanzt. Die Natur, die wilde, hässliche, unbezähmbare, bedrohliche, wunderbare, ernährende ist uns viel zu anstrengend geworden.
Schade eigentlich, dass unser Unterbewusstsein bei dieser Verdrängung nicht ganz mitspielen will. Nein, das Unterbewusste macht es immer mehr von uns sogar recht schwer, die Abwesenheit von Natur einfach hinzunehmen – sagt zumindest eine Gruppe von Psychologen und Therapeuten, die sich im weitesten Sinn unter der Bezeichnung Ecopsychology oder Ecotherapy zusammenfassen lässt. Dabei gehen sie vor allem von zwei Grundthesen aus – in die negative Richtung: »Zu wenig Natur macht uns krank.« Ins Positive gekehrt: »Das Erleben von Natur stärkt und fördert die Psyche.«
Seit eineinhalb Jahren haben sie eine Fachzeitschrift namens »Ecopsychology« gegründet. Diese Richtung, definiert es die Zeitschrift, setze die Psychologie und andere Disziplinen um unsere geistige Gesundheit in einen ökologischen Kontext und erkenne die Verbindung zwischen der Gesundheit des Menschen, der Kultur und der Gesundheit des Planeten. »Wir wollen erforschen, wie der Mensch die Natur erlebt, damit er eine intakte emotionale Verbindung zu ihr pflegen und verantwortlich handeln kann«, sagt Herausgeber Thomas Doherty, der in Oregon Psychologie lehrt.
Das sind Begriffe, die Psychologen im deutschsprachigen Raum nicht unbedingt verwenden würden. Ökopsychologie ist in den letzten Jahren eher im englischsprachigen Bereich und da vor allem in den Vereinigten Staaten prominent geworden ist. Die deutsche »Umweltpsychologie« ist – noch – keine direkte Entsprechung, sie behandelt, eher versachlicht, vor allem die »vernetzten Wechselwirkungen zwischen Menschen und ihrer alltäglichen Lebensumwelt«, so der Fachverband deutscher Psychologen und Psychologinnen.

Das Gesamtsystem heilen
Amerikanische Ökopsychologen schicken ihre Patienten erstmal in die Natur. Die kalifornische Psychotherapeutin Linda Buzzell ist überzeugt, dass Wälder, Berge, auch Gärten heilend auf Menschen wirken können: »Im Grünen fällt es den Menschen oft leichter, ihre Sorgen und Gedanken zu artikulieren.« Mit dem Tiefenpsychologen Craig Chalquist hat sie den Sammelband »Ecotherapy« herausgegeben, für den das Who’s Who der amerikanischen Umweltbewegung Beiträge beigesteuert hat.
»Viele Patienten realisieren nicht«, meint Linda Buzzell, »dass viel von der Trauer, den Schuldgefühlen, der inneren Leere und den Ängsten, mit denen sie zu kämpfen haben, einfach eine natürliche Antwort auf unseren unnatürlichen Lebens­stil sind. Das Verschwinden und der Tod so vieler Lebewesen, die Schuld über unsere individuelle und kollektive Mittäterschaft an diesem Sterben, die zunehmende Belastung von Erde, Luft und Ozeanen überall um uns herum – und in unseren eigenen Körpern – sind alles Quellen für einen derartigen Stress.«
Ecopsychology will also nicht nur einen Patienten wieder gesellschafts- und funktionstüchtig machen. Sie will das Gesamtsystem Mensch-Kultur-Natur heilen, auch zu gesellschaftlicher Neuorientierung führen. Wenn wir depressiv werden, weil in unserer nächsten Nachbarschaft Wälder abgeholzt werden, weil im Tagebau betriebener Kohleabbau die Flüsse verseucht und chemisch ausgespülte Goldminen die Landschaft verwüsten, weil wir die ganz alltägliche Zerstörung mit­ansehen genauso wie Bohrinselkatastrophen etwa im Golf von Mexico, dann kann uns das lähmen und unfähig zum Handeln machen – auch zum Handeln gegen die Zerstörung selbst.
Ohnmacht erzeugt Ohnmacht. Manche wollen es einfach vergessen. Andere kollabieren.

Sehnsucht nach Heimat
Vor ein paar Jahren hat der australische Philosoph Glenn Albrecht, Professor für Nachhaltigkeit an der Murdoch University, den Begriff »Solastalgia« geprägt – eine Sehnsucht nach Trost, englisch solace, ein Heimweh nach dem Ort, der eigentlich unsere Heimat wäre, und der Schmerz, den wir schon empfinden, während wir noch dort leben – weil sich diese Heimat bis zur Unkenntlichkeit verändert, etwa durch Umweltzerstörung.
Albrecht hatte auf verzweifelte Anrufe von Bewohnern des ­Upper Hunter Valley reagiert, einer Region in Südostaustralien, die als die »Toskana des Südens« bekannt war. In den letzten zwanzig Jahren hatte dort ein massiver Abbau von Kohle begonnen, es gab täglich mehrere laute Explosionen, schwarzer Staub legte sich auf das Tal. Die Menschen waren verzweifelt, ohnmächtig, wie gelähmt. Man kannte diese Befindlichkeit von australischen Ureinwohnern oder indigenen amerikanischen Bevölkerungen, die von ihrem Land vertrieben worden waren. Diesmal war es andersherum. Das Land um die Menschen herum hatte sich verändert. Albrecht geht in seinen Thesen noch weiter. Solastalgia nehme inzwischen weltweit als Gemütszustand zu, und zwar bedingt durch die zunehmende Zerstörung der Natur.
Versetzen Sie sich in die Psyche eines zutiefst engagierten Umweltschützers. Er kann, aus Fallstudien kennt man das, in eine tiefe Depression fallen, gerade weil er sich so einsetzt für die Umwelt, deren unaufhörlich fortschreitender Vernichtung er zugleich zusehen muss. Zuviel Ohnmacht. Manchmal reagieren wir auch diametral anders, indem wir eine Realität leugnen, die wir nicht ertragen können. Dieser Verdrängung verdanken die Klimaleugner ihren Erfolg, diese Verdrängung erklärt unser zutiefst inkonsequentes Verhalten. Zuviel Blindheit.
Doch genau solche Sätze und Thesen seien eben nicht quantifizierbar, geschweige denn beweisbar, befand die etablierte psychologische Fachschaft lange Zeit. Und kritisiert bis heute, dass ein Leiden wie »Solastalgia«, wenn es überhaupt real sei, sich nicht nur auf die Natur beschränken müsse. Dass man auch so empfinden könne, wenn sich ein Stadtbild architektonisch stark wandelt. Wobei dieser erweiterte Umweltbegriff dann jenem entspräche, den beispielsweise die deutsche Umweltpsychologie ja voraussetzt. Am Beispiel Stuttgart 21 kann man erkennen, wie sich politische Bervormundung und »Solastalgia« für die Natur (unsere Bäume!) und Heimat (unsere Stadt, unser Bahnhof!) explosiv vermischt haben.

Ein Impuls der Westküste
Nun ist es nicht ganz zufällig, dass ein Großteil der neuen Eco-psychologists, die statt auf Medikamente lieber auf Bergwanderungen setzen, an der amerikanischen Westküste lebt, die schon immer ein Ort war, an dem Wissenschaft, Spiritualität, Esoterik und, ja, auch Scharlatanerie weniger Berührungsängste voreinander haben als anderswo. Ein Ort, an dem die alternative Protestkultur ihren Ursprung hat. Was aber – ebenso wie die Neugier, über Altbekanntes hinauszudenken – dazu geführt hat, dass die Pazifikküste bis heute eine der innovativsten Regionen der Erde ist.
Dort hatte die Ecopsychology zu Beginn der neunziger Jahre auch ihre erste Blütezeit. 1992 veröffentlichte der in Kalifornien lehrende Historiker und Sozialkritiker Theodore Roszak »The Voice of the Earth«, »Die Stimme der Erde«, das bis heute als Grundlagenwerk der Ökopsychologie gelten kann – allerdings hauptsächlich in der angelsächsischen Literatur. Er kritisierte die moderne Psychologie dafür, dass sie die ursprüngliche Verbindung zwischen Mensch und Natur nicht beachte, dass sie »urbanisiert« sei und der »denaturierten« Umwelt entspräche.
Roszak war nicht der erste, der versuchte, Psychologie und Ökologie zusammenzubringen. Ökopsychologen heute berufen sich auf den Kybernetiker und Anthropologen Gregory Bateson (1904–1980), der 1972 in seinem Werk »Steps to an Ecology of Mind« konstatierte, dass die wirkliche Umweltkrise im Reich der Ideen liege. Wir würden, fälschlicherweise, annehmen, dass Geist und Natur unabhängig voneinander funktionierten, meinte Bateson; doch unsere Art, über die Welt zu denken, könne die Welt verändern; und umgekehrt könne die Welt auch uns ändern. Um ökologisch zu handeln, müssen wir ökologisch denken und fühlen. Und der berühmte Biologe E. O. Wilson veröffentlichte 1984 das Buch »Biophilia«, in dem er argumentiert, dass unsere natürliche Neigung zu allem Leben­digen die Grundlage unserer Menschlichkeit sei.
Das klang vielen Wissenschaftlern zu sehr nach Spekulation, nach spiritueller Suche. Doch langsam nehmen die Bedenken ab – zumindest in Amerika. Letztes Jahr veröffentlichte die »American Psychological Association« einen mehr als 230-seitigen Report über das »Interface zwischen Psychologie und globalem Klimawandel«. Der Klimawandel, heißt es da, wird unser Verhalten beeinflussen und kann zu wachsendem Stress und Beklemmung führen. »Selbst ohne direkte Auswirkungen können Vorstellung und Angst vor dem Klimawandel die geistige Gesundheit gefährden.«
Das klingt nicht viel anders als die Sätze der buddhistischen Systemtheoretikerin und Ökopsychologin Joanna Macy zum selben Thema: »Der Verlust der Sicherheit, dass wir eine Zukunft haben, ist meiner Meinung nach die wichtigste psychologische Realität unserer Zeit.«
Nun gibt es immer mehr wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Naturerleben tatsächlich etwas anderes auslöst als die Simulation. Der Entwicklungspsychologe Peter Kahn von der University of Washington untersucht die Auswirkungen jener Schnittstelle, die durch die Zerstörung der Natur und die zunehmende Technologisierung und Digitalisierung der Welt entstanden ist. In einem Experiment setzte er 90 Erwachsene einer Stresssitua­tion aus und erfasste ihre Herzfrequenz, während sich diese in drei Szenarien befanden. Die einen standen vor einem Glasfenster, das eine Wiese und einen kleine Baumgruppe überblickte. Die zweite Gruppe sah dieselbe Szene in einem großen Plasmafernseher. Die dritte Gruppe stand vor einer leeren Wand. Die Teilnehmer, die auf die reale Natur blickten, beruhigten sich schneller als die anderen beiden Gruppen. Das Fernsehbild funktionierte so gut – oder schlecht – wie eine kahle Wand.

Naturfremde bei Kindern
Natur ist Therapie. Wie bei so vielem, trifft das zunächst und vielleicht am offensichtlichsten Kinder und Jugendliche. In seinem Buch »Last Child in the Woods« definierte der Psychologe Richard Louv im Jahr 2005 die Naturdefizitstörung (siehe Seite 59). »Kindheit ist, oder war einmal, oder sollte das erste, große Abenteuer sein, eine Geschichte aus Not und Tapferkeit, aus ständiger Wachsamkeit, aus Gefahr und manchmal auch aus Leid«, schreibt der amerikanische Schriftsteller Michael Chabon über die »Wildnis der Kindheit«. Und immer mehr Forschungen weisen darauf hin, dass das richtig ist. Auch wenn es gerade in der Stadt oft keine Alternative gibt: Kinder spielen gar nicht so viel auf Spielplätzen. Sie lieben die wilden Ecken, die noch nicht überplant, begradigt und steri­lisiert wurden.
Allerdings: Bisher gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass Kinder, die in der Stadt großwerden, labiler wären als Landkinder. Doch unabhängig davon wird das Phänomen der Naturfremde bei Kindern schon länger beobachtet. So hat eine britische Studie herausgefunden, dass sich inzwischen mehr Kinder verletzen, weil sie aus dem Bett fallen statt aus Bäumen. Was allerdings nicht daran liegt, dass heutige Kinder besser klettern könnten. Das Gegenteil ist der Fall – sie tun es fast gar nicht mehr. Ähnliches gilt für andere westliche Länder. Ob Stadt oder Land, Jugendliche verbringen zunehmend Zeit mit virtuellen Tätigkeiten. Vielleicht ist das der Grund, dass es keinen Unterschied mehr macht, ob ein Kind in der Stadt oder auf dem Land aufwächst. Kinder entwickeln heute das »Bambi-Syndrom«, in dem die Natur vor allem als »süß« und »extrem gefährdet« wahrgenommen wird. Immer mehr Kinder halten allein das Betreten des Waldes für schädlich und würden sich selbst aussperren – was in Umkehrung der guten Absicht nur dazu führen würde, dass sie echtes ökologisches Bewusstsein gar nicht mehr lernen könnten.
»Die Bedürfnisse des Planeten sind die Bedürfnisse des Menschen«, hat Theodore Roszak geschrieben, »die Rechte des Menschen sind die Rechte des Planeten.« Wenn es tatsächlich eine Wechselwirkung zwischen menschlichem Geist und Natur gibt, dann kann es nur sinnvoll sein, Mensch und Natur, Kind und Natur einander wieder näherzubringen. Selbst wenn die von vielen Ökopsychologen diagnostizierten Störungen und Pathologien nicht direkt oder nicht immer oder nicht ausschließlich auf einen fehlenden Naturzugang oder ähnliches zurückzuführen wären – es wäre unerheblich. Es kann keinesfalls schaden, wenn wir Menschen erkennen, dass wir nicht nur materiell, sondern auch im Geist zur Natur gehören.


Petra Steinberger ist Autorin bei der »SZ Wochenende« der Süddeutschen Zeitung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Umwelt, Urbanismus, Soziologie und Bevölkerung.

Grundlagenwerke der Ökopsychologie
• Gregory Bateson: Steps to an Ecology of Mind. University of Chicago Press, 2000 
• Linda Buzzell, Craig Chalquist (Hrsg.): Ecotherapy: Healing with Nature in Mind. Sierra Club Books, 2009 
• Richard Louv: Last Child in the Woods. Algonquin Books, 2008 • Theodore Roszak: The Voice of the Earth. An ­Exploration of Ecopsychology. Phanes Press, 2001
 

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