Titelthema

Aktionsfelder der Bioökonomie

Sie gilt als Ausweg aus allen Krisen: die möglichst effiziente, industrielle Verarbeitung sogenannter biologischer Ressourcen. Wir erklären die wichtigsten Begriffe und Aktionsfelder der Bioökonomie.
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Biotechnologie (Biotechnik)
Der Begriff »Biotechnologie« stapelt hoch: Es handelt sich in Wahrheit um nackte Technik und nicht um eine edle Lehre – wie es die schönfärberische Endung »-logie« vorspiegeln möchte. Biotechnische Anwendungen bilden die Hauptsäule der Bioökonomie; Biotechnik ist hochgradig interdisziplinär ausgelegt. Sie nutzt biologische Prozesse für die industrielle Produktion von Gütern und Dienstleistungen und unterteilt sich in drei Bereiche: erstens die grüne Biotechnik, zu der die Pflanzenbiotechnik und landwirtschaftliche Anwendungen gehören. Schwerpunkt der Agrobiotechnik ist z. B. die umstrittene Pflanzengenomforschung. Der zweite Bereich ist die rote Biotechnik. Diese dient der Erforschung und Entwicklung dia­gnostischer und therapeutischer Verfahren zur Herstellung medizinischer Produkte, wie diagnostischer Biochips, oder gentechnisch erzeugter Stoffe, etwa von Impfstoffen, Gerinnungsfaktoren, Interferonen oder Insulin. Eine Risikobewertung über die komplexen Langzeitwirkungen, wie sie im grünen Bereich zumindest diskutiert wird, ist schwierig und findet kaum statt, obwohl direkt in die Feinstrukturen des menschlichen Körpers eingegriffen wird. Der dritte Bereich, die weiße bzw. industrielle Biotechnik, umfasst den Einsatz biotechnischer Methoden in Form von Mikroorganismen zur Produktion von z. B. Enzymen, Aminosäuren, Vitaminen, Antibiotika oder Biokraftstoffen. Die Nutzung sogenannter nachwachsender Rohstoffe bildet Grundlage dieser Techniken.

Biokunststoffe
Biokunststoffe basieren insbesondere auf pflanzlicher Stärke und Zellulose, die zu Biopolymeren umgewandelt und anschließend als Biokunststoff extrudiert oder tiefgezogen, also unter Einsatz von Wärme umgeformt werden. Ein weiteres Merkmal ist die Kompostierbarkeit, die jedoch kein zwingendes Kriterium für Bioplastik darstellt. Die Produkte aus Biokunststoff sind inzwischen durchaus haltbar, weshalb sie sich einer wachsenden Beliebtheit erfreuen. Anwendung finden sie insbesondere in der Verpackungsindustrie. Schätzungen zufolge soll der europäische Markt für Biokunststoffverpackun­gen bis 2016 von 142,8 Millionen Euro im Jahr 2009 auf 425,5 Millionen Tonnen anwachsen; die weltweite Produktion von Biokunststoffen steigt rasant an und hat heute einen Umfang von knapp zwei Millionen Tonnen. Analog zu den Biokraftstoffen besteht das Problem bei den Biokunststoffen in der Art der Gewinnung der Ausgangsstoffe, also in den Anbaumethoden, im Flächenverbrauch und in der Flächenkonkurrenz zur Nahrungs- und Futtermittelproduktion. Erschwerend kommt hinzu, dass das Ausgangsmaterial für Bioplastik auch in Europa nicht selten von genmanipulierten Pflanzen stammt. Damit sind auch die Biokunststoffe ein Einfallstor für die grüne ­Gentechnik.

Nutrigenomik
Die auf der Genomik basierende Nutrigenomik ist eine noch junge Forschungsdisziplin, die zur Vermeidung ernährungsbedingter Erkrankungen an der Entwicklung einer personalisierten, maßgeschneiderten Ernährung auf der Basis des Genotyps des jeweiligen Individuums arbeitet. Dazu ­integriert sie Genom- und Ernährungsforschung sowie Pflanzenbiotechnik. Bereits geringe genetische Unterschiede können verschiedene Reaktionen auf ein Nahrungsmittel zur Folge haben und über dessen Verträglichkeit oder Unverträglichkeit bestimmen. Durch die Nutrigenomik sollen Allergien, Unverträglichkeiten, Über- und Unterernährung vermieden und von Kindheit an eine optimale Versorgung jedes Einzelnen mit einem maßgeschneiderten Mix aus Nährstoffen in der für ihn idealen Menge garantiert werden. Von einer Zusammenarbeit mit der Pharmakogenetik erhofft man sich außerdem ein effizienteres Zusammenwirken von ernährungsmedizinischen und medikamentösen Maßnahmen. Die Nutrigenomik führt jedoch möglicherweise nicht zu einer gesünderen, sondern zu einer künstlicheren Ernährungs- und Lebensweise. Zudem ergeben sich bei der Erhebung genetischer Daten gravierende Datenschutzprobleme, vor allem, wenn diese Informationen über die individuellen gesundheitlichen Risiken routine­mäßig von allen Bürgern erhoben werden. Außerdem ist zu klären, welchen Einfluss eine solche Ernährung auf die menschlich psychische und körperliche Gesundheit hat.

Precision Farming
Beim Precision Farming handelt es sich um eine wissenschaftlich-technisch hochgerüstete Präzisionslandwirtschaft, die sich zur Ertrags- und Effizienzsteigerung ausgeklügelter Technik bedient. Sie soll ermöglichen, mit maximaler Produktivität genügend »Biomasse« für die biotechnischen Zukunftsszenarien der Wirtschaft zu erzeugen. Landwirtschaft ist von den vor Ort gegebenen Umweltbedingungen abhängig. Um diese Parameter möglichst weitgehend erfassen und entsprechend reagieren zu können, wird in der Präzisionslandwirtschaft technisches Equipment zur ortsgenauen Kartierung von Bodeninformationen, Erträgen und Pflanzenparametern sowie zur gezielten, ständig neu angepassten Umsetzung dieser Informationen für eine effiziente Bewirtschaftung eingesetzt. Mittels Sensoren, Bildanalyse, GPS, Geoinformationssystemen, Bord- und Spritzcomputern lässt sich bei gleichbleibender Wirkung auch der Einsatz von Herbiziden reduzieren und die Tierhaltung effizienter gestalten. Desweiteren lassen sich durch Precision Farming Umweltrichtlinien ohne Umsatzeinbußen zuverlässiger einhalten. Auch dem Verbraucherschutz und der Forderung nach Transparenz kann Rechnung getragen werden.
Welchen Beitrag das Precision Farming zum Umweltschutz leistet, ist umstritten, denn das eigentliche Problem, die Schädigung der natürlichen Mitwelt durch chemische Schadstoffe, Monokulturen und zerstörerische Anbaumethoden, wird nicht behoben, sondern lediglich minimiert.

Synthetische Biologie
Die synthetische Biologie basiert auf der Gentechnik, geht jedoch weit über die Manipulation von Genen hinaus, da sie künstliches Erbgut und natürlich nicht vorkommende Biomoleküle erschafft. Mit standardisierten Bausteinen (»Bio-Bricks») sollen künstliche biologische Systeme und Organismen generiert werden. Das Ziel besteht in der Erzeugung von zur Selbstregulation und Reproduktion fähigen Systemen. Zu den Anwendungsgebieten gehören die Entwicklung optimierter Enzyme, neuartiger funktionaler Materialien, die Erschließung neuer Energiequellen und die Herstellung bestimmter industrieller Grundstoffe und Pharmaka. Auch mittels der synthetischen Biologie ist es nicht möglich, ­Leben »ex nihilo« – aus dem Nichts – zu schaffen, sie wirft jedoch etliche Fragen in Bezug auf den Lebensbegriff und die künstlich geschaffenen Lebensformen auf. Insbesondere bei der Technik­folgenabschätzung betritt man hier Neuland, denn es lässt sich nicht vorhersehen, wie sich die synthetisierten Lebensformen weiterentwickeln. Zu den potenziellen Risiken gehört der missbräuchliche Einsatz dieser Technik, etwa durch »Bio-Hacking«. Nichtsdestotrotz wird diese Technik deutschland- und europaweit massiv vorangetrieben.

Energetische Biomassennutzung
Parallel zur Energiegewinnung aus Wind, Wasser und Sonne soll künftig die Nutzung von »Biomasse« ausgebaut werden. Denn derzeit gibt es keine technisch ausgereifte und marktfähige Möglichkeit der Speicherung von durch Windkraftanlagen und Photovoltaik produzierter Energie. Statt jedoch dafür zu sorgen, dass mit Hochdruck an der Entwicklung effizienter Energiespeicher gearbeitet wird, wird die energetische »Biomasse«-Nutzung vorangetrieben. Neben Abfällen aus der Massentierhaltung werden vor allem Pflanzenstoffe wie Stroh, Holz oder pflanzliche Abfälle (z. B. angebaute Zuckerrüben oder Mais) verwendet. Aus ihnen können flüssige oder gasförmige Biokraftstoffe hergestellt werden, die sich so lange wie nötig lagern und speichern lassen. Der Haken besteht vor allem in der negativen Ökobilanz des Anbaus von Pflanzen für die energetische Nutzung von Biokraftstoffen. Dieses Problem wurde inzwischen teilweise auch regierungsseitig erkannt, verzichten will die Bundesregierung auf die energetische Nutzung von Pflanzen allerdings nicht.

Grundlage dieser Texte bildet das Buch »­Irrweg Bioökonomie – Kritik an einem totalitären Ansatz«, das umfassend über die Auswirkungen und Profiteure dieses neuen Industriezweigs aufklärt.

Irrweg Bioökonomie
Kritik an einem totalitären Ansatz.
Franz Theo Gottwald, Anita Krätzer
Suhrkamp Verlag, 2014
176 Seiten
ISBN 978-3518260517
 14,00 Euro

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