Titelthema

Starke Keime

Die Pionierleistung ökologischer Saatgutzüchtung verdient breite Unterstützung.
von Nicole Pollakowsky, erschienen in Ausgabe #35/2015
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Treckerfahren, jippieh! Mit riesigen Landmaschinen über den Acker preschen – das Internet macht es möglich. Meine Kinder sind zu virtuellen Bauern mutiert. Damit sie sich in ihrem Spiel Traktor, Mähdrescher und Co. leisten können, müssen sie ab und an auch ein Feld bestellen und das Korn verkaufen. Aber Vorsicht – nicht alles in den Fuhrpark stecken! Denn auch Saatgut muss nachgekauft werden. Die naive Mutter rät: »Saatgut kaufen? Ihr habt doch eben eine ganze Fuhre Korn geerntet. Sät doch einen Teil davon neu aus!« Die Jungs rangieren ihre Fracht zum Saatgutlager, wollen abladen. Nichts passiert. Nur gekaufte Säcke werden hier akzeptiert. Was für ein Sch…spiel – und doch so nah an der Realität!

Tatsächlich reißen die Saatgutkonzerne am Faden der jahrtausendealten Tradition, Sorten über ihre eigenen Samen zu vermehren. Wem gehört die Saat? Man kann darüber ins Philosophieren geraten. Man kann sich in Rage reden oder in Resignation verfallen.
Man kann aber auch aufstehen und anpacken – so wie Karl-Josef Müller. Der promovierte Agrarwissenschaftler ist Leiter der Getreidezüchtungsforschung Darzau im niedersächsischen Wendland. Seit 1989 entwickelt er Kriterien für die Getreidezüchtung im Biolandbau und setzt seine Erkenntnisse in neuen Sorten um. 2014 hat er für seine Arbeit den Förderpreis »Ökologischer Landbau« des Bundeslandwirtschaftsministeriums erhalten. »Viele alte Sorten sind an die heutigen Bedingungen nicht angepasst«, sagt Müller. Allein auf Erhalt zu setzen, reiche daher nicht aus. »Die Bodenbearbeitung hat sich verändert, und es gibt heute andere Krankheiten«, nennt er zwei Gründe. Moderne, konventionell gezüchtete Sorten wiederum seien oft auf hohe Düngung angewiesen und ohne jede Widerstandsfähigkeit. Für den Züchter gilt es, verlorengegangene Eigenschaften alter Sorten aufzuspüren und sie in neue, an die aktuellen Bedingungen angepasste wieder hineinzubringen. Dafür ist mehr als die reine Ingenieursleistung notwendig, ist Müller überzeugt: »Es bedarf eines wesensmäßigen Herangehens, eines Wahrnehmens, das sich auf die dem Leben eigenen Verwandlungsprozesse einlässt«, sagt er. »Wie wächst die Pflanze? Welche Farbprozesse durchläuft sie? Erst wer sich auf solche Beobachtungen einlässt, wird sich der Lebenskräfte einer Pflanze bewusst werden und entscheiden können, ob sie als Lebensmittel geeignet ist.«
Diese ganzheitliche Herangehensweise, der Respekt vor der Integrität der Pflanze, ist einer der Punkte, in denen sich die ökologische Pflanzenzüchtung fundamental von der konventionellen unterscheidet. Ökologische Saatgutzüchtung fördert zudem die Biodiversität auf dem Acker, die letztlich Grundlage unserer Ernährungssicherheit ist. In vielen Fällen bleibt Biohöfen und Gärtnereien jedoch keine andere Wahl, als mangels Verfügbarkeit von Ökosaat mit konventionellem Hybridsaatgut zu arbeiten – mit Pflanzen also, die eine Art angezüchteten Kopierschutz besitzen und deren Saatgut jedes Jahr neu gekauft werden muss.

Saatgut ist Kulturgut

»Es gibt viel zu wenig Bio-Saatgut«, bestätigt Heinz-Peter Christiansen. Seit 1983 bewirtschaftet er gemeinsam mit seiner Frau Barbara Maria Rudolf den Bioland-Hof in Esperstoftfeld bei Schleswig nach ökologischen Richtlinien. Über 20 verschiedene Kulturen wachsen auf ihren Feldern. Vor allem bei Kohlarten wie Brokkoli, Blumenkohl, Rosenkohl oder Kohlrabi wird es immer schwieriger, geeignetes Saatgut für den Biolandbau zu bekommen – eine Situation, die die beiden nicht hinnehmen wollten. Mit ihrem Wunsch nach neuen Biozüchtungen stießen sie jedoch beim Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter auf taube Ohren – »zu unrentabel« lautete die Begründung. 2009 sind die beiden schließlich selbst unter die Gemüsezüchter gegangen.
»Wir wollen mit der Schöpfung gehen«, sagt Barbara Maria Rudolf. Seit Jahrtausenden entstehen in der Kulturlandschaft durch die Zusammenarbeit von Mensch und Pflanze neue Sorten. Mit ihrer Weiterentwicklung wollen die Biozüchter beides verbinden: ein attraktives Äußeres – auch im Hinblick auf Kunden in Bio-Supermärkten – und überzeugende innere Werte. Auf diese Weise wollen sie nicht nur wirtschaftlich bestehen, sondern auch gesellschaftlich etwas verändern. »Wir wollen ja nicht nur eine Nische schön gestalten, sondern die Landwirtschaft insgesamt auf Biolandbau umstellen«, so Rudolf. Unter dem Dach ihres Vereins »Saat:gut e. V.« arbeiten sie und ihr Mann mittlerweile im sechsten Jahr an eigenen samenfesten Sorten. Damit sind sie in guter Gesellschaft. Seit Mitte der 1980er Jahre haben sich verschiedene gemeinnützige Initiativen für den Erhalt und die Weiterentwicklung von Kulturpflanzen gegründet. In Deutschland ist unter anderen der Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt (VEN) aktiv, ebenso wie der Kultursaat e. V., der sich auch der Züchtungsforschung widmet. In Österreich wirkt seit 25 Jahren der Verein Arche Noah, und die Schweizer Initiative »ProSpecieRara« engagiert sich seit 2011 auch in Deutschland. Nicht zuletzt wollen diese Initiativen der Monopolisierung des Saatgutmarkts entgegenwirken. Nur zehn Konzerne kontrollieren heute 75 Prozent des weltweiten Saatgutgeschäfts. Sie konzentrieren sich auf die Entwicklung einiger weniger Hochertragssorten – und scheffeln gewaltigen Profit: Der Umsatz der konventionellen Saatgutbranche beträgt Schätzungen zufolge rund 40 Milliarden Euro jährlich, Tendenz steigend.
In Anbetracht dessen nehmen sich die gemeinnützigen Züchtungsinitiativen wie Zwerge aus. Sie sind chronisch unterfinanziert, denn ihre Arbeit ist langwierig und teuer: Etwa 100 000 Euro kostet die Züchtung auf Christiansens Biolandhof jährlich. Bis eine Bio-Sorte fertig entwickelt ist, vergehen mindestens 13 Jahre.
Zwar wird die Bedeutung der ökologischen Pflanzenzüchtung angesichts der schwindenden Sortenvielfalt auch von staatlicher Seite in jüngster Zeit immer wieder betont. Doch fließt öffentliche Förderung trotzdem vor allem in die Erforschung von Biotechnik und Gentechnik. Von großer Bedeutung ist für viele Ökozüchter daher der Saatgutfonds der Zukunftsstiftung Landwirtschaft. Das Besondere: Er lebt nicht von Zinserträgen, sondern wird aus Spenden gespeist. Das Gesamtbudget liegt bei rund einer Million Euro pro Jahr. Auch Karl-Josef Müller von der Getreidezucht Darzau und Christiansens Biolandhof finanzieren einen Teil ihrer Züchtungsarbeit über Zuschüsse aus dem Saatgutfonds. Daneben spielen direkte Spenden – etwa aus dem Großhandel oder von Verarbeitern – eine wichtige Rolle.

Überlebensstrategien

Langfristige Verpflichtungen, so Barbara Maria Rudolf, gehen Spender nur sehr bedingt ein. Für die Ökozüchterin ist diese Unsicherheit eine psychische Belastung, doch eine Finanzierung über Eigentumsrechte an Sorten, wie sie in der konventionellen Züchtung üblich ist, läuft ihrer Überzeugung zuwider. Inhaber der Gemüsesorten, die auf Christiansens Biolandhof gezüchtet werden, ist der gemeinnützige »Saat:gut e. V.«: »Wir als Züchter erwerben keine Rechte, ebensowenig die Sponsoren«, so Rudolf. »Sorten sind Kulturgut!« Die Vermehrung und den Vertrieb übernehmen in ihrem Fall die Bingenheimer Saatgut AG und die Schweizer Sativa Rheinau GmbH. Von ihnen erhalten die Züchter einen freiwilligen, vorab ausgehandelten »Sortenentwicklungsbeitrag« – je beliebter eine Sorte, desto höher fällt dieser Beitrag aus. Dies trägt jedoch nur einen kleinen Teil zum Gesamtbudget bei.
Für Getreidezüchter Müller stellt sich die Situation etwas anders dar. Als Sortenschutzinhaber wäre er bereit, auf die Nachbaugebühren von den Nutzern seiner Sorten zu verzichten – allerdings nur unter der Bedingung, dass diese sich ihrerseits verpflichten, einen Teil ihrer Einnahmen aus dem Verkauf der Ernte an Züchtungsinitiativen zurückfließen zu lassen. Aber, so seine Beobachtung, »es fehlt an der Bereitschaft der Nutzer, sich für die Kulturpflanzenentwicklung zu engagieren«.
Sowohl Getreidezüchter Karl-Josef Müller als auch Gemüsezüchterin Barbara Maria Rudolf sind davon überzeugt, dass ein gesellschaftliches Umdenken notwendig ist, um die Situation grundlegend zu ändern. Dafür sei Aufklärungsarbeit nötig; es müsse sich ein Bewusstsein für den Wert, der in der Züchtungsleistung steckt, entwickeln. »Wir wollen die Basis schaffen«, sagt Barbara Maria Rudolf. »Wenn bei einem größeren Teil der Gesellschaft die Bereitschaft wächst, neue Wege zu gehen, sollen diese Wege auch geebnet sein.« •

Nicole Pollakowsky (41) arbeitet als freie Journalistin in Heidelberg. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist nachhaltiges Leben und Wirtschaften. Mut machen ihr die Menschen, die sie bei ihren Recherchen trifft und die zeigen: Es geht auch anders!

Kulturpflanzenhüter unterstützen
www.darzau.de
www.saat-gut.org

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