Der Roman »Bodentiefe Fenster« spielt im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, der seit den Nachwendejah- ren eine beispiellose Gentrifizierung erfahren hat. Mit Mann und zwei Kindern lebt die Ich-Erzählerin Sandra in einem genossenschaftlichen Hausprojekt mit lauter furchtbar netten Leuten mit liebreizenden Kindern – oder sind es eher große und kleine Monster, die ihren Mitmenschen noch die kleinste Freude neiden? Die Autorin beschreibt nicht, sie seziert – kleinteilig, präzise und schmerzhaft. Begegnungen auf dem Hof oder ein Hausplenum – das Lachen über groteske Situationen bleibt mir im Hals stecken. Hinter boden- tiefen Fenstern, diesem Symbol für lichtdurchflutete Offenheit, scheint sich das Grauen zu verstecken. Sandra fühlt sich beobachtet und bewertet, ihre Gedanken kreisen um das, was die anderen vielleicht von ihr denken oder erwarten könnten. Gleichzeitig sorgt sie sich ständig um andere. Im Kinderladen und auch im berühmten Grips-Theater hat sie von klein auf gelernt, dass es wichtig ist, zusammenzuhalten, soli- darisch und für andere da zu sein. Dem versucht sie, gerecht zu werden, und hadert gleichzeitig mit der Unmöglichkeit, diese Ansprüche – die sie irgendwann als Gehirnwäsche bezeichnet – erfüllen zu können. Der Kindheitsauftrag »reden hilft« führt zu hilflosem Schweigen. Das Grauen vermittelt sich beiläufig und mitunter im Nebensatz. Schwere Krankheiten und Todesfälle gibt es reichlich, manche echt und andere in furchtsamer Fantasie ausgemalt. Sandra wirkt so gefangen in ihrem Kopf, dass ich ihr zurufen möchte: »Mach es dir doch nicht so schwer!« Ihrem Um-Sich-Selbst-Kreisen scheint ein Außen zu fehlen, das echte Anforderungen stellt, vielleicht politisches Engagement oder irgend- etwas, das die Protagonistin aus dieser überfordern- den und gleichzeitig hohlen Enge befreien könnte. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die gleichzeitige Vergeblichkeit, die ersehnte Nähe erleben zu können, zieht sich durch das ganze Buch. Die Autorin wohnt selbst hinter bodentiefen Fens- tern in einer Hausgemeinschaft in Prenzlauer Berg. Beim Lesen mache ich mir immer wieder klar: Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman. Anke Stelling beschreibt nicht sich selbst, sondern hat sich eine Ge- schichte ausgedacht. Trotzdem hoffe ich für sie, dass sich ihre Nachbarinnen, Freunde und Verwandten in ihren Schilderungen nicht wiederfinden und dass ihr soziales Umfeld diesen Roman heil übersteht.
Bodentiefe Fenster Anke Stelling Verbrecher Verlag, 2015 256 Seiten ISBN 978-3957320810 19,00 Euro