Titelthema

Die eingehegte Welt ist eine Zombie-Welt

Johannes Heimrath sprach mit dem Philosophen Andreas Weber über Nichtwissen, Fülle und radikales Dissidententum.von Andreas Weber, Johannes Heimrath, erschienen in Ausgabe #35/2015
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Andreas, das Phänomen Lebendigkeit spielt in deiner Arbeit eine zentrale Rolle. Wie verstehst du dich selbst als lebendiges Wesen?

Als eine Ganzheit – nicht als »Geist«. Ich kann meinen Körper nicht zur Gänze verstehen, ich kann dieser nur »sein«. Das Faszinierende: Mein Körper möchte ein Selbst sein. Er ist keine Ansammlung von Zellen, sondern ein Begehren. Begriffe wie »Geist« oder »das Mentale« vermeide ich konsequent. Jegliche Idee von allein dem Denken zugänglichen Kräften, die auf unser Ich rückwirken, finde ich absurd. Das degradiert unsere sinnliche Existenz, unsere Wildheit.

Wenn du von dir selbst als Begehren sprichst, bist du damit ja nicht allein. In dir wohnen Billionen von Organismen, die alle lebendig sein wollen.

Die Grenzen zwischen Biotop und Individuum sind schwierig zu ziehen. Es ist gut, dass das nicht so einfach ist. Dadurch können wir etwas verstehen, zum Beispiel dass Leben auf anderem Leben basiert. Selbst wenn wir nur Obst, Beeren und Nüsse essen, ernähren wir uns vom Lebendigen. Jede Nuss hat das Begehren, zu keimen. In ihrer Mitte ist ein winziges, grünes Pflänzchen, das botanisch »Embryo« heißt.

Ob ich den Kohlkopf abschneide oder die vom Baum gefallene Nuss verzehre – dazwischen liegt nur eine Nuance. Wo fängt für dich die Grenze an, die rote Linie, die Menschen beim Sich-Nähren-von-Anderen nicht überschreiten sollten?

Die Grenze heißt »Teilen«. Wer lebendig ist, wünscht nicht alles für sich allein. Deshalb bin ich ein großer Fan der Commons, der Allmende-Prinzipien. Sie beruhen darauf, dass immer ein Austausch zwischen allen Beteiligten herrscht – der Weide, den Tieren, den Nutzern, ihrer Freude, ihren Bedürfnissen. Dieser Austausch muss für das Ganze produktiv sein, soll Tiefe entstehen lassen. Dann lässt sich auch akzeptieren, dass Sterben zur Lebendigkeit gehört. Das unergründete Geheimnis unseres Existierens ist ja: Wir verwandeln uns in andere Körper, die dafür vergehen. Das ist absolut nicht-trivial. Die Konsequenzen dieser Beziehung erforscht aber keine Wissenschaft. Sie wird eigentlich überhaupt nicht verstanden. Stattdessen dominiert das Bild, Lebewesen seien kleine Maschinen, die Nahrung als Kraftstoff tanken – und wenn wir ein bisschen netter sind, tanken wir Biowürstchen.

Du sagtest vorhin, du könntest deinen Körper nicht verstehen, sondern nur er »sein« – so kannst du auch das Nicht-Triviale nicht verstehen, sondern nur es sein.

Das gefällt mir. Es kommt also weniger auf die Art des Wissens an als auf die Art des Seins. Macht es andere lebendiger? Oder schränkt es andere ein? Lebendige Fülle wird mehr, wenn wir sie teilen, aber nicht im quantitativen Sinn. Die Biosphäre ist während der Naturgeschichte nicht so gewachsen, wie die Menge an Autos auf den Straßen zunimmt, wenn die Wirtschaft wächst; mal war ihr Umfang kleiner, mal größer, aber es gibt in ihrem Wachsen keine Linearität oder Exponentialität. Was in der Evolution mehr wird, sind die Arten von Beziehungen zwischen Lebewesen, die Vielfalt ihrer Ausdrucksweisen – das meine ich mit »Tiefe«. Nimm eine Insel und warte ab. Mit der Zeit werden sich immer interessantere Arten von Bezügen entwickeln, auch ganz verrückte. Es gab auf einem kleinen Eiland vor Neuseeland eine Spechtart, die hat den Geschlechtsdimorphismus extrem weit vor­angetrieben: Das Männchen hatte einen extra dicken Schnabel, der zwar die Baumrinde problemlos aufhacken konnte, aber nicht mehr dafür geeignet war, die Maden herauszupicken. So musste das Weibchen das Männchen füttern. Eine solche Entwicklung ist in keiner Weise nützlich, aber sie passiert. Heute ist die Art ausgestorben.
Menschen, die als Teil eines Ökosystems koexistieren, tragen dazu bei, dass mehr Tiefe entsteht. Die Ökologie von Landschaften, die als Allmende bewirtschaftet werden, ist in der Regel gesund und vielfältig. Die Diversität der mitteleuropäischen Kulturlandschaft kommt unter anderem daher, dass die Menschen sie als Allmende genutzt und gerade darum nicht verbraucht haben. Die Kühe haben im Wald Eicheln gefressen, ihr Dung hat zahlreiche Insektenarten angelockt. In Estland habe ich einmal eine solche Waldweide bestaunt: Unter den Bäumen lag ein riesiges Blütenmeer, eine Fülle aller erdenklichen Blumenarten.

Die Fülle, die durch Koexistenz entsteht, ist eine ganz andere als die Idee der unbegrenzt verfügbaren Masse der sogenannten nachwachsenden Rohstoffe. »Erneuerbare Ressource« ist ein ganz schrecklicher, toter Begriff, weil er der mechanischen Ausbeutung des Lebendigen Tür und Tor öffnet.

Lebendigkeit ist immer ein Austausch. Für alles, was ich bekomme, muss ich auch etwas geben, sonst mache ich etwas tot. Diese eingehegte Welt, in der sich Maisäcker an Sojaplantagen und Massentierhaltungsställe reihen, ist eine Zombie-Welt. »Tot« steckt an. Du kannst nicht lebendiger werden, indem du auf das Tote setzt. Wir sind allzu leichtfertig der Meinung, Lebewesen seien Maschinen, Pflanzen seien Objekte, und wir Menschen seien eben anders, weil mit Geist begabt, der uns auf magische Weise Lebensprozesse steuern lässt, auch unsere eigenen. Aber alle Wesen, auch wir, sind Subjekte, die sich durch Begehrens- und Verwandlungsprozesse am Leben erhalten. Wer Leben kontrolliert, tötet es oder verwandelt es zur Zombie-Existenz.

Mir scheint, es wird noch nicht viel besser, wenn man die Objekte in Subjekte umstülpt, aber immer noch derselben Meinung bleibt, alles über sie wissen zu können. Ich frage mich oft: Kann ich intellektuell befriedigend leben, ohne etwas zu wissen? Mein »Not-Knowing« ist etwas anderes als das sokratische »Ich weiß, dass ich nichts weiß«: Mir geht es beim Nichtwissen um einen intensiveren Verbundenheitszustand.

Ich habe überlegt, ob ich unter dem Motto »Unlearning Brainhood« Seminare anbieten sollte. »Unknowing« wäre dann eine Parallele zu »Degrowth«: das Wissen so verlernen wie das materielle Wachsen. Ich verachte Rationalität nicht; mir geht es um eine Transformation dessen, was nicht gewusst werden kann, in Sprache. Aber das sollte auf eine Weise geschehen, dass dieses »Nicht-Gewusste« lebendig bleibt, nicht objektiviert und dadurch reduziert wird. Objektivierung heißt Kontrolle – des Ich und des Anderen; lebendig wahrzunehmen hingegen heißt loslassen. Dadurch ich selbst zu sein, dass ich in Verbindung mit anderem bin – das ist alles andere als trivial.
In der Schwangerschaft passiert genau das: Ein Selbst entsteht inmitten eines anderen. Die Herausforderung besteht darin, das zur Kultur zu machen. Selbstverständlich ist das keine konfliktfreie Straße zum Paradies, aber wir sind lebendig, und das ändert unser Verhalten.

Solche Vorstellungen stehen dem Para­digma der Bioökonomie diametral gegen­­über. Wie ließe sich daraus ein ­Handlungsstrang generieren, der Verän­derung schafft?

So ein Strang wäre ein verflochtener Zopf aus ganz verschiedenen Praktiken. Ich bezeichne ihn als »Politik des Lebens«. Grundsätzlich können wir Lebendigkeit nicht hochskalieren, sondern sie muss aus den einzelnen Allmenden wachsen wie Kristalle. In den letzten 500 000 Jahren haben Allmenden es den Menschen erlaubt, so an der Welt teilzuhaben, dass Zugehörigkeit, Versorgung, Vielfalt und Sinn entstehen. Daraus können wir Prinzipien ableiten, die das Rohmaterial einer zweiten Aufklärung bilden könnten. Der radikalste Schritt ist für mich, ganz und gar lebendig zu sein. ­Auch Lebendigkeit ist enorm ansteckend! Ich kenne niemanden, der sagte, »ich brauche mehr Normierung« oder »ich möchte stärker angekettet werden«. Alle sehnen sich danach, sich selbst und die Verbindung mit anderen wirklich zu spüren.
Lebendigkeit kannst du nicht verordnen, deshalb setze ich auf die Ansteckung. Eine Politik des Lebens würde zum Beispiel nie die Frage stellen, wie man 11 Milliarden Menschen biologisch ernähren kann. Das ist eine Frage für Planer aus dem Politbüro. Im Augenblick ernähren sich die Menschen einerseits dadurch, dass viele schädliche Prozesse stattfinden, andererseits lebt noch immer die Hälfte der Menschheit auf Subsistenzbasis. Statt von einer Utopie der ökologischen Effizienz zu träumen, sollten wir die bereits entstandenen toten Zonen in der Seele, aber auch in der Landschaft, wieder lebendig machen. Das Ideal der Effizienz ist ein Götze des Toten. Es hat die Welt in einen brutalen Kriegsschauplatz verwandelt. Nur die Rückgewinnung von Lebendigkeit kann die Gewalt mildern, weil sie wieder Raum für die Erfahrung von Freude und Sinn und Verbindung schafft. Auch auf ökologische Effizienz zu setzen, muss Verheerungen produzieren, wie gut auch immer gemeint.

Die Frage »Wie lassen sich 11 Milliarden Menschen ernähren?« wird ja per se falsch gestellt; sie ist übergriffig, als gäbe es da einen großen Ernährer. Die Menschen werden sich selbst ernähren, wenn sie in Ruhe gelassen werden und gemeinsam dort siedeln können, wo es noch Nahrung geben wird – da habe ich ein großes Vertrauen.

Aber sie werden nicht in Ruhe gelassen, sondern eingehegt und unterdrückt. Die meisten Konflikte heute haben nicht nur mit Ressourcenzugang zu tun, sondern mit fehlender Verbindung. Darum haben fundamentalistische Sinnangebote derart Zulauf.

All das wirft wieder die Frage auf, was heutige Menschen, die nicht mehr Teil der Zerstörung sein möchten – was sie ja zu Dissidenten macht! – tun können.

Selbst so lebendig sein wie möglich. In einer Zeit, die das Tote durch Kontrolle favorisiert, bedeutet das, unvermeidlich zum Dissidenten zu werden – Sand ins Getriebe der Maschine zu streuen. Die Kolonialisierung des Lebendigen durch das Tote ist kein kulturhistorisches Verhängnis, sondern eine Machtübernahme im Interesse von einigen wenigen Profiteuren. Ein Dissident steht für die Stimme des Lebens in ihm ein, ganz gleich, ob es fruchtet oder er allein bleibt. Stell dir Moskau im Jahr 1972 vor. Oder Prag nach dem Frühling. Damals konnte niemand die Regierung stürzen. Aber es gab Leute wie Václav Havel, der meinte: »Hoffnung ist eben nicht Optimismus, ist nicht Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.«
Daraus kann ich nicht drei druckreife Strategien entwickeln, eher ergibt sich eine Haltung – dass du im Zweifel so weit gehen würdest, zu sterben, damit Lebendigkeit sei. Dass du zur Wirklichkeit stehst wie Eltern zu ihrem Kind. Dann kann es dir passieren, dass du nicht daran vorbeikommst, massiv Sand ins Getriebe zu bringen. Wie Edward Snowden. Er war zufälligerweise an einer Stelle, an der sein Handeln eine gewaltige Tragweite hatte. So ein Mensch ist konsequent. So wie die Wasseramsel, die auch im tiefsten Winter die Würmer am Grund eines eisigen Wildbachs sucht, weil sie nicht anders kann – weil sie sonst nicht sie wäre, sondern tot.

Das Wissen, dass dieses Leben extrem fragil und unwahrscheinlich ist und im nächsten Moment auf banale Weise enden kann, das ist keine mentale Konzeption, sondern hat mit dem Fühlen zu tun. Hab herzlichen Dank für das schöne Gespräch! Lass es uns mit der Wasseramsel beschließen. •


Andreas Weber (47), Philosoph und Biologe, tätig als freier Publizist, lebt in Berlin und im ­ligurischen Varese. www.autor-andreas-weber.de

Lebendigkeits-Bücher von Andreas Weber:
• Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Neuausgabe thinkOya, 2014
• Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie. Kösel, 2014
• Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Matthes & Seitz, 2015
• Mit Hildegard Kurt: Lebendigkeit sei! Ein Manifest für das Anthropozän. thinkOya, 2015

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