Die Kraft der Vision

Klarstellungen

Poetische Grundlegung für gutes Menschsein in einer belebten Welt.von Wendell Berry, erschienen in Ausgabe #35/2015
Photo
© www.michaellindenberger.com

Lass mich ehrlich zu dir sein, lieber Leser.
Ich bin ein altmodischer Mensch. Ich mag
die Welt der Natur, trotz ihrer tödlichen
Gefahren. Ich mag die häusliche Welt
der Menschen, solange sie ihre Schulden
bei der natürlichen Welt bezahlt und sich in Grenzen hält.
Ich mag das Himmelsversprechen. Mein Ziel
ist eine Sprache, die gerechten Dank
für diese Gaben sagen und sie ehren kann, eine Zunge,
die frei von eleganten Lügen ist.

Weder diese Welt noch irgendeiner ihrer Orte
ist eine »Umwelt«. Und ein zum Verkauf stehendes Haus
ist kein »Zuhause«. Wirtschaft
ist nicht »Wissenschaft«, »Information« nicht Wissen.
Ein Gauner mit einem Hochschulabschluss ist ein Gauner. Ein Narr
in einem öffentlichen Amt ist kein »Anführer«.
Ein reicher Dieb ist ein Dieb. Und der Geist
von Arthur Moore, der mich Chaucer lehrte,
kehrt in der Nacht wieder, um mich noch einmal daran zu erinnern:
»Lass dir eines gesagt sein, Junge:
Eine intellektuelle Hure ist eine Hure.«

Die Welt ist in Stücke zerredet worden,
seit die Dinge von ihren Namen geschieden wurden.
Ständige Kriegsvorbereitung
ist kein Frieden. Gesundheit wird nicht
durch den Verkauf von Medikamenten erlangt, Reinheit
nicht durch den Zusatz von Gift. Wissenschaft
auf Geheiß von Konzernen
ist auf Handelsgut reduziertes Wissen;
ist eine Prostitution des Geists,
ebenso wie die List, die das »Fortschritt« nennt;
ebenso wie die Feigheit, die das »unausweichlich« nennt.

Ich denke, die Frage nach »Identität«
ist größtenteils Humbug. Wir sind unsere Taten,
und das schließt unsere Versprechen, schließt
unsere Hoffnungen ein, vor allem aber unsere Versprechen.
Ich weiß, dass ein »Fötus« ein Menschenkind ist.
Ich liebte meine Kinder von dem Moment an,
in dem sie empfangen wurden, und liebte ihre
Mutter, die sie von dem Moment an
liebte, in dem sie empfangen wurden,
und noch davor. Wer sind wir, zu behaupten,
die Welt habe nicht in Liebe begonnen?

Ich möchte in Liebe sterben, so wie ich in Liebe geboren wurde,
und möchte, arm an Leben, als ich selbst
in die Liebe eingehen, in der alles Fleisch beginnt
und endet. Ich mag keine Maschinen,
die weder sterblich noch unsterblich sind,
obwohl ich gezwungen bin, sie zu benutzen.
(So vervollkommnet unser Zeitalter seinen Klammergriff.)
Eines Tages werden sie fort sein, und das
wird ein froher und ein heiliger Tag sein.
Ich meine die üblen Maschinen, die laufen,
indem sie den Körper der Welt
und ihren Atem verbrennen. Wenn ich ein Flugzeug sehe,
das durch den einst so reinen Himmel qualmt,
oder ein Vehikel im Weltraum
mit seinem kleinen Innenraum,
das nachts einen Stern imitiert, sage ich:
»Raus hier!«, wie ich einen Fuchs
oder einen Dieb aus dem Hühnerstall scheuchen würde.
Wenn ich höre, dass der Börsenkurs gefallen ist,
sage ich: »Lang lebe die Schwerkraft! Lang lebe
die Dummheit, der Irrtum und die Gier in den Palästen
des Phantasie-Kapitalismus!« Ich meine,
dass eine Wirtschaft sich auf Sparsamkeit gründen sollte,
auf der Sorge um die Dinge, nicht auf Diebstahl,
Wucher, Verführung, Vergeudung und Ruin.

Mein Ziel ist eine Sprache, die uns ganz machen kann,
trotz unserer Sterblichkeit, Unwissenheit und Kleinheit.
Die Welt ist ganz, jenseits allen Menschenwissens.
Das Leben des Körpers gehört ihm selbst, unberührt
vom kleinen Uhrwerk der Erklärung.
Ich sage ja zum Tod, wenn er beizeiten
zu den Alten kommt. Ich möchte nicht ewig
in sterblichen Begriffen leben oder auch nur
eine Stunde als ausgekühlter Eintopf aus Stücken
anderer Menschen überleben. Ich glaube nicht, dass
Maschinen Leben oder Wissen spenden können.
Die Maschinenökonomie hat den Haushalt
der menschlichen Seele in Brand gesetzt,
und alle Geschöpfe verbrennen darin.

»Geistiges Eigentum« bezeichnet
die Urkunde, die den Geist kauft
und verkauft und die Welt versklavt. Wir,
die wir uns selbst nicht besitzen, sondern frei sind,
besitzen durch Diebstahl, was Gott,
der lebendigen Welt und zu gleichen Teilen
uns allen gehört. Wie könnten wir auch einen Teil
von etwas besitzen, das wir nur als Ganzes
haben können? Das Leben ist ein Geschenk,
das wir nur erhalten, indem wir es wieder zurückgeben.
Lasst uns dies klarstellen: »Der Arbeiter ist sein
Entgelt wert«, aber er kann nicht besitzen, was er weiß,
weil er es frei weitergeben muss, damit die Arbeit
nicht mit dem Arbeiter stirbt. Der Bauer
ist die Ernte wert, die er zur rechten Zeit
eingebracht hat, aber er muss das Licht,
bei dem er pflanzte, aufzog und erntete,
den Samen, der in seiner Sterblichkeit unsterblich ist,
frei den kommenden Zeiten überlassen. Auch das Land
behält er, indem er es aufgibt,
so, wie der Denker einen Gedanken fasst und weitergibt,
so, wie der Sänger die Allmende des gemeinsamen Luftraums
mit Gesang erfüllt.

Ich glaube nicht, dass »wissenschaftliches Genie«
mit seinem naiven Machtanspruch
der Natur oder auch der menschlichen Kultur
ebenbürtig ist. Sein gedankenloses Eindringen
in Atom- und Zellkerne
und jede Behausung dieser Welt
hat uns nicht ins Licht geführt,
sondern weiter in die Dunkelheit
geschickt. Auch glaube ich nicht,
dass »künstlerischer Genius« der Besitz
irgendeines Künstlers ist. Niemand hat die Kunst erschaffen,
mit der man die Kunstwerke schafft. Jeder, der spricht, spricht
als Versammlung. Wir leben als Konzile
der Geister. Nicht der »menschliche Genius«
macht uns menschlich, sondern eine alte Liebe,
eine alte Intelligenz des Herzens,
die wir aus der uns umgebenden Welt zusammenklauben,
von den Geschöpfen, den Engeln
der Inspiration, von den Toten –
eine Intelligenz, die für jene, die sie nicht haben,
schlichtweg nicht existiert –
doch jenen, die sie haben,
ist sie kostbarer als das eigene Leben.

Und als ebenso zart bekannt sind
die Gefühle, die eine Frau und einen Mann,
ihren Haushalt und ihre Heimat eins werden lassen.
Auch diese können, obwohl bekannt, jenen nicht erzählt werden,
die sie nicht kennen, und immer weniger
von uns erlernen sie von Jahr zu Jahr.
Diese Gefühle verlassen die Welt
wie die Farben ausgestorbener Vögel,
wie die Lieder einer toten Sprache.

Denk nur an den Genius der Tiere,
ein jedes wahrhaft, was es ist:
Mücke, Fuchs, Hundsfisch, Schwalbe, ein jedes gemacht
aus Licht, ein jedes leuchtend aus sich selbst heraus.
Sie verstehen (besser als wir),
an den Orten zu leben, wo sie leben.
Und so möchte ich ein wahres
Menschenwesen sein, lieber Leser – eine Wahl,
die heute in Gänze nicht mehr möglich ist.
Aber dafür bin ich gemacht, das ist die Seite,
auf der ich stehe. Und das ist es, was du
von mir erwarten solltest, so wie ich es von mir selbst erwarte,
auch wenn wir auf die Verwirklichung werden warten müssen,
vielleicht eintausend oder eine Million Jahre.•


Das Original von Wendell Berrys Gedicht erschien erstmals unter dem Titel »Some Further Words« in seinem 2005 bei Counterpoint Press verlegten Gedichtband »Given. Poems«. Die deutsche Übersetzung, die wir hier leicht bearbeitet wiedergeben, erschien unter dem Titel »Einige weitere Worte« in dem Buch »Spirituelle Ökologie. Der Ruf der Erde«, herausgegeben von ­Llewellyn Vaughan-Lee. © Neue Erde Verlag 2015.


Wendell Berry (81) kam als ältestes von vier Kindern in Henry County, Kentucky, zur Welt. Ein Stipendium ermöglichte ihm, ein Studium in kreativem Schreiben an der Universität Stanford zu absolvieren. Nach kurzem Aufenthalt in New York City erwarb er in den 1960er Jahren eine »marginale Farm« in Kentucky, die er seitdem als Landwirt und Essayist, Romancier und Viehzüchter, Bodenverbesserer und Poet bestellt. Sein zen­trales Thema ist die Einheit von Kultur, Natur und Landbau. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Berry durch den 1977 erschienenen Essayband »The ­Unsettling of America« bekannt. Darin übte er scharfe Kritik an der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie und warnte vor den Folgen des durch agrarindustriellen Raubbau verursachten Humusverlusts und der damit einhergehenden kulturellen Verarmung. In den USA gilt Wendell Berry als bedeutender Pionier der Gegenkultur und Umweltbewegung. Seine erdverbundenen Weisheiten schöpft er aus gelebter bäuerlicher Praxis. Neben Essays veröffentlichte er zahlreiche Romane und Lyrikbände. Berry wurde mit vielen Auszeichnungen bedacht und ist Fellow der American Academy of Arts and ­Sciences. Seit fünf Jahrzehnten lebt und arbeitet er als »Mad ­Farmer« mit seiner Frau Tanya auf der gemein­samen Farm in Port Royal am Kentucky River.

www.wendellberrybooks.com

weitere Artikel aus Ausgabe #35

Photo
von Farah Lenser

Der Regenwurm ist immer der Gärtner (Buchbesprechung)

Amy Stewart, Autorin dieses wunderbaren Buchs über den Regenwurm, bezeichnet sich selbst als Gärtnerin, die sich für Regenwürmer interessiert, und nicht als Wissenschaftlerin. Doch was sie hier über ihre Beobachtungen zu Regenwürmern im Dialog mit Biologinnen,

von Anke Caspar-Jürgens

Der gemeinsame Alltag ist wichtig

Junge Menschen verhalten sich für uns Erwachsene oft unverständlich. Herbert, in deinen Büchern begründest du das mit dem Argument, ihr Verhalten sei von den Lebensbedingungen in vorgeschichtlicher Zeit geprägt und daher von erwachsenen Menschen, die sich der Moderne

Photo
von Anke Caspar-Jürgens

Frei sich bilden (Buchbesprechung)

Der Autor des Buchs »Frei sich bilden. Entschulende Perspektiven«, Bertrand Stern, ist seit fast 50 Jahren als zivilisationskritischer Philosoph mit Fragen zum menschlichen Leben unterwegs. Eines seiner zen­tralen Themen ist die Würde des Menschen, worauf er seine Kritik am

Ausgabe #35
Vom Wert des Lebendigen

Cover OYA-Ausgabe 35
Neuigkeiten aus der Redaktion