Poetische Grundlegung für gutes Menschsein in einer belebten Welt.von Wendell Berry, erschienen in Ausgabe #35/2015
Lass mich ehrlich zu dir sein, lieber Leser. Ich bin ein altmodischer Mensch. Ich mag die Welt der Natur, trotz ihrer tödlichen Gefahren. Ich mag die häusliche Welt der Menschen, solange sie ihre Schulden bei der natürlichen Welt bezahlt und sich in Grenzen hält. Ich mag das Himmelsversprechen. Mein Ziel ist eine Sprache, die gerechten Dank für diese Gaben sagen und sie ehren kann, eine Zunge, die frei von eleganten Lügen ist.
Weder diese Welt noch irgendeiner ihrer Orte ist eine »Umwelt«. Und ein zum Verkauf stehendes Haus ist kein »Zuhause«. Wirtschaft ist nicht »Wissenschaft«, »Information« nicht Wissen. Ein Gauner mit einem Hochschulabschluss ist ein Gauner. Ein Narr in einem öffentlichen Amt ist kein »Anführer«. Ein reicher Dieb ist ein Dieb. Und der Geist von Arthur Moore, der mich Chaucer lehrte, kehrt in der Nacht wieder, um mich noch einmal daran zu erinnern: »Lass dir eines gesagt sein, Junge: Eine intellektuelle Hure ist eine Hure.«
Die Welt ist in Stücke zerredet worden, seit die Dinge von ihren Namen geschieden wurden. Ständige Kriegsvorbereitung ist kein Frieden. Gesundheit wird nicht durch den Verkauf von Medikamenten erlangt, Reinheit nicht durch den Zusatz von Gift. Wissenschaft auf Geheiß von Konzernen ist auf Handelsgut reduziertes Wissen; ist eine Prostitution des Geists, ebenso wie die List, die das »Fortschritt« nennt; ebenso wie die Feigheit, die das »unausweichlich« nennt.
Ich denke, die Frage nach »Identität« ist größtenteils Humbug. Wir sind unsere Taten, und das schließt unsere Versprechen, schließt unsere Hoffnungen ein, vor allem aber unsere Versprechen. Ich weiß, dass ein »Fötus« ein Menschenkind ist. Ich liebte meine Kinder von dem Moment an, in dem sie empfangen wurden, und liebte ihre Mutter, die sie von dem Moment an liebte, in dem sie empfangen wurden, und noch davor. Wer sind wir, zu behaupten, die Welt habe nicht in Liebe begonnen?
Ich möchte in Liebe sterben, so wie ich in Liebe geboren wurde, und möchte, arm an Leben, als ich selbst in die Liebe eingehen, in der alles Fleisch beginnt und endet. Ich mag keine Maschinen, die weder sterblich noch unsterblich sind, obwohl ich gezwungen bin, sie zu benutzen. (So vervollkommnet unser Zeitalter seinen Klammergriff.) Eines Tages werden sie fort sein, und das wird ein froher und ein heiliger Tag sein. Ich meine die üblen Maschinen, die laufen, indem sie den Körper der Welt und ihren Atem verbrennen. Wenn ich ein Flugzeug sehe, das durch den einst so reinen Himmel qualmt, oder ein Vehikel im Weltraum mit seinem kleinen Innenraum, das nachts einen Stern imitiert, sage ich: »Raus hier!«, wie ich einen Fuchs oder einen Dieb aus dem Hühnerstall scheuchen würde. Wenn ich höre, dass der Börsenkurs gefallen ist, sage ich: »Lang lebe die Schwerkraft! Lang lebe die Dummheit, der Irrtum und die Gier in den Palästen des Phantasie-Kapitalismus!« Ich meine, dass eine Wirtschaft sich auf Sparsamkeit gründen sollte, auf der Sorge um die Dinge, nicht auf Diebstahl, Wucher, Verführung, Vergeudung und Ruin.
Mein Ziel ist eine Sprache, die uns ganz machen kann, trotz unserer Sterblichkeit, Unwissenheit und Kleinheit. Die Welt ist ganz, jenseits allen Menschenwissens. Das Leben des Körpers gehört ihm selbst, unberührt vom kleinen Uhrwerk der Erklärung. Ich sage ja zum Tod, wenn er beizeiten zu den Alten kommt. Ich möchte nicht ewig in sterblichen Begriffen leben oder auch nur eine Stunde als ausgekühlter Eintopf aus Stücken anderer Menschen überleben. Ich glaube nicht, dass Maschinen Leben oder Wissen spenden können. Die Maschinenökonomie hat den Haushalt der menschlichen Seele in Brand gesetzt, und alle Geschöpfe verbrennen darin.
»Geistiges Eigentum« bezeichnet die Urkunde, die den Geist kauft und verkauft und die Welt versklavt. Wir, die wir uns selbst nicht besitzen, sondern frei sind, besitzen durch Diebstahl, was Gott, der lebendigen Welt und zu gleichen Teilen uns allen gehört. Wie könnten wir auch einen Teil von etwas besitzen, das wir nur als Ganzes haben können? Das Leben ist ein Geschenk, das wir nur erhalten, indem wir es wieder zurückgeben. Lasst uns dies klarstellen: »Der Arbeiter ist sein Entgelt wert«, aber er kann nicht besitzen, was er weiß, weil er es frei weitergeben muss, damit die Arbeit nicht mit dem Arbeiter stirbt. Der Bauer ist die Ernte wert, die er zur rechten Zeit eingebracht hat, aber er muss das Licht, bei dem er pflanzte, aufzog und erntete, den Samen, der in seiner Sterblichkeit unsterblich ist, frei den kommenden Zeiten überlassen. Auch das Land behält er, indem er es aufgibt, so, wie der Denker einen Gedanken fasst und weitergibt, so, wie der Sänger die Allmende des gemeinsamen Luftraums mit Gesang erfüllt.
Ich glaube nicht, dass »wissenschaftliches Genie« mit seinem naiven Machtanspruch der Natur oder auch der menschlichen Kultur ebenbürtig ist. Sein gedankenloses Eindringen in Atom- und Zellkerne und jede Behausung dieser Welt hat uns nicht ins Licht geführt, sondern weiter in die Dunkelheit geschickt. Auch glaube ich nicht, dass »künstlerischer Genius« der Besitz irgendeines Künstlers ist. Niemand hat die Kunst erschaffen, mit der man die Kunstwerke schafft. Jeder, der spricht, spricht als Versammlung. Wir leben als Konzile der Geister. Nicht der »menschliche Genius« macht uns menschlich, sondern eine alte Liebe, eine alte Intelligenz des Herzens, die wir aus der uns umgebenden Welt zusammenklauben, von den Geschöpfen, den Engeln der Inspiration, von den Toten – eine Intelligenz, die für jene, die sie nicht haben, schlichtweg nicht existiert – doch jenen, die sie haben, ist sie kostbarer als das eigene Leben.
Und als ebenso zart bekannt sind die Gefühle, die eine Frau und einen Mann, ihren Haushalt und ihre Heimat eins werden lassen. Auch diese können, obwohl bekannt, jenen nicht erzählt werden, die sie nicht kennen, und immer weniger von uns erlernen sie von Jahr zu Jahr. Diese Gefühle verlassen die Welt wie die Farben ausgestorbener Vögel, wie die Lieder einer toten Sprache.
Denk nur an den Genius der Tiere, ein jedes wahrhaft, was es ist: Mücke, Fuchs, Hundsfisch, Schwalbe, ein jedes gemacht aus Licht, ein jedes leuchtend aus sich selbst heraus. Sie verstehen (besser als wir), an den Orten zu leben, wo sie leben. Und so möchte ich ein wahres Menschenwesen sein, lieber Leser – eine Wahl, die heute in Gänze nicht mehr möglich ist. Aber dafür bin ich gemacht, das ist die Seite, auf der ich stehe. Und das ist es, was du von mir erwarten solltest, so wie ich es von mir selbst erwarte, auch wenn wir auf die Verwirklichung werden warten müssen, vielleicht eintausend oder eine Million Jahre.•
Wendell Berry (81) kam als ältestes von vier Kindern in Henry County, Kentucky, zur Welt. Ein Stipendium ermöglichte ihm, ein Studium in kreativem Schreiben an der Universität Stanford zu absolvieren. Nach kurzem Aufenthalt in New York City erwarb er in den 1960er Jahren eine »marginale Farm« in Kentucky, die er seitdem als Landwirt und Essayist, Romancier und Viehzüchter, Bodenverbesserer und Poet bestellt. Sein zentrales Thema ist die Einheit von Kultur, Natur und Landbau. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Berry durch den 1977 erschienenen Essayband »The Unsettling of America« bekannt. Darin übte er scharfe Kritik an der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie und warnte vor den Folgen des durch agrarindustriellen Raubbau verursachten Humusverlusts und der damit einhergehenden kulturellen Verarmung. In den USA gilt Wendell Berry als bedeutender Pionier der Gegenkultur und Umweltbewegung. Seine erdverbundenen Weisheiten schöpft er aus gelebter bäuerlicher Praxis. Neben Essays veröffentlichte er zahlreiche Romane und Lyrikbände. Berry wurde mit vielen Auszeichnungen bedacht und ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences. Seit fünf Jahrzehnten lebt und arbeitet er als »Mad Farmer« mit seiner Frau Tanya auf der gemeinsamen Farm in Port Royal am Kentucky River.