Ein Besuch bei der »Freien Schule Rügen«.
von Christine Simon, erschienen in Ausgabe #35/2015
Mit welch unbändiger Freude Kinder lernen, wenn sie sich frei und geborgen fühlen, und wie sie ihr Umfeld geradezu entzünden, ihre Lernlust zu teilen, fasziniert mich, seitdem ich mit Kindern lebe. Dieses Glück, mit Kindern zu wachsen, ist mir zuteil geworden, seitdem ich Mutter bin. Jetzt, nach fast 40 Jahren Leben in Gemeinschaft, gehöre ich zu einem Kreis von Eltern und Großeltern aus dem Lassaner Winkel, der sich seit Frühling dieses Jahres beständig der Frage widmet: Wie können – unter den rigiden bildungspolitischen Bedingungen – bei uns Formen entstehen, die Lernen in Freiheit und Geborgenheit möglich machen und schützen? Bei einem unserer letzten Treffen entstand die Idee, auf eine kleine »Forschungsreise« zu gehen und gemeinsam die nahegelegene Freie Schule Rügen zu besuchen.
Unser Weg führte uns durch goldleuchtende Alleen in das Dörfchen Dreschwitz zu einem weißen Haus mit bunt angestrichenen Fensterrahmen, an dem in großen, blauen Buchstaben »Freie Schule Rügen« prangte. Wir kamen mitten ins Gewusel von Kindern in der Mittagspause; eine Stimmung von Lebendigkeit, Wärme und Freundlichkeit schlug uns entgegen. Zwei Frauen, die Gründerin und Projektkoordinatorin Heike Balzer und die pädagogische Leiterin Monika Morawietz, führten uns durch das weitläufige Gelände – über den sanft abfallenden Hang zum »Zauberwald« mit seinen unter dichtem Laub und Geäst verborgenen Klettergerüsten; daneben das kleine Amphitheater mit ehrwürdigen Natursteinen, das Bächlein am Fuß des Grundstücks, in dem Kinder in Gummistiefeln umherplatschten, und die weit ausschwingenden Wiesen, die zum Toben einladen. Hinter dem weißen Haus – dem Hort, wie wir später erfahren – öffnet sich ein rot gepflasterter Innenhof mit geschwungenen Wegen, die zu zwei langgestreckten, gemütlich aussehenden Holzhäusern führen. Sie beherbergen die jahrgangsübergreifenden Klassen eins bis drei und vier bis sechs.
Starke Frauen
Dieser Lernort versteht sich als Halbtagsgrundschule mit integriertem Hort samt einer Orientierungsstufe als Ganztagsschule für die Jahrgänge fünf und sechs. Die Geschichte begann im Jahr 2000 mit der Geburt einiger Kinder von drei befreundeten Müttern auf der Insel Rügen, die sich Gedanken um unser Bildungssystem machten. Aus ihrem »ABC auf Norddeutsch« zur Gründung der Freien Schule Rügen: »Wir kannten Schulen der Insel durch befreundete Kinder und Eltern und durch eigene Unterrichtspraxis als Lehrerinnen. Leistungsdruck, Angst vor Schulversagen, Bauchschmerzen schon bei Erstklässlern und die deutlich schwindende Freude am Lernen und Entdecken wollten wir unseren eigenen Kindern unbedingt ersparen.« Innerhalb kurzer Zeit sprach sich die Kunde von der Schulgründungsinitiative herum, und sie wuchs in wenigen Monaten auf zwölf Frauen an, die sich einmal in der Woche trafen. Voll Enthusiasmus stürzten sie sich auf den riesigen Berg Arbeit, der vor ihnen lag, hospitierten an unterschiedlichsten freien Schulen in Deutschland und entwickelten ein pädagogisches Konzept, das viele Ansätze integriert – angefangen bei Maria Montessori über Jürgen Reichen bis hin zu Rebeca und Mauricio Wild. Besonders wichtig war und ist ihnen die intensive Einbeziehung der Natur. So heißt es in ihrer offiziellen Kurzvorstellung zu den Zielen der Schule: »Gestaltungskompetenz als grundlegendes Ziel einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« – ihre Schule wird zu einer Umweltschule mit Garten, Tierhaltung und alltäglichen Projekten mit und in der Natur. Die Mütterinitiative wird anfangs auf Rügen belächelt; man traut den Frauen nicht zu, die gewaltigen Hürden zu nehmen, die vor ihnen liegen. Doch sie schaffen es: Im November 2003 wird ihnen vom Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern die Schulgenehmigung erteilt. Ebenso schaffen sie es, immense Stiftungsmittel für Sanierung und Bau der Gebäude aufzutreiben und die drei ersten Jahre, in denen das Ministerium nichts zum Betreiben der Schule beiträgt, mit Hilfe von Eltern- und Förderbeiträgen an den Verein »UmWeltSchule Rügen e. V.« sowie den »Förderverein UmWeltSchule Rügen e. V.«, zu überbrücken. Bereits im Jahr 2005 hat die Schule Wartelisten bis zum Schuljahr 2011. Bis heute kann sie nur jeweils die Hälfte der neu angemeldeten Kinder aufnehmen. Die Vereine wurden bis 2012 ausschließlich von Frauen betrieben; seit drei Jahren ist auch ein Mann im Vorstand. Bei einem Blick auf das Organigramm der Schule fällt auf, dass beständig Querlinien auf die Verbundenheit der einzelnen Organisationsebenen verweisen und dazwischen zu lesen ist: »sehr enge Zusammenarbeit«. Vielleicht ist das ein Schlüssel zum Gelingen dieses Projekts? Ein weiteres Wort kommt mir in den Sinn, während ich den Erzählungen von Heike Balzer und Monika Morawietz lausche, aus denen auch nach zwölf Jahren Schulalltag noch Freude und Enthusiasmus klingen: Kontinuität. Hier ist spürbar, dass der gute Geist des Anfangs nicht verwässert ist. Heike erzählt, dass alle darauf achten, ihr ursprüngliches Konzept beizubehalten: »Selbstgesteuertes Lernen, Stärkung der Autonomie und Eigenverantwortlichkeit der Kinder, Förderung der Lust am Forschen, Entdecken und Erkennen […], ganzheitliches und exemplarisches Lernen, z. B. in themenorientierten ›Werkstätten‹.«
Doch was ist es, das die Atmosphäre dieses Orts so schön und besonders sein lässt? Im Gespräch mit Heike erfahre ich, dass ihnen sowohl bei der inhaltlichen Gestaltung des Schulalltags als auch bei der Auswahl der Lehrenden eines am wichtigsten ist: die Weite des Herzens. Diese Qualität ist es, die ich in den Räumen spüre; sie ist es wohl, die das Leben der Schule zusammenhält und trägt. Überall begegne ich ihr in kleinen Details, so z. B. in der Entscheidung, das weitläufige Grundstück nicht mit einem Zaun zu versehen, sondern den Kindern zu vertrauen, dass sie mit der offenen Grenze selbstverantwortlich umgehen. Ich begegne ihr auch in der kleinen Holzwerkstatt, in der sich drei Jungen und ein Mädchen tummeln, begleitet von einem jungen Mann. Schmunzelnd und mit blitzenden Augen erzählt er uns, dass die Kinder hier mit scharfen japanischen Sägen arbeiten, professionellem Werkzeug also, nicht etwa mit Kindersägen. Er hat volles Vertrauen in die drei, dass sich niemand verletzt – es sei auch noch nie etwas Schlimmes passiert. Ein Junge läuft mit einer kunstvollen kleinen Holzfigur auf uns zu. »Das muss ich nachbauen!«, ruft er. Woher kam dieses »muss«, fragt es in mir. Doch ich weiß es: Es kam aus einer Art innerer Notwendigkeit, die schon Kandinsky als Basis künstlerischen Schaffens beschrieb – oder anders gesagt: aus einer brennenden Lust, etwas zu tun, was originär dem eigenen Impuls erwächst. •
Christine Simon (62) ist Musikerin und lebt seit 1977 in der intentionalen Gemeinschaft, die heute das Zukunftswerk Klein Jasedow trägt. Sie ist Mitbegründerin der Europäischen Akademie der Heilenden Künste.