Eine Leuchtturm-Initiative in Mecklenburg vernetzt die europäische Lehmbaubewegung.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #36/2016
Das zweihundertjährige Küsterhaus, ein Fachwerkbau im mecklenburgischen Dorf Retzow in der Gemeinde Ganzlin, war im Jahr 1990 abbruchreif. Die Füllung mancher Gefache war schon herausgebrochen. »Weg damit!«, meinte die Bürgermeisterin. »Nein, das übernehmen wir«, entgegnete Klaus Hirrich. »Wir« – das waren die Mitglieder des »Vereins zur Förderung angemessener Lebensverhältnisse westlich des Plauer Sees« (FAL), gegründet von Menschen, die schon vor dem Mauerfall in Bürgerbewegungen aktiv gewesen waren und jetzt, in der Nachwende-Zeit, die Gestaltung ihres Umfelds in die Hände nehmen und sinnvolle neue Arbeitsfelder schaffen wollten. Annette Schickert, die Lebensgefährtin von Klaus Hirrich, sah in dem betagten Küsterhaus eine zukünftige Textilmanufaktur, in der Frauen altes Handwerk lebendig halten würden. Die Herausforderung: Das Haus stand unter Denkmalschutz. Annette, Klaus und ihre Mitstreiterinnen waren keine Baufachleute; sie hatten lediglich eine Gruppe von vornehmlich Frauen in eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gebracht und wollten nun gemeinsam mit ihnen das Küsterhaus als erstes Projekt angehen. Mit archäologischem Eifer nahmen sie es unter die Lupe. In den Zwischenräumen des Fachwerks fanden sie Weidenästchen eingeklemmt, dazwischen ein bröselig-braunes Material: Lehm. »Ahnungslos, wie wir waren, haben wir überall herumgefragt, wer uns dabei helfen könnte, so eine Wand zu renovieren«, erzählt Klaus. »Wir mussten ziemlich weit suchen. In Krummenhagen bei Stralsund fand sich schließlich jemand.« Zu bauen wie vor 200 Jahren, begann alle Beteiligten mehr und mehr zu faszinieren. Der Umgang mit dem Lehm war für jede und jeden erlernbar. Klaus recherchierte und verstand, dass Lehm immer dann in der Geschichte Europas als Baustoff eine wichtige Rolle gespielt hat, wenn es wenig Geld gab – er war der klassische Arme-Leute-Baustoff. Nach den Weltkriegen erlebte er jeweils einen Aufschwung. »In der DDR hat es bis in die 1950er Jahre hinein noch eine Lehmbauschule gegeben«, erzählt Klaus. »Es wurden sogar recht viele Stampflehmhäuser gebaut – das ist die Technik, bei der ein Lehm-Sand-Kiesel-Gemisch in eine Schalung gestampft wird und dann tragende Wände bildet. Einmal habe ich mit einem alten Handwerker gesprochen, der bis in die 1960er Jahre noch einen auf Stampflehm spezialisierten Betrieb hatte. An einem schönen Sommertag ging einmal unversehens ein Gewitterguss über einer seiner Baustellen nieder. Dabei sind die Lehmwände komplett zerflossen, denn Planen zum Abdecken waren zu dieser Zeit schwierig zu bekommen. Den Lehmbau hat er nach diesem Erlebnis aufgegeben und auf Stein umgestellt.« Ist Lehm denn tatsächlich nur eine Notlösung? Nein, es muss nur beachtet werden, dass die Baustelle abgedeckt ist und die Wände nicht nass werden – also muss ausreichend Dachüberstand gebaut und außen zum Beispiel – wie beim alten Retzower Küsterhaus – ein Kalk-Kasein-Anstrich aufgebracht werden. Dann stehen gut gegründete Lehmwände Hunderte von Jahren.
Lehm zieht ein buntes Volk an Dass ein paar verrückte Leute am Plauer See in Sachen Lehmbau unterwegs waren, sprach sich nach kurzer Zeit herum. Die Lehmbau-Szene war in den 1990er Jahren äußerst überschaubar. »1993 waren wir auf einem Kongress, den Lehm-Handwerkerinnen und -Handwerker an der Technischen Universität Aachen organisiert hatten – da haben wir die ganzen Typen kennengelernt«, erinnert sich Klaus. Solche Typen waren zum Beispiel Burkard Rüger oder Piet Karlstedt, Lehmbau-Pioniere der ersten Stunde. Sie schauten in Wangelin vorbei – und blieben hängen. Was schien hier alles möglich! Herzliche, lehmbegeisterte Menschen, die sich ohne Machtgerangel gut organisieren konnten, viele von ihnen in der Kommunalpolitik aktiv, jede Menge zu renovierende alte Dorfhäuser, wunderschöne Landschaft – alles, was das Herz begehrt. Es dauerte nicht lange, da war Piet hergezogen. »Piet schleppte noch mehr spannende Leute an«, erzählt Klaus. »Eines Tages brachten sie Khuda Dad Khademi mit, der aus Afghanistan kam. Er hatte in Hamburg Bauingenieurwesen mit Schwerpunkt Betonbau studiert, aber sein Herz war immer noch beim Baustoff seiner Kindheit, dem Lehm. Er brachte sein Wissen aus einer traditionellen Gesellschaft mit, und dazu gehörte auch, dass er abends am Feuer ein Lamm rösten konnte.« Auch Khuda Dad zog nach kurzer Zeit nach Wangelin, genoss den weltoffenen und zugleich heimatverbundenen Geist an diesem Ort – und zog seinerseits weitere Menschen an, wie die Lehmputzerin Irmela Fromme. »Unsere ersten Baustellen Mitte der 90er Jahre haben allen enormen Spaß gemacht«, erinnert sich Klaus. »Bei der Arbeit kamen uns neue Gedanken, und alle meinten: Wir sollten mehr tun!« Das »Mehr« kam mit einem Angebot des Nachbardorfs Gnevsdorf, das den FAL fragte, ob der Verein nicht eine große alte Scheune geschenkt haben wolle. »Warum machen wir daraus kein Lehmmuseum?«, fragten sich dessen Mitglieder – und das löste eine große Dynamik aus, die dazu geführt hat, dass es heute die 54 Kilometer lange »Lehm- und Backsteinstraße« gibt, in deren Verlauf Reisende verschiedenste traditionell renovierte Bauwerke der Region bewundern können. Außerdem gründete sich die »Lehmklut GmbH«, eine der ersten Lehmbaufirmen in Ostdeutschland. Das Küsterhaus von Retzow war inzwischen fertig geworden, und wie erträumt, zog dort eine Filzerei ein, die zugleich eine offene Werkstatt zum Mitmachen ist – die »Ülepüle«. Auch ein anderer Traum, den Annette Schickert und Klaus Hirrich seit der Wende verfolgt hatten, war inzwischen gewachsen: der Wangeliner Kräutergarten, in dem Kinder- und Jugendprojekte stattfinden und der zunehmend Touristen anzog. Im Jahr 2000 entstand dort der erste Wangeliner Neubau: das »Lehmhaus« mit massiven Stampflehmwänden, das ein Café, einen Laden für regionale Produkte und Seminarräume beherbergt. Damit hätte die Geschichte eigentlich zuende sein können, und vielerorts enden die Pioniergeschichten der Nachwendezeit genau so: Firma gegründet, Kultur-Angebote in die Welt gesetzt, »blühende Landschaft« geschaffen. Aber der Wangeliner Impuls geht über den eigenen Nestbau hinaus.
Ganz Europa baut mit Lehm »Wir sollten mehr tun!« – Anfang des neuen Jahrtausends war dieses Gefühl wieder da. Die Zeit der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ging zu Ende, es stand an, die Bildungsarbeit in Wangelin auf neue Beine zu stellen. Aber um ein solides Kursprogramm zu etablieren, brauchte das Team Verstärkung. Irmela Fromme, die Meisterin im Glattziehen und Modellieren von Lehmoberflächen, meinte, dafür genau die richtige Person zu kennen: die Berliner Bauingenieurin Uta Hertz. Uta hatte zu Westberliner Zeiten in einem als Kollektiv organisierten Baubüro die Berliner Hausbesetzer-Szene beraten – zum Beispiel mit Hinweisen, was zu tun ist, wenn eine Lehmwand in einem Altbau zerbröckelt. Irmela kam Anfang der 1990er Jahre nach Berlin und freute sich über die vielen Kooperationsmöglichkeiten, die das Netzwerk »Lehmbaukontor« bot. Einmal hat sie mit ihren Verputzkünsten eine in einem Arbeitslosenprojekt von Uta verunglückte Decke aus Lehm-Stroh-Wickeln gerettet. Im Jahr 2002 war Uta auf der Suche nach Neuland, und Irmelas Ruf kam ihr gerade recht. Sie brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass Wangelin ein Ort der unbegrenzten Möglichkeit ist, weil hier alle Beteiligten einen Geist von Offenheit und Kooperation pflegen. Nun begann eine intensive Brainstorming-Phase. Uta sondierte Projektfördermöglichkeiten und schrieb schließlich für den FAL einen Antrag zur Entwicklung von Lehrmaterialien für eine Weiterbildung zur Qualifizierung in Lehmputz als Projekt im europäischen Förderprogramm »Leonardo da Vinci«. Als Partnerin gewann sie neben vielen anderen die Universität von Grenoble – die einzige europaweit, an der man Lehmbau als Postmaster-Qualifikation studieren kann. Als die Förderzusage kam, war der Jubel groß, und ab nun ging es auf Reisen: In den Jahren 2002 bis 2005 kamen die 14 Projektpartner aus den beteiligten Ländern zu Arbeitstreffen an den Plauer See, die Mecklenburger fuhren nach Bulgarien, Griechenland, England, Frankreich, Polen, Tschechien und Slowenien und entdeckten den Reichtum europäischer Lehmbautraditionen. In allen Regionen sind sie im wahren Wortsinn aus der Erde gewachsen. Im Rhonetal zum Beispiel hat die Erde genau die richtige Mischung für Stampflehm. Er kann direkt aus der Grube in die Schalung gepresst werden. Auf den großen Gehöften baten die Bauern früher die Pilger auf dem Jakobsweg bei der anstrengenden Stampfarbeit um Hilfe. Im tschechischen Mähren kommt ein sandarmer, fetter Lehm aus der Erde. Dort ist es Tradition, dass die ganze Familie mitmacht, wenn »Lehmbrote« gebacken werden – handgemachte, luftgetrocknete Ziegel. Im Fischgrätmuster werden daraus Wände aufgestapelt. In der Nähe von Brno gibt es eine kleine Region, in der mit der Hand an den Außenfassaden Muster in den noch feuchten Lehm gezeichnet werden – so entsteht sogenannter Fingerputz, wie er sonst nur aus Afrika bekannt ist. Während des dreijährigen EU-Projekts gelang es tatsächlich, ein gemeinsames Lehmputz-Curriculum zu schreiben und in die jeweiligen Landessprachen zu übersetzen. Uta und Klaus waren währenddessen kontinuierlich mit der Handwerkskammer in Schwerin wegen einer Zertifizierung im Gespräch. Die Sache war heikel, denn Lehmbau ist kein anerkannter Beruf. »Die Kammern im Osten sind zum Glück offener als die in den alten Bundesländern«, erzählt Uta. »In Thüringen gab es bereits eine anerkannte Weiterbildung für Fachkräfte in Lehmbau. Daran konnten sich die Schweriner orientieren und haben schließlich ihr Siegel für unsere Fortbildung ›Gestalter/-in für Lehmputze‹ gegeben. Mit diesem Abschluss dürfen auch Quereinsteiger einen Handwerksbetrieb anmelden. Ein nächster Schritt wäre, eine Meisterausbildung im Lehmbau zu etablieren; daran arbeiten wir.«
Bauen heißt Heimat finden Aus diesen Entwicklungen entstand die »Europäische Bildungsstätte für Lehmbau« mit einem breiten Kursprogramm zu allen erdenklichen Naturbaustoffen: Reetdächer decken, Lehm- und Kalkputze anmischen, Tadelakt herstellen, Feldsteinmauern, Leichtlehmwände, Grundöfen oder Strohballenhäuser bauen. Viele der Kurse finden auf dem Gelände des Wangeliner Gartens statt und befassen sich mit experimentellen Bauprojekten vor Ort. Inzwischen ist dort eine Reihe kleiner Gästehäuser mit einem Tonnengewölbe aus Strohballen aus dem Boden gewachsen, ebenso ein achteckiges Gartencafé. Hier sitzen Johannes Heimrath und ich im Frühling 2015, während Klaus und Uta von den Wangeliner Lehmabenteuern berichten. Die Wände des Cafés, der Fußboden, der Ofen, die Badezimmer erzählen dabei mit. Hinter unzähligen Details verbergen sich ganze Welten: der Kalkputz mit Schmetterlingsfresken, den Solène Delahousse (siehe Seite 47) an die Außenwände gezaubert hat; der Terazzo-Boden mit seiner Mischung aus Keramik und Stein, die floralen Muster im Lehmputz an den Wänden; die von lokalen Künstlern entworfene Theke oder der finnische Masseofen. »Dieser Bau hier hat eine Seele, weil so viel Herz hineingeflossen ist«, sagt Klaus. »Alle, die daran beteiligt waren, haben sich bemüht, etwas besonders Schönes zu machen.« Dieser Liebe entspringt wohl das Heimatgefühl, das die Menschen, die in Wangelin die Arbeit mit Naturbaustoffen lernen, mit dem Ort verbindet. Viele kommen über die Jahre wieder, um zu sehen, wie ständig etwas Neues hinzuwächst. Diejenigen, die diesen Ort hüten, fühlen sich mehr und mehr in ganz Europa heimisch. Wo auch immer eine Frage zu einer speziellen Lehmbautechnik auftaucht – irgendjemand in ihrem weit gespannten Netzwerk weiß immer Rat. »Im Vorfeld zu unserem jüngsten Projekt hat sich eine Gruppe europäischer Partner in der Slowakei getroffen«, berichtet Uta. »Wir wohnten in einem Pfahlhaus an einem See und schmiedeten unsere Zukunftspläne in einem stillgelegten Boot. Das Boot war der Namensgeber für unser neues Projekt ›Pirate‹. Sein Ziel ist, den Lehmbau in allen europäischen Ländern in die Berufsausbildung zu integrieren.« Während Uta und Klaus erzählen, wird mir bewusst, dass sich in den jahrtausendealten Baukulturen der »armen Leute« Europas nicht nur Mühe und Plage ausdrückt, sondern auch eine elementare Freude, sich aus eigener Kraft auf dieser schönen Planetin eine Behausung zu schaffen. Vielleicht liegt darin der Zauber jenes besonderen Wangeliner Heimatgefühls. •