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Der begrabene Riese (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #36/2016
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Als Schriftsteller komme man mit fast allem durch, nur ein absolutes Verbot habe die Kritik verhängt: Keinesfalls dürfe in ernstzunehmender Literatur über Drachen geschrieben werden, bemerkte einst der drachenaffine Fantasyautor Terry Pratchett. Dieses Tabu bricht Kazuo Ishiguro in seinem neuesten, durchaus ernstzunehmenden Roman – und damit nicht genug: Auch unheilvolle Pixies, menschenfressende Ogers und Gestalten der Artus-Legende tummeln sich darin.
Britannien im 6. Jahrhundert nach Christus: Die Römer haben die Insel verlassen, angelsächsische Einwanderer leben in seltsam schlafwandlerischer Koexistenz mit der britannischen Bevölkerung. Das ganze Land ist in mysteriösen Nebel gehüllt, der Vergessen in den Köpfen der Menschen sät und deren Erinnerungen auslaugt. Der ferne Nachhall an ihren Sohn drängt das alternde Paar Axl und Beatrice zu einer Reise ins Ungewisse. Auf dem Weg durch unwirtliches, ödes Land erfahren sie, dass die Nebel den Nüstern der durch den Magier Merlin gebannten Drachin Querig entstammen. Sie setzen alles daran, ihre Erinnerung zurückzugewinnen.
Als die Nebel sich schließlich lichten, bricht mit der Wucht des Verdrängten die Erinnerung an Schlachten und Massaker zwischen Britanniern und Sachsen hervor. Der »begrabene Riese« ist erwacht: Ein neuer Bürgerkrieg ist wahrscheinlich. Mit der Erinnerung erlangt das Paar die Gewissheit zurück, dem Sohn in diesem Leben nicht mehr zu begegnen. Von der Reise geschwächt, vertrauen sie sich einem Fährmann an, der verspricht, erst Beatrice, dann Axl auf ein andersweltliches Eiland überzusetzen. Ob sie dort eine gemeinsame Existenz oder ein Wiedersehen mit ihrem Sohn erwartet, ist ungewiss.
In karger und doch warmherziger Sprache, die nicht der Versuchung altertümelnder Verbrämtheit erliegt, erzählt Ishiguro mit den Mitteln der fantastischen Literatur eine tiefe Menschheitsparabel. Sie handelt von den Gefahren des Vergessens und der Aufgabe gemeinsamen Erinnerns angesichts kollektiver Traumatisierung und ethnischer Konflikte. Dass er seine Geschichte in einer Epoche ansiedelt, über die es kaum gesicherte Erkenntnisse gibt – und nicht etwa auf dem Balkan, in Ruanda oder im Nachkriegsdeutschland –, ist ein geglückter Kunstgriff, der ihr etwas Allgemeingültiges verleiht und die Fantasie der Leser in Gang setzt. Zurück bleibt die Frage: Was mag hier und heute unser begrabener Riese sein?

Der begrabene Riese
Kazuo Ishiguro
Karl Blessing Verlag, 2015
416 ­Seiten
ISBN 978-3896675422
22,99 Euro

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von Matthias Fersterer

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