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Lebendigkeit sei! (Buchbesprechung)

von Ivan Raduychev, erschienen in Ausgabe #37/2016
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»Eine neue Idee vom Menschen breitet sich aus. In ihr wird der Mensch nicht mehr als der Natur gegenüberstehend gedacht, sondern er hat diese ganz durchdrungen. Spuren von Pestiziden, nuklearer Fallout, Stickstoffdünger finden sich heute in den Kristallen der Arktis und in den Böden des Amazonas. Spätestens der Klimawandel zeigt: Der Mensch ist unentrinnbar mit der Erde verflochten. Das ist die Botschaft im ›Anthropozän‹, der Erdepoche des Menschen.« – Die einleitenden Sätze dieses Manifests für eine neue Politik des Lebens von Andreas Weber und Hildegard Kurt bringen die (mit-)gestaltende Kraft der Menschen zur Geltung – leider zeigt sich diese aktuell nicht gerade in positivem Licht.
Alles ist belebt. Lebendigkeit ist das leitende Prinzip auf Erden und gilt für alle Lebewesen – ob Tier, Baum oder Mensch. Alle sind miteinander verbunden und können nur dadurch auch als Individuen bestehen: Individuen, die sich selbst erhalten wollen und einen eigenen – gleichermaßen berechtigten – Standpunkt beziehen können. Wer die Welt auf diese Weise erkennt, erhebt seinen Blick über die Fixierung auf techné – Analyse und Nachbau – und erkennt die poiesis – den sich in sich vervollkommnenden Schöpfungsprozess. Die Aufklärung erlebt ihren Höhepunkt, aus »Enlightenment« wird »Enlivenment«, »Verlebendigung«. Der Mensch steigt von seinem Thron, der über allen anderen Wesen schwebt, herab und gliedert sich in ihre Gemeinschaft ein, – erkennend, dass uns etwas ausmacht, das nicht anthropogen – menschengemacht – ist: eine Lebendigkeit, die sich nicht in Begriffen fassen lässt, sich aber in allen Ökosystemen manifestiert. Naturwissenschaft spielt dabei eine zentrale Rolle, doch dafür muss sie sich auf ihr eigentliches, ursprüngliches Ziel besinnen: im Dienst des Menschlichen und des Lebens zu wirken.
Dem Prinzip der Lebendigkeit folgend, kann der Mensch unmöglich die rücksichtslose und ausbeuterische Haltung des grenzenlosen Konsumdrangs weiterleben. Eine neue Ethik, welcher Empathie, Friedfertigkeit, schöpferische Vorstellungskraft und Sinn für Maß und Gerechtigkeit zugrundeliegen, entsteht. Ökologische Landwirtschaft, ressourcen- und umweltschonende Produktion und eine Ökonomie der Gemeingüter sind die natürlichen Folgen einer Politik des Lebens, ebenso wie eine selbstorganisierende und mitgestaltende Teilhabe an sozialen Prozessen. Erst dadurch verdient das Anthropozän seinen Namen als »Zeitalter der Menschlichkeit«.
Das Manifest ist ein knapper, kraftvoller Ausdruck der Kerngedanken, die Andreas Weber und Hildegard Kurt bereits in ihren früheren Werken in der Tiefe erforscht haben. Die Anerkennung der Lebendigkeit als Leitkraft hat das Potenzial, den großen Wandel zu bewirken, der sich in unseren Handlungen entfalten wird.

Lebendigkeit sei!
Für eine Politik des Lebens. Ein Manifest für das Anthropozän.
Andreas Weber, Hildegard Kurt
thinkOya, 2015, 32 Seiten
ISBN 978-3927369955
3,00 Euro

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