von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #37/2016
Die erste und wichtigste Aufgabe des Gehirns sei es, Geschichten zu erzählen, sagte Oliver Sacks (1933–2015) in einem Interview wenige Jahre vor seinem Tod. Dass er als Neurobiologe nicht nur Experte für das komplexeste der menschlichen Organe, sondern auch ein versierter Geschichtenerzähler war, ist dennoch keine Selbstverständlichkeit, sondern ein wahrer Glücksfall für seine Leser und seine Zunft gewesen. In Büchern wie »Zeit des Erwachens«, »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« oder »Der Tag, an dem mein Bein fortging« gewährte er einer allgemeinen Leserschaft fachlich brillante, populärwissenschaftlich aufbereitete Einblicke in die Hirn- und Bewusstseinsforschung. In bester angelsächsischer Tradition schrieb er in klarer, geistreicher, ja, warmherziger Wissenschaftsprosa, die ihn selbst als schreibendes Subjekt nie ausnahm. Mit dem Büchlein »Dankbarkeit« liegen nun vier kurze Essays vor, die Sacks in den beiden Jahren vor seinem Tod für die »New York Times« verfasst hatte. Der erste Text – »Quecksilber«, kurz vor Sacks’ 80. Geburtstag veröffentlicht – ist eine bewegende Meditation über das Alter. Der Titel spielt auf das Periodensystem der Element an, in dem Quecksilber an 80. Stelle steht – ein kleiner Insiderwitz, der sich durch das Leben des naturwissenschaftlich faszinierten Autors zieht, wie er in dem Beitrag »Mein Periodensystem« erläutert. Als er diesen Text mit 82 Jahren – in seinem Blei-Jahr – schrieb, hatte er die Diagnose, dass ein seltener Melanomtyp in seinem Auge Metastasen in der Leber gebildet hatte, bereits erhalten und glaubte nicht mehr daran, dass er die Jahre von Bismut (83) und Polonium (84) noch erleben würde. Im Text »Mein Leben« beschreibt Sacks, wie sich angesichts des nahenden Todes eine Ablösung vom Leben, ein Einverstandensein mit den Dingen und ein Gefühl der Dankbarkeit einstellten: »Vor allem war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und schon das allein war ein wunderbares Privileg und Abenteuer.« Zwei Wochen vor seinem Tod erschien der Text »Sabbat«, der Sacks, wie dessen Lebensgefährte im Vorwort bemerkt, besonders am Herzen gelegen habe. Während er sich auf den großen Sabbat des Lebens vorbereitete, tauchte er nochmals tief in die jüdischen Rituale seiner Kindheit ein. Der überzeugte Atheist hegte eine tiefe Liebe zur Natur und ihren Geheimnissen, die ihn zu einer Art »Tiefenmaterialisten« und uns zu staunenden Lesern seiner buchstäblich aus der Mitte des Lebens gegriffenen Geschichten machten. Mit Oliver Sacks ging ein großer Gelehrter und ein begnadeter Erzähler. Dieses Büchlein birgt die Quintessenz seines Lebens.
Dankbarkeit Oliver Sacks Rowohlt, 2015 64 Seiten ISBN 978-3498064402 8,00 Euro