Titelthema

Erleben erdet

Warum Naturpädagogik bei sinnlicher Erfahrung
und nicht beim Kopfwissen ansetzen sollte.
von Friederike Sommerfeld, erschienen in Ausgabe #37/2016
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© Paul Weissbach

Allerorten in der Bildungslandschaft wird von der großen Bedeutung der Naturwissenschaften, Naturprojekte oder Naturforscher gesprochen. Schließlich lässt sich im täglichen Leben der meisten Kinder ein Mangel an Kontakt mit der Natur unschwer feststellen – das gilt für das Aufwachsen in der Großstadt und oftmals sogar in ländlichen Regionen, wo Menschen heute in der Regel auch einem urbanen, fremdversorgten Lebensstil folgen.
Um was für ein Verständnis von Natur geht es im aktuellen Bildungskanon? Betrachten wir die Lehrpläne der verschiedenen Schulstufen und Kitas, ist das Thema dort reichlich vertreten. Waldprojekte, Beobachtungsprotokolle, Ökosysteme, Basteln mit Naturmaterialien – kaum eine Bildungsinstitution für Kinder, die diese Richtlinien nicht regelmäßig aufnimmt und umsetzt. Wenn es gut läuft, werden in diesem Rahmen ein Besuch beim Förster oder eine Exkursion in den Park möglich, sind Experimentierkästen oder passende Bilder und Filme verfügbar. Das ermöglicht es den kleinen Köpfen und ein wenig auch den kleinen Händen, sich mit Phänomenen und Funktionsweisen der Natur zu befassen.
Fast alle dieser Bemühungen lassen jedoch das unmittelbare Erleben von Natur außer Acht, das »Er-leben« als einen seelischen Prozess, als die Chance, etwas zu fühlen, das nicht gelehrt werden kann. Möglicherweise bereitet es Freude, die Blattformen benennen und die Frühblüher bestimmen zu können – für das innere Wachstum des Kindes ist das jedoch von eher geringer Bedeutung. Es sind andere elementare Erfahrungen, die auf einer seelischen Ebene für Kinder wirklich bedeutsam sind und ihre Persönlichkeit prägen.

Der Wald urteilt nicht
Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster, der zu Gesundheitsförderung im Kindesalter forscht, beschreibt in seinem Buch »Wie Kinder heute wachsen« die verlässlichen Beziehungen zu Mitmenschen und die Beziehung zur Natur als die Säulen der frühkindlichen Pädagogik. Auch er betont, dass der ungelenkte Aufenthalt im Freien für Kinder essenziell ist. Ein Wald urteilt nicht, er sagt nicht nein, er ist nur da. Kinder verstehen diese Botschaft erstaunlich schnell und sind nach kürzester Zeit zwischen Stöcken und Moos in einem mit der ganzen Welt verbundenen Zustand versunken. In seinem Buch »Mehr Matsch! – Kinder brauchen Natur« schreibt der Philosoph Andreas Weber: »Der Wald ist nämlich weniger ein Lernort als ein Herzensraum, eine Stätte intensiver Seinserfah­rung. Hier erfahren Kinder jene Botschaften, die für ihr Leben existenziell sind: dass ich es wert bin, geliebt zu werden, dass ich in dieser Welt angekommen und aufgehoben bin, dass sie ein nährender Ort ist.«


Nur das Spüren eines größeren Zusammenhangs und der eigenen Lebendigkeit gibt uns die Möglichkeit, den Willen zu nachhaltigem Handeln zu entwickeln. Ich kann chlorfreies Recyclingpapier kaufen, weil ich verstanden habe, welche Umweltauswirkungen die Papierherstellung hat. Ich kann aus solchem Wissen jedoch keinen zukunftsfähigen, nachhaltigen Lebensstil ­entwickeln, wenn ich nicht spüren kann, dass es die Natur und nicht die moderne Technik ist, die mich ernährt – körperlich wie seelisch.
Beim Lesen von Renz-Polsters Buch »Wie Kinder heute wachsen« stellte sich mir die Frage, warum sich seine Ausführungen vornehmlich auf kleine Kinder beziehen. Schließlich ist neben der frühkindlichen Phase auch die Pubertät eine seelisch recht labile Zeit. Noch einmal geht es in diesem Alter um das Wesen zwischenmenschlicher Beziehungen, das Kennenlernen des Körpers und den eigenen Platz in der Welt. Die Reformpädagogin Maria Montessori beschreibt die Adoleszenz als sensible Phase für moralische und gesellschaftliche Fragen, Gemeinschaften und das eigene Ich. Wer mit Teenagern zusammenlebt oder arbeitet, wird wissen, dass es nicht ganz einfach ist, sie für Natur zu begeistern. Meiner Erfahrung nach wird dies allerdings viel einfacher, wenn wir uns von Vorstellungen wie »Spaziergang«, »Bestimmungsbuch« und »Waldlehrpfad« lösen und Natur eher mit Begriffen wie »Im Freien« oder »Draußen-Sein« verbinden.

Was tut ihr am liebsten? – Chillen!
Es ist vor allem der ungestaltete, ungeplante und damit unberechenbare Raum, der die kleinen und die großen Kinder herausfordert und nährt. Dieser Raum hat möglicherweise viel weniger Ähnlichkeit mit einer blühenden Wiese als mit einer Brache, auf der vergessenes Bauholz und Paletten eingewachsen sind. So ein Ort macht erfahrbar, dass nicht alles von uns Menschen beeinflussbar und kalkulierbar ist, nicht alles einem logischen Zweck dient.
Auf die Frage an Dreizehnjährige, was sie hier und dort eigentlich tun würden, lautet deren Antwort oft: »Chillen«. Das Wort beschreibt einen Zustand von Dasein, Beruhigung und Spüren von dem, was gerade ist. Für Pädagogen mit Erziehungsauftrag (und Lehrplan im Nacken) ist dieser oft schwer zu ertragen. Dabei ließe sich aus der Not eine Tugend machen: Erkennen wir den Wert dieser Leidenschaft fürs Chillen!
Räumt man Begriffe wie »Wissenserwerb«, »Konkurrenzfähigkeit« und »Leistungsstand« von der Ziellinie pädagogischer Bemühungen und setzt dort zum Beispiel »integere Persönlichkeiten«, »Willensentwicklung« und »Selbstorganisation« ein, erhält die Fähigkeit, einfach nur da zu sein, einen hohen Wert. Es ist kein Zufall, dass wir für Menschen, die in sich ruhen und wissen, was sie wollen, das Wort »geerdet« gefunden haben.
In Maria Montessoris Konzept des »Erdkinderplans«, der eine radikale »Entschulung« der Sekundarstufe vorsieht und ein Lernen am Leben in einem funktionierenden landwirtschaftlichen Betrieb beschreibt, finden sich handhabbare Ansätze, um die Erkenntnisse von Renz-Polster und das unerschöpf­liche Bedürfnis der Jugendlichen nach »Chillen« zusammenzubringen.

Ein verwilderter Garten macht Schule
Montessori misst den Arbeiten der großen Kinder in und mit dem Erd­boden folgenden Zweck bei: »Bei der Arbeit auf dem Lande handelt es sich nicht darum, Studenten zu Bauern umzuwandeln […] bedeutet die Arbeit mit der Erde gleichzeitig eine Einführung in die Natur und in die Kultur.« Es geht also nicht um duales Lernen und Berufsbildung, sondern ­wieder um die von Renz-Polster beschriebenen zwei Säulen.
In jeder Schule, die einen Weg gefunden hat, einen Teil des Erdkinderplans zu verwirklichen, sind die Jugendlichen damit beschäftigt, aus dem Erdboden und etwas Saatgut Nahrung hervorzubringen. Vermutlich würde es schneller gehen, weniger kosten und weniger Risiken bergen, die Regeln der Landwirtschaft theo­retisch als Schulwissen zu lehren – aber es geht hier nicht primär um Wissen, das über den Kopf erworben wird. Viele Schulen haben ungewöhnliche Potenziale mobilisiert, um ihre Skizze eines Erdkinderplans in die Tat umzusetzen. Wer Maria Montessoris Beschreibungen eines für solche Arbeit geeigneten Bauernhofs liest, mag zunächst vor allem an finanzielle Hürden denken. Diese gibt es in der Tat mehr als genug, denn allerorten ist Ackerboden ein rares Gut. Viel höher sind jedoch die Hürden, die aus einem Mangel an Mut und Konsequenz gebaut sind.[Bild-3]
An der Montessori-Gemeinschaftsschule Berlin-Buch, für die ich seit deren Gründungsphase tätig bin, haben die Gründer allen Mut zusammengenommen und Ausschau nach geeigneten Ressourcen gehalten. Wir fanden eine brach­liegende Krankenhaus-Gärtnerei in unmittelbarer Nähe des Schulgeländes und ein verlassenes Bahnhofsgelände im Spreewald, das wir für Ausflüge nutzen konnten. Am Anfang stand die Aufbauarbeit in der Gärtnerei. Armdicke Bäume standen in dem, was einmal Beetkästen waren, und ein riesiges Gewächshaus zwischen knorrigen Apfelbäumen war längst zur Ruine geworden. Unsere Mission bestand darin, das Areal in einen fruchtbaren Schulgarten zu verwandeln. Das Team für diesen Auftrag bestand aus 15 Schülern der siebten Klasse sowie einer Lernbegleiterin, und es hatte einen Vormittag pro Woche Zeit. Wir maßen den Erfolg des ersten Gartenjahrs nicht am Gemüseertrag, sondern an der Menge an Begegnung mit dem echten Leben und mit den Naturgesetzen sowie gefundenen kreativen Lösungen.
Der finanzielle Einsatz über die Pacht für das Gelände hinaus belief sich auf wenige hundert Euro – nicht mehr als die Ausstattung jedes anderen Fachbereichs mit Lernmitteln. Investiert wurden vor allem die Entschlossenheit und der Mut, es zu versuchen, dazu die Entscheidung, einen ganzen Schulvormittag nicht dem Kanon der Prüfungsfächer zur Verfügung zu stellen.
In den drei Jahren, die wir inzwischen diese Gärtnerei bewirtschaften, hat sich viel verändert. Gerade der Anfang war voll unberechenbarer Begegnungen und Ereignisse. Wir haben die Arbeit mit der Verwertung von 80 Kilogramm Äpfeln begonnen und konnten die Schulküche mit Saft bereichern; wir trafen auf sehr freundliche Baggerfahrer, die zwar nicht unsere Sprache beherrschten, jedoch den cleveren Mädchen einen Streifen Beet in wenigen Minuten freilegten; wir durften einem Ameisenlöwen beim Beutezug zugucken, Unmengen Recycling-Baumaterial finden, feststellen, dass Pflanzen oft stärker sind als wir Menschen. Im Herbst des ersten Gartenjahrs durften wir tatsächlich eine erste kleine Ernte einbringen!
Wenn die Vertreter der Investorengruppe, denen das Land und die Schulgebäude gehören, vorbeikommen, müssen wir noch immer erklären, weshalb es bei uns so »unordentlich« aussieht – und dass wir keine Hilfe beim Aufräumen und Begradigen brauchen.
Wenn die Gärtner der Firma für Permakultur, die inzwischen mit den Kindern gemeinsam unseren Schulhof pflegt, vorbeikommen, freuen sie sich über all das, was entstanden ist und wachsen darf.

Staunen und Schwitzen
Heute – drei Jahre und einen Schuppenbrand (der alles Werkzeug vernichtete), zahlreiche private Spenden, einen Parkplatzbau auf der Streuobstwiese, vielen Änderungen im Schulalltag und zahllose gärtnerische Erfahrungen später – ist die Arbeit eine ganz andere geworden. In der Praxis unseres Schulalltags hat das Projekt einen Wildnispädagogen und Gruppen von Grundschülern hinzugewonnen. So konnte mehr Land bestellt werden, und Ressourcen wie trockenes Brennholz und ein Brunnen sind dazugekommen.[Bild-4]
Im Lauf der Zeit ist bei den Lernbeglei­terinnen und -begleitern der Durchsetzungswille, Raum für die Arbeit in der Erde statt für den Rahmenlehrplan zuzulassen, leider weit hinter die Bemühungen um eine staatliche Anerkennung der Oberschule und die Vergabe von Schulabschlüssen gerückt. Dennoch gibt es das Angebot, im Schulgarten zu arbeiten, auch für große Kinder noch immer, und es wird von einzelnen regelmäßig genutzt. Im Garten finden Darbietungen zur Biologie der Pflanzen und zu ökologischen Zusammenhängen statt. Das Erleben und Staunen, Nasswerden und Schwitzen, Muskelkater und Feuerrauch stehen – anders als zu Anfang – zwar nicht in der Halbjahresplanung, aber es gibt sie zum Glück gratis dazu. In allen Phasen des Projekts wurde hier draußen zweckfrei am Feuer gechillt, Nie-Probiertes gekostet, mit beiden Armen im Eiswasser gerührt, mit Gießwasser die ganze Kleidung durchnässt und in der Sommerhitze gefrühstückt. Wo sonst bleibt in der Wirklichkeit von Dreizehnjährigen Zeit und Raum für solches Fühlen und Erproben der Sinne?
Breites Allgemeinwissen und spezialisiertes Fachwissen korrespondieren mit einer Gesellschaft, die auf Wachstum und globalen Wettbewerb ausgerichtet ist. Je mehr pädagogisch engagierten Menschen klar wird, dass es nicht diese Welt sein wird, die unsere Kinder erwartet, desto eher werden sich andere Ziele herauskristallisieren können. Wer sich die Mühe macht, Jugendlichen, die auf den ersten Blick vor allem ihre Handys lieben und möglichst nichts tun wollen, noch einmal (oder zum ersten Mal) zu fundamentalen Naturerfahrungen zu bringen, hat den Wandel bereits ­vollzogen. •

Friederike Sommerfeld (38), Kostüm- und Bühnenbildnerin sowie Medienpädagogin, arbeitet seit 2012 als Lernbegleiterin an der Montessori-­Gemeinschaftsschule Berlin-Buch.

Lesetipps
• Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Beltz, 2014
• Andreas ­Weber: Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur. Ullstein 2012

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