Wer wissen will, wie sich mit kleinem ökologischen Fußabdruck leben lässt, muss zu den Großmüttern gehen.
von Vanessa Bähr, erschienen in Ausgabe #37/2016
Frieda Bieselin ist nie verreist – bis auf einen Italienurlaub in den 1970er Jahren, zu dem ihr Sohn sie mitgenommen hat. Statt für eine Sonnenliege sieben Mark zu bezahlen, hat sie damals aus angeschwemmten Besenstielen und einem Laken ein Sonnensegel gebaut. Einmal ein solcher Urlaub hat ihr dann für den Rest ihres Lebens gereicht: »Wir haben so eine schöne Gegend um uns herum, der Kaiserstuhl, der Schwarzwald – alles. Da fahren die Leute jedes Jahr nach Honolulu oder sonstwo hin – aber den Katharinenberg mit der Kapelle, den haben sie bestimmt noch nicht gesehen.«
Frieda Bieselin lebt seit 84 Jahren das, was wir heute »Permakultur«, »Low-Tech« und »Social Networking« nennen, ohne dass sie je diese Worte gehört hätte. Auf die Frage, ob ihr heute etwas im Leben fehlt, sagt sie: »Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe doch so viele Sachen hier!« Ich selbst hingegen habe vor zweieinhalb Jahren einen Permakulturdesign-Kurs gemacht – zwei Wochen im Herzen Italiens, sehr inspirierend, für 1000 Euro. Seitdem habe ich nie wieder etwas Permakulturelles unternommen. Im selben Jahr zu Weihnachten hatte ich mir eine Nähmaschine gewünscht; das Buch »Mein Nähatelier« mit einer Schritt-für-Schritt-Einführung lag auch unterm Tannenbaum. Beide Geschenke blieben bislang ungenutzt. Je länger ich Frieda Bieselins Geschichten lausche, desto deutlicher wird mir bewusst, wie weit ich selbst von dem entfernt bin, worüber ich so gerne rede, worüber alle heutzutage so gerne zu reden scheinen: ein sparsames, genügsames, selbstversorgendes und dennoch reiches Leben. Frau Bieselin lebt es mitten in einem deutschen Dorf, wie es unscheinbarer nicht sein könnte. Das Besondere daran ist, dass sie kein ökologisches »Experiment« durchführt oder sich etwa bewusst einem Aussteigerdasein verschrieben hätte. Aus den Umständen geboren, hat sie eine durch und durch pragmatische und dabei herzliche und weitsichtige Lebenshaltung entwickelt, die für sie völlig natürlich ist. Sie erzählt: »Als wir aus der Schule gekommen sind, 1946, da gabs ja nicht einmal eine Lehrstelle im Ort. Das Dorf war kaputt, und der Schneider oder die Frisöse oder die Näherin haben ihre eigenen Kinder ausgebildet. Wir mussten auswärts etwas finden. Wissen Sie, wir waren 18 Kinder in der Klasse, und nicht eines hat einen Beruf gelernt – weil wir einfach keine Chance hatten. Das Dorf war kaputt, alle Leute hatten ihre Habseligkeiten verloren. Unser Vater hatte zwei Söhne, einer hat ’47 nach der Schule eine Lehre als Maurer gemacht – aus dem Grund, dass, wenn wir zum Bauen kämen, er den Beruf für sich verwenden könnte. 1948 mit der D-Mark hat uns die Großmutter den kleinen Bauplatz verschrieben. Der Vater hat gesagt: ›Jetzt können wir bauen, aber wir werden das nur schaffen, wenn alle zusammenhalten.‹ Das haben wir unserem Vater hoch und heilig versprochen. Ich bin dann in die Zigarrenfabrik, weil es ja sonst nichts gab. Wenn ich nach Kenzingen hätte wollen, hätte man nicht einmal ein Fahrrad gehabt. Und Geld war nicht da – man hat keines gehabt. In der Fabrik hab ich in der Stunde 69 Pfennig verdient. Es gibt Leute, die sagen oft, damals war alles billiger, aber das stimmt nicht. Die ganzen Kaufhäuser haben die Kriegsware zurückgehalten; da wurde ja laufend produziert. Die haben genau gewusst, dass es eine neue Währung geben wird und erst ’48 sind sie gekommen, immer am Zahltag, mit ihren Wagen. Da hat ein Geschirrtuch drei Mark gekostet. Aber das hat man nicht brauchen können. Die trockneten nicht! Die waren ganz borstig, ich weiß nicht, was für ein Material das war – das war die Kriegsware. Wir haben uns trotzdem gefreut, weil ja alles kaputt war, weil wir gar nichts hatten, nicht einmal mehr Teller. Die Geschirrtücher hab ich als Putzlappen benutzt, eines hab ich zusammengenäht, das hängt in meiner Speisekammer heute noch, da ist das trockene Brot drin. Mit 6000 Mark Kredit haben wir das Haus hochgezogen, jeden Tag nach der Arbeit sind wir nach Hause, und dann ging es los. Ich war der Handlanger für meinen Bruder. Nicht einmal Betonmischer gab es, wir mussten alles mit der Hand machen. Den Beton anmischen in der Wanne –oh je! Mich wundert’s, dass ich so alt bin, was wir alles machen mussten! Aber das rechne ich meiner Mutter ganz hoch an: Wir haben eine ganz gesunde Kost gehabt, waren Selbstversorger mit einem kleinen Acker nicht weit vom Ort. Da haben wir alles Gemüse angebaut, auch für den Winter. Sogar ein bisschen Weizen und Gerste hatten wir – und das wurde nie gespritzt. Nie mussten wir eine Konserve kaufen, alles hatten wir in Gläsern und dann später in der Gefriertruhe. Als Kinder waren wir draußen an der Luft und im Wald, überall waren wir. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie das schön war! Was die Kinder heute nicht mehr haben. – Wir haben all die Käfer, all die Raupen, all die Pflanzen kennengelernt. Und die Bäume: Buchen, Eichen, Hagebuchen, Rotbuchen und die Fruchtbuchen mit den Eckern, die haben wir gesammelt. Aber heute – frag einmal ein Kind: Die kennen das nicht. Zwei Studenten in einer Fernseh-Quizsendung haben nicht einmal gewusst, was eine Pusteblume ist! Daran sind sie dann gescheitert. Immer wenn die Mutter im Feld gearbeitet hat, waren wir dabei. Dadurch haben wir so viel kennengelernt! Das schätze ich sehr. Durch den Krieg sind wir ganz arg flexibel geworden. Wir haben ja keine Chancen gehabt. Aber dann haben wir aus allem, was irgendwie gefunden wurde, etwas gemacht. Der Vater hat am Rhein gearbeitet, wo noch die ganzen Bunker gestanden sind. An den Bunkern, da war ja manchmal das beste Material, zum Beispiel weißer Filz als Dichtung. Eines Tages kam mein Vater mit einer ganzen Schulter voll mit diesen Dichtungen nach Hause. Mein Bruder und ich haben uns aus dem Filz und dem grauen Wollteppich aus den Bunkern Hausschuhe gemacht. Wir haben uns gut überlegt, wie das funktionieren kann – ein Bekannter hat uns extra eine Ahle gemacht, dass wir durch die Sohle halb durchstechen konnten, und ich habe die Schuhe dann paspoliert mit buntem Stoff. Das als Kinder zu schaffen – da wird man so unheimlich praktisch! Wir hatten die schönsten Hausschuhe, niemand hatte so schöne wie wir. Einmal hat der Vater wieder Dichtungen gefunden, die so eine Gummierhöhung in der Mitte hatten. Er musste ja jeden Tag an den Rhein und hatte keine Bereifung auf dem Fahrrad. Da hat er die Streifen passend gemacht und sie mit einem Draht befestigt. Das hat geklappert, sag ich Ihnen, wir hatten ja keine richtige Straße – als würde ein Panzer da fahren! Irgendeiner vom Amt hat das dann mitgekriegt, dann hat mein Vater vom Ministerium Bereifung zugeteilt gekriegt.«
Morgengrauen des Anti-Atom-Widerstands Ihren praktischen Sinn hat Frieda Bieselin behalten. Viele ihrer Geschichten erzählt sie mit einem Strahlen im Gesicht; mal mit Empörung, mal mit Erstaunen und stets mit einem guten Gefühl für den eigenen Lebenssinn. Die Familie hat sich etwas aufgebaut, sie selbst hat geheiratet, vier Kinder großgezogen, eine über 50 Jahre lang glückliche Ehe gehabt. Doch in ihrem bescheidenen Glück ist sie niemals konservativ geworden. Nach dem Krieg erkannte sie bestürzt, was hinter den Kulissen des Hitler-Regimes wirklich geschehen war. Musste ihr Mann länger arbeiten, hörte sie sich zu Hause Hörspiele im Radio an, die das Leben und Sterben in den Konzentrationslagern wiedergaben. Jedesmal musste sie dabei weinen. Noch heute empört sie sich darüber, dass der Vize-Bauernführer nach dem Krieg als Bürgermeister des Orts gewählt wurde: »Die Leute sind so dumm wie die Nacht.«
Mit 15 Jahren saß sie beim Arzt und sah in einer Illustrierten Bilder von Hiroshima und Nagasaki. Das weckte ihr Interesse für die Bedeutung von Radioaktivität und Atomkraft. Im Fernsehen, in Zeitungen – wo sie nur konnte – informierte sie sich. Als in den 1970er Jahren im Nachbarort Wyhl ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte, war sie nicht mehr zu stoppen: In Markolsheim sollte die erste Demonstration stattfinden … »… und ich hatte doch keinen Führerschein! Da hab ich zu meinem Mann gesagt: ›Wenn du nicht mit mir ins Elsass fährst – ich koch euch nichts mehr, ich wasch euch nichts mehr!‹ Dann bin ich raus und habe mich am Straßenrand hingesetzt. Meine Kinder sind vorbeigekommen, und ich hab ihnen gesagt: ›Ihr könnt dem Vater sagen, ich mach nichts mehr, wenn er nicht mitkommt.‹ Irgendwann sind sie mit ihm zurückgekommen, und er meinte: ›Na gut, dann gehen wir halt mit.‹ Die Straßen in Markolsheim waren voll! Da hat man fast niemand mehr dazwischen gebracht. Kilometerweit, von Frankreich, von überall her kamen die Leute. Ich bin dagestanden und hab geheult – du lieber Gott! Das war ja für mich die erste Demonstration, das hab ich nicht gekannt. Mein Mann – der war auch ganz fertig. Das hat er sich nicht vorgestellt so. Und von da an ist er überall mit mir hin. Sogar bis nach Kaiseraugst.« Den Bauplatz fürs AKW haben sie besetzt, manchmal waren sie Tag und Nacht dabei. »Wenn die Polizei kam, hatte ich keine Angst. Sollten die mich doch verhaften, ich hatte ja nichts getan!« Mal brachte sie für die Studenten einen riesigen Topf voll Kartoffelsalat mit, oder sie stemmte das Sonntagscafé, als andere schon Angst vor der Räumung hatten. Sie war es auch, die die Idee hatte, in die Hütte auf dem Gelände Gastredner zu Vorträgen einzuladen, um die Bewegung in einer Flaute wiederzubeleben – mit großem Erfolg. Schließlich hatte die protestierende Bevölkerung erreicht, was sie wollte: Das Atomkraftwerk wurde nicht gebaut. Manchmal wird die damals entstandene Bewegung als der Grundstein für die deutsche Anti-Atomkraft-, Bürgerinitiativen- und Umweltbewegung bezeichnet. Für Frieda Bieselin stand ihr Engagement immer außer Frage: »Ich kannte ja die Gefahren.« Es ist die geradlinige Lebensverbundenheit, die mich am meisten an ihr beeindruckt. Frieda Bieselin hat keine Konzepte, sondern Geschichten; sie hat nicht darüber nachgedacht – es war klar, was zu tun war, um den eigenen Lebensraum zu schützen. Sie hat sich nicht für Straßenkinder in Südamerika engagiert, sondern für die Sicherheit ihres eigenen Dorfs. »Das wär uns hier ins Gesicht gefallen«, sagt sie und lacht über den gemeinsamen Erfolg, das Kraftwerk verhindert zu haben. Auch ich habe diesen Instinkt in mir. Die vielen Informationen über all die Probleme in der ganzen Welt berühren mich, aber sie überfordern mich auch. Wo soll mensch nur anfangen? Über je mehr Informationen ich verfüge, desto weniger weiß ich, wohin ich mich wenden soll. Je mehr ich darüber nachdenke, was ich tun könnte, desto weniger handle ich. Man könnte das auch den mentalen Rebound-Effekt nennen. Manchmal wünsche ich mir mehr Orientierung, mehr Klarheit für meinen Weg − mehr konkrete Herausforderungen und weniger abstrakte Fragen in meinem Kopf. Doch die Romantisierung der Lebensumstände nach 1945 bringt mich nicht weiter. Den Satz »Wir hatten ja keine Chance« will ich nicht überhören. Frieda Bieselin hatte das Herz, die Intelligenz und den Mut, das Beste aus ihrem Leben zu machen und immer wieder kreativ auf alle Gegebenheiten zu reagieren. Das Gleiche kann ich heute tun. Sie ist mir ein gutes Vorbild darin. •
Vanessa Bähr (28) hat Politikwissenschaft studiert und sich danach »inneren« Themen zugewandt. Sie praktiziert Rolfing und gibt Kommunikationsseminare. www.nonviolent.space
Oya im Ohr Diesen Beitrag gibt es auch als Hörstück.