Die Effizienzillusion einer digitalisierten Mobilität
Viele Fallstricke überspannen den Weg zu einem lebensfreundlichen Verkehrswesen.
von Stephan Rammler, Thomas Sauter-Servaes, erschienen in Ausgabe #37/2016
Die Ratlosigkeit war wohl selten greifbarer als während des letzten Weltverkehrsforums angesichts der Botschaft, das Verkehrsaufkommen werde sich bis zum Jahr 2050 weltweit verdreifachen – wobei sich der Trend zum Auto und Flugzeug weiter ausprägen werde. Antworten, wie unter diesen Umständen die Mobilität von bald neun Milliarden Menschen auf nachhaltige Weise zu gewährleisten wäre, blieben die Experten schuldig. Einig war man sich allein darin, dass bei einer ungesteuerten Entwicklung die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen – und dementsprechend die Emissionen von Klimagasen, Luftschadstoffen und Feinstäuben, die Lärmemissionen, die Unfallkosten und vor allem der Material- und Raumbedarf der Mobilität – weiter enorm ansteigen werde. Die Lösungen für diese dramatische Situation werden aller Vorausicht nach die altbekannten sein: Angesichts der weltweit weiter dominierenden Wachstumsgläubigkeit werden die »Hohepriester der Effizienzreligion« auch in den kommenden Jahren versuchen, die Emissionssenkung und mehr Nachhaltigkeit im Verkehr allein über weitere technische Effizienzsteigerungen zu erreichen.
Dabei wird kaum diskutiert, dass angesichts der geschilderten Lage nur das Hinterfragen der immer verkehrsintensiveren Lebens- und Wirtschaftsstile überhaupt einen Ausweg aus der Misere weisen kann. Stattdessen spielt die Effizienzstrategie eine zentrale Rolle in nachhaltigkeitsorientierten Verkehrskonzepten – erst recht, seitdem die digitale Revolution erahnen lässt, welch großes Potenzial hier auf der technischen Seite noch schlummert. Die Verfechter des grünen Wachstums machen dabei aber wieder einmal die Rechnung auf, ohne das Prinzip gegenläufiger Systemrückkopplungen zu beachten: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die durch den digitalen Fortschritt erhofften Einsparungen durch steigende Nutzeransprüche überkompensiert werden, so dass sich die Verkehrsemissionen eher erhöhen. Es ist an der Zeit, dass endlich umfassend systemisch gedacht und gehandelt wird! Digitale Techniken haben unserer Meinung nach prinzipiell ein großes Nachhaltigkeitspotenzial, allerdings nur dann, wenn sie im großen Rahmen grundsätzlicher Lebens- und Mobilitätsstiländerungen entwickelt werden. Dienen sie nur der Steigerung der Effizienz von Abläufen und technischen Prozessen, besteht die Gefahr, dass erst recht weitere Wachstumsprozesse ausgelöst werden. Dieser Zusammenhang soll unter dem Stichwort »Rebound-Effekte« im Folgenden genauer betrachtet werden.
Schöne digitale Mobilitätswelt Der Entwicklungsrahmen für Mobilität verändert sich rasant: Bevölkerungswachstum, urbane Verdichtung und Raumknappheit, Engpässe für den fließenden und ruhenden Verkehr, mangelnde Verkehrssicherheit und Emissionsprobleme erzwingen vor allem auf den Wachstumsmärkten der Mobilität in Asien und Lateinamerika neue Mobilitätskonzepte. Auch die nachwachsende Kundschaft pocht immer weniger auf den Besitz von Fahrzeugen und erwartet stattdessen den verlässlichen, flexiblen und zugleich kostengünstigen Zugang zu modernen Verkehrssystemen. Selbstverständlich will man dabei auch unterwegs möglichst digital vernetzt sein. Für immer mehr Menschen spielt auch die Frage der Nachhaltigkeit dabei eine Rolle. Eine zentrale Antwort auf alle diese Anforderungen – auch die des Umweltschutzes – wird in der Digitalisierung der Mobilität gesehen. Schon heute kann man Autos als rollende Computer bezeichnen. Etwa alle zwei Jahre verdoppelt sich die Rechenleistung der Assistenzsysteme und der elektronischen Schaltstellen zur Optimierung der digitalen Fahrzeugfähigkeiten. Als nächster Schritt steht an, die Fahrzeuge vollständig mit ihrer Umwelt – also dem Internet, der Infrastruktur und anderen Fahrzeugen – zu vernetzen. Ähnlich schnell und konsequent verlaufen die Digitalisierungsprozesse in den anderen Verkehrssektoren, etwa bei der Automatisierung der Verkehrsflusssteuerung der Bahn, des Luftverkehrs oder der Schifffahrt, bei der Verkehrskontrolle auf den Straßen oder zur Vernetzung der Verkehrsträger untereinander. Und doch steht die digitale Revolution des Verkehrs nach allem, was für diesen Bereich heute schon absehbar ist, erst am Anfang, so dass man in den kommenden Jahren wohl ohne zu übertreiben von einer digitalen Neuerfindung der Mobilität ausgehen kann. Am Möglichkeitshorizont erscheint das Bild einer ubiquitär vernetzten technischen Meta-Intelligenz, einer sozio-technischen Mischwelt aus Netzen, Geräten, Software sowie menschlichen Verhaltensweisen und Lebensstilen. Wie auch immer wir das moralisch bewerten, und ob es uns gefällt oder nicht: Diese Entwicklung wird die Mobilitätswirtschaft umfassend revolutionieren. Die Gründerszene der digitalen »Shareconomy« entwickelt in großer Geschwindigkeit immer neue Foren, Netzwerke und Programme für Wegeplanung, Parkplatzsuche und die anteilige Fahrzeugnutzung. Mithin entstehen neue digitale Marktplätze für vernetzte, verkehrsträgerübergreifende Formen der Mobilität, verbunden mit der Botschaft »Mehr Mobilität ist möglich!« – und mit Hilfe digitaler Techniken wird sie trotzdem nachhaltiger. Ist aber dieser auch für andere Wirtschaftssektoren geäußerten Heilserwartung überhaupt zu trauen? Das ist eine offene Frage, denn bei allen Chancen der Digitalisierung sind bereits jetzt enorme Schattenseiten erkennbar. Es besteht die Gefahr der Machtergreifung sich selbst reproduzierender Algorithmen, gegenüber der die Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie der Bürgerinnen und Bürger zu bewahren ist, ebenso wie gegenüber den Macht- und Kontrollinteressen von Staaten, Geheimdiensten und Konzernen. Vor allem müssen die Probleme der enormen Ressourcenintensität digitaler Systeme und ihrer mangelnden Resilienz gegenüber Systemstörungen bzw. gezielten Manipulationsversuchen wie Hackerangriffen zukünftig gelöst werden.
Digitale Rendite lässt die Nachfrage steigen Ein klassisches Beispiel für Rebound-Effekte in Bezug auf Ressourcenverbrauch im Verkehrsbereich ist eine vielzitierte Untersuchung des Wuppertal Instituts zu den Auswirkungen des Fortschritts in der automobilen Motorentechnik. Demnach wurden die Effizienzsteigerungen bei den Antriebsaggregaten nur teilweise genutzt, um verbrauchsärmere Fahrzeuge zu produzieren. Stattdessen brachten die Hersteller angesichts relativ stabiler Treibstoffpreise immer leistungsstärkere, komfortablere und schwerere Autos mit annähernd gleichbleibenden Verbrauchswerten auf den Markt, die steigende Konsumentenansprüche gleichzeitig induzierten wie bedienten. Dies lässt sich anhand des »VW Käfers« illustrieren, der 1955 mit 7,5 Liter Benzin auf 100 Kilometer annähernd ebenso viel Kraftstoff benötigte wie der »New Beetle« mit 7,1 Liter aus dem Jahr 2005. Dass 50 Jahre Ingenieursleistung in den Verbrauchsangaben kaum wiederzufinden sind, hat seinen Grund in den geradezu explodierten Leistungswerten: Beförderte der 730 Kilogramm schwere Käfer seinen Nutzer noch mit 30 PS und einer Höchstgeschwindigkeit von 110 km/h, können beim VW Beetle 75 PS das Fahrzeuggewicht von 1200 Kilogramm auf bis zu 160 km/h beschleunigen. Die Entwicklungen in jüngster Zeit verlaufen dementsprechend: Gemäß dem »International Council on Clean Transportation« (ICCT) lag 2014 die durchschnittliche Antriebsleistung eines Pkw in den EU-Ländern noch einmal um rund 20 Prozent höher als 2001, das mittlere Gewicht legte erneut um 10 Prozent zu. Die eigentliche Sprengkraft der Digitalisierung entsteht im Bereich der Mobilität jedoch abseits der traditionellen automobilen Technikfelder, denn insbesondere die durch sie befeuerte »Shared Mobility« oder »kollaborative Mobilität« hat das Potenzial, entscheidend am stärksten, bislang kaum betätigten Hebel anzusetzen – der Fahrzeugproduktivität. Gegenwärtig werden Privatfahrzeuge in urbanen Räumen rund eine Stunde pro Tag bewegt. In der Berliner Innenstadt liegt dieser Wert bei knapp 40 Minuten – 95 Prozent ihrer Lebenszeit sind diese Fahrzeuge nur Stehzeuge. Wenn sie dann doch einmal über die Straße rollen, liegt die durchschnittliche Auslastung bei nur 1,6 beförderten Personen, im Berufsverkehr weit darunter. Jedes Unternehmen, das seinen Produktionsmitteleinsatz derart ineffizient plante, wäre von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Wer sich von der Besitz-Automobilität verabschiedet, kann Geld sparen. Einige Plattformen machen verfügbare Fahrzeuge und Sitzplätze transparent. Die schweizerische Carsharing-Genossenschaft »Mobility« hat errechnet, dass der Durchschnittsschweizer mit einer Pkw-Fahrleistung von 10 000 Kilometern rund 3500 Euro pro Jahr sparen könnte, wenn er zukünftig 25 Prozent seiner Automobilität mit einem Mobility-Fahrzeug abwickelte und für die restlichen Wege den öffentlichen Verkehr benutzen würde. Wird dieser eingesparte Betrag jedoch genutzt, um auch nur eine zusätzliche Langstrecken-Flugreise zu unternehmen, kehrt sich die Emissionsrechnung ins Negative. Teilen bedeutet nicht unbedingt Konsumreduktion und ist nicht automatisch mit einem grüneren Lebensstil verbunden. Wer seine Autos schlau mit anderen teilt, senkt die Mobilitätskosten – das gibt Anreiz zu einer intensiveren Nutzung. Denkt man die gegenwärtige Entwicklung konsequent weiter, werden optimal ausgelastete, dicht gestaffelt verkehrende Robotersammeltaxi-Flotten zukünftig Tür-zu-Tür-Mobilität zu einem Bruchteil der heutigen Kosten des öffentlichen Nahverkehrs anbieten können. Das könnte zu einer explosionsartigen Steigerung des Individualverkehrs führen.
Mobility on speed Es sei nun noch ein Aspekt möglicher generalisierter, gesamtgesellschaftlich wirkender Rebound-Effekte der Digitalisierung angesprochen. Hier kann vielleicht eine Metapher weiterhelfen, die unseren hochdifferenzierten »Organismus der Gesellschaft« mit all seinen Straßen, Leitungen und Austauschprozessen mit dem biologischen Organismus, seinen Blutbahnen, Nervenleitungen und Schaltzentralen gleichsetzt. Zu befürchten ist, dass die Digitalisierung auf diesen Gesamtorganismus so wirken könnte wie mehrere Liter koffeinhaltige Getränke oder aufputschende Drogen auf den menschlichen Körper: Es kommt zu einer enormen Beschleunigung und Dynamisierung aller körperlich-metabolischen bzw. gesellschaftlichen Vorgänge, zu kurzfristigen Steigerungseffekten – und eben nicht zu nachhaltig-dauerhaften Entwicklungen, sondern zu gesteigertem Ressourcendurchsatz, Flächenverbrauch, Zerstörung sozialer Strukturen und Institutionen etc. Das hat mit einer zukunftsfähigen Entwicklung nicht mehr viel zu tun. Insofern die unterschiedlichen Innovationspfade der Digitalisierung der Mobilität alle im Kern auf eine Effizienzsteigerung der Nutzung einzelner Produkte bzw. eine gesamtsystemische Effizienzsteigerung abzielen, stellen Rebound-Effekte hier also eine zentrale Herausforderung dar. Digital unterstützte verkehrssystemische Innovationen sollten immer im Gesamtkontext einer zukunftsfähigen Entwicklung und komplementärer Handlungsansätze betrieben werden. Einer etwaigen Optimierung des urbanen Verkehrsflusses für den fließenden und ruhenden Verkehr durch verkehrstelematische Lenkung digital vernetzter Autoflotten stünde in dieser Denkweise dann also unbedingt die Notwendigkeit eines Handlungsansatzes gegenüber, der die weiteren, dadurch möglichen Wachstumsprozesse der Automobilität durch geeignete fiskal- oder ordnungspolitische Instrumente auf ein gewünschtes Niveau herunterreguliert. Mit anderen Worten: Es muss künftig neben allen technischen Bemühungen vor allem um die Frage der Vermeidung motorisierter Verkehre gehen. Dabei helfen vor allem dichtere Raum-, Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen sowie verkehrsarme Lebensstile, also soziale Innovationen der Wachstums- und Selbstbeschränkung. Konkret an das obige Beispiel anknüpfend: Die Robotisierung des Straßenverkehrs wird in Kombination mit dem Übergang vom Besitzen zum Nutzen aus dem heutigen Stehzeug Pkw wieder ein Fahrzeug im eigentlichen Sinn machen, das im Sharing-Betrieb das Digitalisierungsmantra des »always on« um den Zusatz »the road« ergänzt. Der Parkplatzbedarf wird massiv sinken. Es gilt, die freiwerdenden Flächen gezielt dem Steigerungsspiel zu entziehen und stattdessen zur Attraktivitätssteigerung muskelkraftbetriebener Mobilität zu nutzen. Damit kann der individuelle Nahraum durch die digitale Rendite so aufgewertet werden, dass er einen neuen Pfad hin zu einer lebensfreundlicheren Mobilität – abseits des Irrwegs der Effizienzillusion – realistisch macht. •
Stephan Rammler (47) ist Ökonom und Politikwissenschaftler, Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und seit 2007 Direktor des Instituts für Transportation Design. www.transportation-design.org.
Thomas Sauter-Servaes (41) Verkehrswissenschaftler, leitet seit 2013 den Ingenieurstudiengang Verkehrssysteme an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und betreibt das Beratungsbüro mobilecular. www.mobilecular.de
Lesetipp zu enkeltauglicher Mobilität Stephan Rammler: Schubumkehr. Die Zukunft der Mobilität. S.Fischer Verlag, 2. Auflage 2014