Die Kraft der Vision

Die Energiekrise

Eine gerechte Gesellschaft ist frei von Energiesklaven.von Ivan Illich, erschienen in Ausgabe #37/2016
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In jüngster Zeit ist es zu einer Mode geworden, die drohende »Energiekrise« heraufzubeschwören. Dieser Euphemismus verschleiert einen Widerspruch und stützt eine Illusion. Er maskiert den Widerspruch, der dem gleichzeitigen Streben nach sozialer Gerechtigkeit und industriellem Wachstum innewohnt, und wahrt die Illusion, dass Maschinenleistung menschliche Arbeitskraft unbegrenzt ersetzen könne. Damit dieser Widerspruch aufgelöst werden und diese Illusion platzen kann, gilt es, die Wirklichkeit, die die Sprache der Krise verschleiert, aufzudecken: Durch den Verbrauch großer Energiemengen werden soziale Beziehungen ebenso unweigerlich zersetzt wie das physische Milieu.
Die Wortführer einer Energiekrise hegen und propagieren ein seltsames Menschenbild. Dieser Auffassung zufolge sei der Mensch in eine andauernde Abhängigkeit von Sklaven, die zu beherrschen er mühsam lernen müsse, hin­eingeboren. Wenn er keine Gefangenen einsetze, brauche er Maschinen, die den Großteil seiner Arbeit erledigten. Dieser Doktrin zufolge lässt sich das Wohlergehen einer Gesellschaft an der Anzahl an Schuljahren, die ihre Mitglieder absolviert haben, und der Anzahl an mechanischen Energiesklaven, über die sie gebieten, bemessen. Diese Überzeugung ist den widerstreitenden ökonomischen Ideologien, die heute en vogue sind, gemein; sie wird jedoch Lügen gestraft durch die offensichtliche Ungerechtigkeit, Unrast und Ohnmacht, die sich überall dort zeigen, wo die unersättlichen Horden der Energiesklaven die Anzahl der Menschen in einem bestimmten Verhältnis übersteigen. Die Energiekrise fokussiert auf das knapp werdende Futter für diese Sklaven. Ich hingegen frage lieber, ob freie Menschen diese überhaupt brauchen.
Die heute ergriffenen energiepolitischen Maßnahmen werden über den Spielraum und die Art der sozialen Beziehungen, die eine Gesellschaft künftig wird unterhalten können, entscheiden. Eine Politik geringen Energieverbrauchs ermöglicht eine große Bandbreite an Lebensstilen und Kulturen. Wenn sich eine Gesellschaft hingegen für hohen Energieverbrauch entscheidet, werden ihre sozialen Beziehungen durch die Technokratie beherrscht, und sie wird menschenunwürdig sein, ganz gleich, ob sie sich nun als kapitalistisch oder sozialistisch bezeichnet.
Heute steht es den meisten Gesellschaften – insbesondere den armen – noch frei, sich anhand von drei Richtlinien für eine Energiepolitik zu entscheiden: Wohlergehen kann entweder mit hohem Energieverbrauch pro Kopf, mit hocheffizienter Energietransformation oder aber damit, dass die mächtigsten Mitglieder einer Gesellschaft die kleinstmögliche Menge an mechanischer Energie verbrauchen, gleichgesetzt werden. Der erste Ansatz betont ein Ressourcenmanagement knapper und destruktiver Brennstoffe zugunsten der Industrie, der zweite eine an thermodynamischer Sparsamkeit geleitete ­Umrüstung der Industrie. Diese beiden Ansätze bringen zwingend enorme ­öffentliche Ausgaben und stärkere gesellschaftliche Kontrolle mit sich; beide propagieren durch rationale Argumente einen computerisierten Leviathan, beide werden eingehend diskutiert.
Dass es eine dritte Option gibt, wird hingegen kaum wahrgenommen. Während sich die Erkenntnis, dass eine ökologische Begrenzung des maximalen Pro-Kopf-Energieverbrauchs eine Bedingung unseres Überlebens ist, inzwischen durchgesetzt hat, wird kaum darüber nachgedacht, dass es die Grundlage jeder modernen und erstrebenswerten Gesellschaft wäre, die kleinstmögliche Energiemenge einzusetzen. Dabei kann nur eine Begrenzung des zulässigen Energieverbrauchs zu sozialen Beziehungen führen, die von einem hohen Maß an Gerechtigkeit gekennzeichnet sind. Diese gegenwärtig übersehene Option ist die einzige, die in Reichweite aller Nationen liegt. Zudem ist es die einzige Strategie, bei der politische Prozesse dazu eingesetzt werden können, um die Macht selbst des motorisiertesten Bürokraten zu begrenzen. Die partizipatorische Demokratie verlangt nach einer Niedrigenergietechnik; und nur die partizipatorische Demokratie schafft die Bedingungen für eine rationale Technik.
Was im Allgemeinen übersehen wird, ist, dass Gerechtigkeit und Energie nur bis zu einem gewissen Punkt gemeinsam wachsen können. Bis zu einer bestimmten Grenze des Pro-Kopf-Wattverbrauchs verbessern Motoren die Bedingungen für gesellschaftlichen Fortschritt. Wenn diese Grenze überschritten ist, nimmt der Energieverbrauch auf Kosten der Gleichheit zu. Wenn es dann noch einen weiteren Energieüberschuss gibt, hat dies zur Folge, dass die Kontrolle über diese Energie stärker zentralisiert wird.
Der weitverbreitete Glaube, dass saubere, reichlich verfügbare Energie das Allheilmittel für alle gesellschaftlichen Übel sei, ist einem politischen Trugschluss geschuldet, demzufolge Gerechtigkeit und Energiekonsum bis ins Unendliche miteinander einhergehen, zumindest unter als ideal angenommenen politischen Bedingungen. Solange wir dieser Illusion anhängen, neigen wir dazu, jegliche Grenze für das Wachstum des Energiekonsums zu ignorieren. Wenn die Ökologen jedoch recht haben und jede nicht durch organischen Stoffwechsel generierte Form von Energie Verschmutzung erzeugt, ist es sogar unausweichlich, dass mechanische Energie jenseits einer bestimmten Grenze korrumpiert. Die Grenze, an der hoher Energieverbrauch zu gesellschaftlicher Disintegration führt, ist unabhängig von jener Grenze, an der die Energieumwandlung physische Zerstörung herbeiführt. In Pferdestärken ausgedrückt, ist erstere zweifellos niedriger als letztere. Dies ist ein Fakt, das es auf theoretischer Ebene zu erkennen gilt, bevor eine politische Aussage über eine Begrenzung des Pro-Kopf-Energieverbrauchs, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt, gemacht werden kann.
Selbst wenn saubere Energie generierbar und im Überfluss vorhanden wäre, wirkt hoher Energieverbrauch auf eine Gesellschaft wie eine physisch harmlose, jedoch psychisch stark abhängig machende Droge. Eine Gemeinschaft kann sich zwischen Methadon und dem »Cold Turkey« entscheiden – zwischen der Beibehaltung der Sucht mittels anderer Energieformen und dem schmerzhaften kalten Entzug –, aber eine Gesellschaft, deren Mitglieder von einer zunehmenden Schar an Energiesklaven abhängig sind und dabei autonom handeln, ist nicht vorstellbar.

Wir sind abhängig von Energiesklaven
In früheren Diskussionen habe ich ausgeführt, dass jenseits ­einer bestimmten Grenze des Pro-Kopf-Bruttonationalprodukts die Kosten für gesellschaftliche Kontrolle schneller steigen ­müssen als die Gesamtleistung und dass diese Kontrolle fortan zur wichtigsten institutionellen Aktivität einer Volkswirtschaft wird. Von Pädagogen, Psychiatern und Sozialarbeitern geleitete Therapien werden auf die Lösungsvorschläge von Planern, Managern und Händlern abgestimmt und ergänzen die Dienstleistungen von Sicherheitsdiensten, Militär und Polizei. Ein Grund, warum größerer Wohlstand stärkere Kontrollen der Menschen bedingt, ist, dass jenseits eines gewissen durchschnittlichen Pro-Kopf-Energieverbrauchs zwingend ein Zerfall des politischen Systems und des kulturellen Zusammenhangs einer Gesellschaft stattfindet. Sobald die kritische Menge des Pro-Kopf-Energieverbrauchs überstiegen ist, muss die Erziehung hin zu den abstrakten Zielen eines bürokratischen Apparats an die Stelle von rechtlich verbriefter Eigeninitiative treten. Diese Menge ist die Grenze der gesellschaftlichen Ordnung.
Meiner Argumentation zufolge muss die Technokratie obsiegen, sobald das Verhältnis zwischen mechanischer Leistung und verstoffwechselter Energie eine klar definierte, ermittelbare Schwelle übersteigt. Die Größenordnung, in der diese Schwelle liegt, ist weitgehend unabhängig vom Grad der Technisierung, aber ihre schiere Existenz ist in Industrieländern wie auch in aufstrebenden Märkten in den toten Winkel der Wahrnehmung gerutscht. Sowohl die USA als auch Mexiko haben das kritische Maß überschritten. In beiden Ländern verstärken sich durch höhere Energieverfügbarkeit Ungleichheit, Ineffizienz und Ohnmacht. Obwohl das Pro-Kopf-Einkommen in dem einen Land bei fast 5000 und im anderen bei 500 US-Dollar liegt (Stand: 1974), treibt beide ein enormes eigennütziges Interesse an industrieller Infrastruktur dazu, den Energieverbrauch weiter massiv zu steigern. Infolgedessen etikettieren nordamerikanische wie mexikanische Ideologen ihre Frustration als »Energiekrise«, und beide Länder sind blind gegenüber der Tatsache, dass der drohende Zusammenbruch der Gesellschaft weder einer Treibstoffknappheit noch der verschwenderischen, verschmutzenden und irrationalen Nutzung verfügbarer elektrischer Leistung geschuldet ist, sondern dem Versuch der Industrie, die Gesellschaft mit Energiemengen zu mästen, die den Großteil ihrer Mitglieder unweigerlich erniedrigen, ausrauben und zurückwerfen.

Energievöllerei zersetzt die Gesellschaft
Ein Volk kann durch die Energieleistung seiner Maschinen ebenso überwältigt werden wie durch den Kaloriengehalt seiner Nahrung; es ist jedoch weitaus schwerer, sich energetische Völlerei einzugestehen als eine krankmachende Ernährung. Die Größenordnung des für das Wohlergehen einer Gesellschaft entscheidenden Pro-Kopf-Energieverbrauchs liegt weit über jener der einfachen Pferdestärke, die vier Fünftel der Menschheit kennen, und weit unter jener, über die jeder Fahrer eines Kleinwagens gebietet. Sie ist dem Unterverbraucher ebensowenig ersichtlich wie dem Überverbraucher. Weder der eine noch der andere ist bereit, sich den Tatsachen zu stellen. Für die Armen hängt das Ende von Sklaverei und Mühsal von der Einführung angemessener Technik ab, und für die Reichen hängt die Vermeidung einer noch schrecklicheren Degradation von der Einsicht ab, dass jenseits eines bestimmten Limits des Energieverbrauchs technische Prozesse die sozialen Beziehungen zu diktieren beginnen. In biologischer wie sozialer Hinsicht ist Brennwert nur so lange gesund, wie er innerhalb des schmalen Grats bleibt, der Genug von Zuviel trennt.
Die sogenannte Energiekrise ist somit ein politisch zwiespältiges Thema. Das öffentliche Interesse an Energiereserven und an der Verteilung von Kontrolle über den Energieverbrauch kann in zwei gegensätzliche Richtungen führen. Einerseits lassen sich Fragen stellen, die eine politische Umstrukturierung möglich machen, indem sie den Weg für Bestrebungen nach einer postindustriellen, arbeitsintensiven Ökonomie mit einem geringen Energieverbrauch und einem hohen Maß an Gerechtigkeit eröffnen. Andererseits kann die hysterische Sorge um Maschinenfutter die gegenwärtige Eskalation kapitalintensiven, institutionellen Wachstums verstärken und uns der letzten Gelegenheit berauben, einem hyper­industriellen Armageddon zu entgehen. Die politische Umstrukturierung setzt die Erkenntnis voraus, dass es kritische Werte des Pro-Kopf-Energieverbrauchs gibt, jenseits derer Energie nicht mehr durch politische Prozesse kontrolliert werden kann. Ökologische Beschränkungen des Gesamtenergieverbrauchs, verhängt von industriell denkenden Planern, die ein hypothetisches Maximum der Industrieproduktion aufrechterhalten wollen, führen unweigerlich zu einer universellen gesellschaftlichen Zwangsjacke.
Reiche Länder wie die USA, Japan oder Frankreich werden vielleicht nur deshalb nie den Punkt erreichen, an dem sie an ihrem eigenen Müll ersticken, weil ihre Gesellschaften bis dahin bereits in ein soziokulturelles Energie-Koma verfallen sein werden. Länder wie Indien, Burma und, zumindest noch für eine kurze Weile, China sind umgekehrt in der Lage, dass sie immer noch so stark auf Muskelkraft basieren, dass sie kurz vor einem Energieinfarkt haltmachen können. Sie könnten in diesem Augenblick beschließen, innerhalb der Grenzen zu bleiben, zu denen die reichen Länder gezwungenermaßen durch einen völligen Verlust ihrer Freiheiten zurückkehren werden müssen.
Die Entscheidung für eine Ökonomie mit minimalem Energieverbrauch fordert den Armen ab, ihre fantastischen Erwartungen aufzugeben, und den Reichen, in ihren Wirtschaftsinteressen einen Schuldzusammenhang zu erkennen. Beide müssen das verheerende, gegenwärtig durch einen ideologisch aufgeheizten Energiehunger propagierte Bild des Menschen als Sklavenhalter überwinden. In Ländern, die durch die Industrialisierung Wohlstand erlangten, dient die Energiekrise als Vorwand zur Anhebung von Steuern, um »rationalere« und gesellschaftlich verheerendere Industrieprozesse an die Stelle jener, die durch ineffiziente Überexpansion obsolet geworden sind, zu setzen. Für die Führer jener Völker, die noch nicht durch diesen Prozess der Industrialisierung dominiert werden, dient die Energiekrise als Alibi für den letzten verzweifelten Versuch, die Produktion, Verschmutzung und Kontrolle zu zentralisieren, um mit den nimmersatten Energieriesen gleichzuziehen. Indem sie ihre Krise exportieren und das neue Evangelium der puritanischen Energieverehrung predigen, schädigen die reichen Länder die armen nachhaltiger, als sie dies durch den Verkauf von Produkten aus inzwischen veralteten Fabriken getan haben. Sobald die Armen die Doktrin schlucken, dass mehr sorgfältiger verwaltete Energie immer auch mehr Güter für mehr Menschen abwirft, legt sich dieses Land die Fesseln der Versklavung durch maximalen industriellen Ertrag an. Sobald sich die Armen dazu entscheiden, ihre Armut durch gesteigerte Energie­abhängigkeit zu modernisieren, verzichten sie ein für alle Mal auf die Option, rationale Technik einzusetzen. Unweigerlich versagen sich die Armen die Möglichkeit einer befreienden Technik und partizi­patorischen Politik, wenn sie im Dienst maximalen Energieverbrauchs maximale gesellschaftliche Kontrolle anwenden.
Die Energiekrise lässt sich nicht durch stärkeren Energie­input überwinden. Sie lässt sich nur gemeinsam mit der Illusion auflösen, dass das Wohlergehen eines Menschen von der Anzahl an Energiesklaven, über die er gebietet, abhängig sei. Zu diesem Zweck ist es notwendig, die Schwelle, jenseits derer Energie korrumpiert, zu identifizieren, und zwar durch einen politischen Prozess, der die Gemeinschaft beim Erforschen dieser Grenzen einbindet. Da diese Art von Forschung der gegenwärtig durch Experten im Auftrag von Institutionen ausgeführten entgegenläuft, bezeichne ich sie als Gegenforschung. Sie umfasst drei Schritte: Erstens muss die Notwendigkeit der Begrenzung des Pro-Kopf-Energieverbrauchs als gesellschaftlicher Imperativ anerkannt werden. Zweitens muss die Spanne ermittelt werden, innerhalb derer diese kritische Größenordnung liegt. Drittens muss jede Gemeinschaft ermitteln, welches Maß an Ungleichheit, Plünderung und Instrumentalisierung ihre Mitglieder im Tausch für die seltsame Befriedigung, Maschinen zu idolisieren und zur von Experten geschlagenen Trommel um dieses »eiserne Kalb« zu tanzen, zu akzeptieren bereit sind.
Die Notwendigkeit politischer Forschung zu einem gesellschaftlich optimalen Energieverbrauch lässt sich deutlich durch eine Beobachtung des modernen Verkehrs illustrieren. Die USA wenden, je nach Rechenmodell, zwischen 25 und 45 ­Prozent ­ihres Gesamtenergieverbrauchs für Fahrzeuge auf: um sie herzu­stellen, zu betreiben und ihnen Platz zu verschaffen, wenn sie rollen, fliegen und parken. Der Großteil dieser Energie wird zur Beförderung von ansonsten immobil gewordenen Menschen eingesetzt. ­Allein zum Zweck des Personentransports verbrauchen 250 Millio­nen Amerikaner mehr Treibstoff als 1,3 Milliarden Chinesen und Inder insgesamt (Stand: 1974). Der Großteil dieser Energie wird für einen Beschwörungstanz zur Herbeiführung zeitintensiver Beschleunigung verheizt. Arme Länder verbrauchen weniger Energie pro Person, aber der Anteil am Gesamtenergieverbrauch, der in Mexiko oder Peru für den Verkehr eingesetzt wird, ist vermutlich höher als in den USA, und davon profitiert ein geringerer Bevölkerungsanteil. Aufgrund der Größe dieses Unterfangens ist es ebenso einfach wie signifikant, die Existenz gesellschaftlich kritischer Energiemengen am Beispiel der persönlichen Mobilität zu ­veranschaulichen.

Fahrradtempo als soziale Geschwindigkeitsgrenze
Im Verkehr wird über einen bestimmten Zeitraum verwendete Energie (Leistung) in Geschwindigkeit übersetzt. In diesem Fall zeigt sich die kritische Energiemenge als Geschwindigkeits­beschränkung. Immer wenn diese Grenze überrschritten wurde, trat das grundlegende Muster sozialer Zersetzung durch hohe Energiemengen auf. Sobald ein öffentliches Verkehrsmittel schneller als 25 Stundenkilometer fuhr, nahm die Gerechtigkeit ab, und die Knappheit von Zeit und Raum nahm zu. Der motorisierte Transport monopolisierte den Verkehr und blockierte Mobilität durch Muskelkraft. In allen westlichen Ländern hatten sich die Reise­kilometer binnen 50 Jahren nach dem Bau der ersten Eisenbahn um den Faktor 100 erhöht. Sobald das Verhältnis ihrer jeweiligen Energieproduktion einen bestimmten Wert überschritten hatte, ­hebelten die mechanischen Umwandler mineralischer Treibstoffe den Gebrauch der Stoffwechselenergie des Menschen aus und zwangen ihn, zum versklavten Konsumenten von Beförderungsmitteln zu werden. Diese Auswirkung der Geschwindigkeit auf die Autonomie des Menschen wird nur unwesentlich durch die technischen Eigenschaften der verwendeten Motorfahrzeuge oder durch die Personen oder Organisationen, die Fluglinien, Busse, Eisenbahnen oder Autos besitzen, beeinflusst. Hohe Geschwindigkeit ist der entscheidende Faktor, der den Transport gesellschaftlich zersetzend wirken lässt. Eine echte Wahl zwischen politischen Systemen und wünschenswerten sozialen Beziehungen ist nur durch eine Begrenzung der Geschwindigkeit möglich. Eine partizipative Demokratie verlangt nach einer Niedrigenergietechnik, und produktive soziale Beziehungen zwischen freien Menschen müssen auf die Geschwindigkeit des Fahrrads beschränkt bleiben. •


Veröffentlichung in Absprache mit Valentina Borremans. Aus dem Englischen übersetzt und leicht gekürzt von Matthias Fersterer. Das englische Original »The Energy Crisis« erschien 1974 in dem Buch »Energy and Equity«.


Ivan Illich (1926–2002) zählt zu den bedeu­tends­­ten und vielseitigsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Er wurde als Sohn einer deutsch-jüdischen Mutter lutherischen Glaubens und eines kroatischstämmigen katholischen Vaters in Wien geboren. Nach dem »Anschluss« ­Österreichs floh die Familie nach Italien. In Rom studierte Illich Theo­logie und wurde 1951 zum ­römisch-katholischen Priester geweiht. Bis 1956 wirkte er in New York als Seelsorger in einer Gemeinde mit hohem puertoricanischen Bevölkerungsanteil. Im mexikanischen Cuernavaca gründete Illich 1961 – unter anderem mit dem ­Befreiungspädagogen Paolo Freire – die missio­narische Bildungsstätte »Centro Intercultural de Documentación«. Seine grundsätzliche Kritik an der Kirche und an deren Südamerikapolitik führte zu einem Zerwürfnis mit dem Vatikan, das 1969 in seiner Niederlegung des Priesteramts gipfelte. Eine von Illichs Kernthesen lautete, dass die westliche Zivilisation nur als Korruption der christlichen Botschaft verstanden werden könne. Fortan lehrte er an Universitäten in aller Welt, von 1991 bis zu seinem Tod an der Universität Bremen. Ivan Illichs Arbeiten zur »Entschulung der Gesellschaft« und zur »konvivialen Technik« sind bis heute Marksteine alternativen Denkens.
www.pudel.uni-bremen.de

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