Titelthema

Alles ist möglich

Wie Eigeninitiative ein kleines badisches Dorf lebendig macht.
von Nicole Pollakowsky, erschienen in Ausgabe #38/2016
Photo
© Jan Kotulla

Die Stimmung steigt, je weiter der Abend fortschreitet. »Drum grüß’ ich dich, mein Badner Land …«, schallt es aus dem Nebenraum – der Rentnerstammtisch nimmt Fahrt auf. Das Ehepaar am Nachbartisch kommt aus der Umgebung und ist bereits den dritten Samstag in Folge zu Gast, immer in Begleitung anderer Freunde. »Wir haben unseren Bekannten vom Hirschbräu erzählt, und alle wollen hierher«, sagt die Frau. Kein Wunder: Der Südwestrundfunk hat das Hirschbräu in Hirschlanden zur besten Dorfgaststätte Baden-Württembergs gekürt. Zu trinken gibt es selbstgebrautes Bier aus der kleinsten Zollbrauerei Deutschlands. Das Wirtshaus, das nur samstags geöffnet hat, ist mittlerweile über die Ortsgrenzen hinaus so bekannt und beliebt, dass für Auswärtige ohne Anmeldung gar nichts mehr geht. Einer der beiden Gasträume ist nur für »Hersch­lanner« reserviert, also für diejenigen, die sich die Dorfkneipe gewünscht haben – und die sie aufgebaut haben und selbst betreiben.
Zu ihnen gehören Wolfram und Marita Lauer. Als es vor gut acht Jahren darum ging, dem Dorf seine Kneipe und damit einen Ortsmittelpunkt und ein Kommunikationszentrum zurückzugeben, hat das Ehepaar mit angepackt. Viel Zeit, davon zu erzählen, haben die beiden heute aber nicht: Die Arbeit ruft! Unterstützt von seinen erwachsenen Söhnen Johannes und Andreas muss Wolfram Lauer Bestellungen aufnehmen, Getränke ausschenken und den gebackenen Camembert und die Schnitzel servieren, die seine Frau Marita in der Küche vorbereitet hat. Die Lauers sind eines von acht ehrenamtlichen Wirte-Teams. Einmal im Vierteljahr stellt die Familie eine kleine Speisekarte zusammen und schmeißt einen Abend lang den Laden im Hirschbräu. »Wir haben gemerkt: Wenn wir selbst nichts machen, stirbt das Dorf«, sagt Wolfram Lauer.
Vermutlich hat er damit recht. »Badisch Sibirien« wird die Gegend, in der Hirschlanden liegt, geneckt – nicht ganz ohne Grund: ländlicher Raum, strukturschwache Region, die nächste größere Ortschaft, Buchen, liegt 15 Kilometer weit weg, Heilbronn ist 60 Kilometer entfernt. Die Dorfschule wurde schon in den 1970er Jahren geschlossen. Der letzte Laden im Ort hat vor zwei Jahren dichtgemacht. Die Gemeinde Rosenberg, zu der Hirschlanden gehört, leidet wie viele Kommunen unter chronischer Geldnot – Investitionsspielraum gibt es nicht, schon gar nicht in den Ortsteilen.
Trotzdem haben die Hirschlandener die Kurve gekriegt. Das ist auch das Verdienst von Martin Herrmann. Seit 22 Jahren ist der studierte Volkswirt Ortsvorsteher, und statt wie viele Kollegen die Auflösung der dörflichen Strukturen zu beklagen, scheint der 53-Jährige vor Ideen und Tatendrang überzusprudeln. Projekte, die anderswo schon in der Planungsphase wieder beerdigt werden würden, setzt er mit den Dörflern wie selbstverständlich in die Tat um. Freilich gibt es auch in Hirschlanden hie und da Knatsch. Es gibt auch »eine Handvoll Verweigerer«, doch die sind in der Minderheit. Nur unter der Bedingung, dass das Dorf mit anpackt, habe er seinen Posten angetreten, erzählt Herrmann. Um Mitstreiter für den Bau eines Dorfgemeinschaftshauses zu finden, sei er damals von Haus zu Haus gegangen. »Zum Schluss hatten wir eine solche Anzahl von Helfern, dass es fast zu viele waren«, erinnert er sich. Anfänglicher Widerstand sei inzwischen verstummt. »Die Leute haben erkannt: Wenn sie sich engagieren, trägt das Früchte«, so Herrmann.
Das Dorfgemeinschaftshaus, eine Grillhütte, einen Kindergarten und ein Jugendzentrum haben die Hirschlandener ebenso wie ihre Dorfkneipe in den vergangenen 20 Jahren in Eigenregie gebaut und mit Leben gefüllt. Auf Unterstützung durch die Kerngemeinde hoffen sie schon lange nicht mehr. Stattdessen setzen sie auf Gelder von Land, Bund und EU – vor allem aber auf Einfallsreichtum.
»Man muss etwas Besonderes bieten«, hat Martin Herrmann festgestellt und vor einiger Zeit begonnen, sich für den Anlass des Hirschlandener Dorf- und Straßenfests diverse Rechte zu ­sichern. Alljährlich im Frühsommer wird der Ort zum Schauplatz abenteuer­licher Wettkämpfe: In Hirschlanden findet die Weltmeisterschaft im Mülltonnenrennen statt, hier wird die Deutsche Schreimeisterschaft ebenso ausgetragen wie die WM im Mistgabelweitwurf. Nicht zu vergessen: der Große Preis von Baden-Württemberg im Dackelrennen. »Je skurriler, desto besser«, lautet das Motto des Spektakels, das Schaulustige zu Tausenden in die badische Pampa lockt. Mindestens 300 der gut 400 Dorfbewohner seien dann auf den Beinen, um mitzuhelfen und die Besucher zu bewirten, so Herrmann. Der Erlös des zweitägigen Fests fließt in den Topf, aus dem Gemeinschaftsprojekte wie das Hirschbräu finanziert werden.
Wieder eine Dorfkneipe zu haben, war ein Herzenswunsch vieler Hirschlandener. Das alte Rathaus im Ortskern, das seit Jahren leerstand, bot den geeigneten Raum. Tausende von Arbeitsstunden haben Freiwillige in die Renovierung gesteckt. Selbstverständlich musste auch hier das besondere Etwas her: Bauherren und Wirte richteten im Erdgeschoß ihre eigene Brauerei ein. Nach einem Jahr Vorbereitung wurde im Oktober 2008 das erste Hirschbräu gezapft. Elf Hirschlandener sind mittlerweile zertifizierte Brauerinnen und Brauer und tüfteln an immer neuen Bieren. »Jedes Rezept ist eine Eigenkreation«, betont Martin Herrmann, der auch der Braumeister ist. Experimentiert wird unter anderem mit alten Getreide-sorten wie Einkorn oder Emmer. Die Hirschlandener könnten einen florierenden Handel damit betreiben – das wollen sie aber nicht. »Der Spaß soll im Mittelpunkt stehen«, gibt der Braumeister die Richtung vor. Man will klein und fein bleiben. Der Erlös aus dem Bierverkauf reicht, um das Gasthaus zu finanzieren – basta.
Alles, was Martin Herrmann erzählt, klingt so einfach, so logisch, so schön – und trotzdem nicht zu schön, um wahr zu sein. Der öffentliche Nahverkehr ist schlecht ausgebaut? 27 Ehrenamtliche stehen für Fahrdienste zum Amt, zum Arzt oder zum Besuch im Krankenhaus bereit. Kein Laden im Dorf? Die Hirschlandener organisieren einen Kisteneinkaufsservice, über den die Waren des täglichen Bedarfs zweimal pro Woche an die Haustür geliefert werden. Es gibt einen Hospizdienst, einen Mittagstisch für Senioren, und im örtlichen Waldkindergarten machen die jüngsten Gemeinde-mitglieder den Ziegenführerschein unter Anleitung einer Tier­pädagogin. Als einziger Ort Baden-Württembergs qualifizierte sich Hirschlanden mit seinem Konzept als Mehrgenerationendorf unter dem Motto »Gemeinsam statt einsam« für den Bundesentscheid des Wettbewerbs »Unser Dorf hat Zukunft!«.
Heißt Martin Herrmann vielleicht in Wirklichkeit Miraculix und braut er in seinem Kessel gar kein Bier, sondern einen ganz anderen Trank? Ehrenamts-Wirt Wolfram Lauer hat eine andere Erklärung für das, was in seinem Heimatort passiert: »Dahinter steckt Arbeit, richtig viel Arbeit.« Gemeint ist damit nicht nur der körperliche Einsatz, denn bevor die Ärmel hochgekrempelt werden, gilt es, Überzeugungsarbeit zu leisten, Mitstreiter zu finden – und nicht zuletzt, die Fäden in der Hand und die Freiwilligen bei Laune zu halten. Da kommt doch wieder Martin Herrmann ins Spiel. Ginge es auch ohne ihn? »Mittlerweile schon«, glaubt der Ortsvorsteher selbst. »Wir sind über das Stadium hinaus, in dem alles mit einer Person steht und fällt. Inzwischen sind es viele, die eigene Ideen entwickeln und umsetzen.« Das sind nicht nur ältere Semester. Siehe Küche: Andreas und Johannes Lauer studieren in Karlsruhe, am Wochenende kommen sie nach Hause, kicken in ihrem Verein – oder bewirten ihre Mitbürger. Auch bei der eigenen Tochter beobachtet Martin Herrmann dieses Phänomen: Statt in die weite Welt zieht es die junge Frau nach ihrem Studium ins kleine heimatliche Dorf – zurück »uff Herschlanne«, zurück in die Zukunft. •


Nicole Pollakowsky (41) ist freie Journalistin in Heidelberg mit dem Schwerpunkt nachhaltiges Leben und Wirtschaften. Mut machen ihr Menschen, die sie bei ihren Recherchen trifft und die zeigen: Es geht auch anders!

Zur badischen Dorfkneipe
www.hirschbraeu-hirschlanden.de

weitere Artikel aus Ausgabe #38

Photo
Permakulturvon Sonja Korspeter

Lebendige Pferdestärken

Emanuel und Ursina Zwicky-Schmid setzen auf ihrem 40 Hektar großen Bio-Milchviehbetrieb für einen großen Teil der landwirtschaftlichen Arbeiten auf Pferdekraft. Sie nutzen ihre Rösser aber auch zum Fahren und Reiten in der Freizeit.

Photo
von Ute Scheub

Auf gute Machbarschaft

Am Anfang war mein Scheitern. Im Jahr 2007 wollte ich in »­meiner« Onkel-Tom-Siedlung in Berlins südwestlichem Bezirk Zehlendorf eine nachbarschaftliche Tauschökonomie aufbauen. Doch die Bewohner und Nachbarinnen mochten ihr Engagement nicht verrechnen – auch nicht

Photo
von Nicole Pollakowsky

Alles ist möglich

Was braucht eine Dorfgemeinschaft: Kneipe? Kindergarten? ­Gemeinschaftshaus? Einkaufsmöglichkeiten? Angebote für Ältere? Am besten alles, finden die Hirschlandener – und krempeln die Ärmel hoch. Dafür, dass ihr Dorf eine Zukunft hat, arbeiten die Einwohner des 400-Seelen-Örtchens im badischen Hinterland mit vollem Elan.

Ausgabe #38
Nachbarschaft

Cover OYA-Ausgabe 38
Neuigkeiten aus der Redaktion