Abschied und Neuanfang für die Redakteurin der Bildungsrubrik.
von Anke Caspar-Jürgens, erschienen in Ausgabe #38/2016
Statt Dauersitzungen am Computer, um für die Aufklärung in Sachen Bildungsfreiheit und Vielfalt im Bildungswesen zu recherchieren und zu inspirieren, werde ich in meinem Umfeld – unserer intentionalen Gemeinschaft – ganz real mit Kindern Zeit verbringen und dabei herausfinden, was im Hier und Jetzt konkret anliegt. Aber ist der Ausdruck »Kinder« für mich nicht eigentlich verbrannt? Noch immer können junge Menschen nicht ihre grundgesetzlichen Rechte für sich selbst einklagen, noch immer ist ein »Kind« eine diskriminierte Person. Im alltäglichen Sprachgebrauch »junger Mensch« anstelle von »Kind« zu verwenden, ist mir noch mühsam. Auch der von dem Philosophen Bertrand Stern vorgeschlagene Ausdruck »frei sich bilden« statt des allzu oft mit Schule assoziierten »Lernens«, geht mir nur schwer über die Lippen. Dennoch, wenn das Neue auch noch ungewohnt klingt, ist es sehr nützlich, die eigenen Formulierungen aufs Genaueste zu untersuchen. Ich werde in Zukunft jedenfalls weiterhin mit einem wachen Blick beobachten, wo überall im Alltag unbewusste Diskriminierungen von Menschen aufgrund ihres Alters zur Selbstverständlichkeit geworden sind und wie sie sich auflösen lassen.
Freilerner werden selbstbewusster Kinder darin zu unterstützen, dass sie ihr Vertrauen zu sich selbst, zu ihrem inneren roten Faden erhalten können, wird wohl mein Antrieb bleiben, unabhängig davon, was ich tue. Gibt es einen stärkeren Hebel, um die Geschicke der Welt auf einen guten Kurs zu bringen, als das Vertrauen der Menschen in sich selbst? Dem scheinen mir die Freilerner-Familien recht nahe zu kommen: Menschen, die beispielsweise durch die einengende Situation der Kinder in der Kindertagesstätte oder Schule den Familienfrieden massiv gefährdet sehen, sich der Warnsignale ihrer Kinder bewusst werden und beherzt ihrer inneren Stimme folgen, um ihnen ein Aufwachsen jenseits von institutionalisiertem Lernen zu ermöglichen. Sehr beeindruckend fand ich kürzlich solche dramatischen Prozesse in dem Buch »Wir sind so frei – Freilerner-Familien stellen sich vor« dokumentiert. Zwanzig Freilerner-Familien schildern darin ihr Leben. Sie berichten, welche Vor- und welche Nachteile ihnen das informelle Sich-Bilden brachte und wie sie über ihre Zukunft denken. Es kommen Familien vor, die in Deutschland leben, aber trotz ihres außerlegalen Status’ auf das Auswandern verzichtet haben. Ebenso berichten Familien aus den acht europäischen Ländern, in denen Homeschooling bzw. Freilernen legal ist, und schließlich auch solche, die beständig auf Reisen sind. Sie alle beschreiben die gleiche Herausforderung: gemeinsam mit ihren Kindern in die Freiheit hineinzuwachsen, etwas neu zu schaffen und auch herauszufinden, wie dieses Neue im Rahmen der Gesellschaft und im eigenen Umfeld umsetzbar ist. Einige der Familien erleben sich von ihrer Mitwelt als selbstverständlich anerkannt, die anderen wünschen sich mehr Verbindung mit anderen, idealerweise eine lebendige Dorfgemeinschaft. Als ich in den 1980er-Jahren begonnen habe, mich mit informeller Bildung zu beschäftigen, war das Thema eine winzige gesellschaftliche Nische. Bücher wie das oben genannte bezeugen, dass es sich zwar langsam, aber doch lebendig weiterentwickelt hat. Die in »Wir sind so frei« vorgestellten Familien halten zusammen, sie akzeptieren Unterschiedlichkeiten, sind voller Neugier und Forscherdrang und haben ein unbeschwertes Auftreten gegenüberAutoritäten. Das sind Qualitäten, die das Leben spannend machen. Deshalb freue ich mich, in Zukunft wieder vermehrt mit Freilern-Praktikern zusammenzuarbeiten und mich nach einigen Jahren Pause wieder in den »Bundesverband Natürlich Lernen! e. V.« einzubringen. Der Verein wird dieses Jahr bei uns in Klein Jasedow ein kleines Sommercamp abhalten. Abschließend lege ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, noch zwei Studien des Entwicklungspsychologen Peter Gray ans Herz. Der Autor ist vielen durch seine in Oya veröffentlichten Artikel (siehe Ausgabe 5, 19 und 34) oder durch »Befreit Lernen«, sein jüngstes Buch im Drachen Verlag, bekannt. Peter Gray und seine Kollegin Gina Riley stellten bei ihrer Studie im Jahr 2011 die positiven Auswirkungen des Freilernens auf Familien fest und beschlossen deshalb, in einer Folgestudie zu untersuchen, wie ehemals freilernende Kinder rückblickend ihre Erfahrung beurteilen. Die Forscher fragten die inzwischen jungen Erwachsenen beispielsweise, ob sie eine Hochschulbildung erlangen konnten, falls sie sich dazu entschieden hatten, und ob sie eine gewinnbringende und zufriedenstellende Erwerbstätigkeit finden konnten – und erhielten positive Antworten. Selbstkritisch vermerkt Peter Gray, dass die Studie mit nur 75 Teilnehmern aus den USA, Kanada, England und Deutschland durchgeführt wurde und die Auswahl der Probanden nicht zufällig, sondern bewusst erfolgt sei, weshalb sie keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit habe. Sie zeige allerdings, dass es »möglich sei, auf dem Freilerner-Weg zu einem sehr erfüllten Erwachsenenleben zu finden. Den Menschen, die an der Umfrage teilgenommen haben, scheint das Freilernen in ihren Bemühungen nach höherer Bildung, Wunschberufen und anderen sinnvollen Lebenserfahrungen weitaus mehr Vorteile als Nachteile geboten zu haben.« Bei solchen Aussagen irritiert mich, dass, obwohl die vielen Ergebnisse der 25 Studien zum Freilernen, mit denen ich mich im Lauf der letzten 26 Jahre auseinandergesetzt habe, Peter Grays Schlussfolgerungen entsprechen, sich kein anerkanntes Forschungsinstitut in Deutschland dieses Themas annimmt. Bildung zu Hause ist hierzulande derart tabu, dass selbst das Deutsche Institut für internationale Bildungsforschung oder das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung weder zu diesem Thema arbeiten noch Literatur zur Verfügung stellen können. Meine eigenen Forschungen anhand meiner Praxis in einer selbstorganisierten Lerngruppe habe ich in meinem Buch »Lernen ist Leben. Die Familienschule: Wie Schule sein könnte, wenn das Lernen frei wäre« dokumentiert. Mit dem Dreh- und Angelpunkt dieses vier Jahre lang praktizierten freien Bildungsprojekts verabschiede ich mich als Oya-Redakteurin. Es sind die ethischen Grundlagen der damaligen Arbeit, die ich für elementar wichtig halte: ! Gegenseitiger liebevoller Respekt von Erwachsenen und Kindern. Das heißt, Kinder wie Erwachsene sind gleichwertige Partner, die sich annehmen und voneinander lernen. Es gibt keine Hierarchie und somit keine Machtverhältnisse physischer, psychischer oder institutioneller Art. ! Gegenseitige Achtung und Beachtung individueller Bedürfnisse und persönlicher Gegebenheiten. Das heißt, Kinder wie Erwachsene versuchen, in größtmöglicher Aufmerksamkeit und unter Wahrung der Gleichberechtigung die Wünsche aller zum Konsens zu führen. ! Gegenseitige Hilfe. Das heißt, Kinder wie Erwachsene helfen sich in Konfliktsituationen und persönlichen Schwierigkeiten, ohne dabei Macht über den Hilfsbedürftigen zu gewinnen. ! Wertschätzung der Muße im Sinn von »scholé«. Das heißt, jedem Menschen wird die Zeit geschenkt, die er für die unabgelenkte innere Arbeit benötigt. Das bedeutet uneingeschränktes Verständnis für den langsameren, schwächeren Menschen, der je nach Bereich immer ein anderes Mitglied der Gemeinschaft sein kann. ! Keine Konkurrenz, sondern lebendiger, gemeinsamer Eifer aller, das jeweils mögliche Beste zu geben – sowohl zur Entfaltung der eigenen Potenziale wie auch zum Gelingen der Gemeinschaft. ! Wertschätzung der Andersartigkeit des Gegenübers. Das heißt, der andere wird nicht kolonisiert, um ihn nach einem bestimmten Schema einseitig zu verändern. Vielmehr wird Andersartigkeit als Voraussetzung eines reichen, resilienten Soziotops erkannt. ! Suche nach der inneren Bestimmung eines jeden Einzelnen. Das heißt, die erste Bemühung gilt der Erkenntnis seiner selbst. Dieser Prozess schließt Irrtum und Fehler ein und nimmt die Grenzen des Individuums und der Gemeinschaft ernst. ! Uneingeschränkte Bereitschaft, jedem Mitglied der Gemeinschaft die freie Entfaltung seines Wesens und seiner Persönlichkeit zu ermöglichen und dabei die erkannten individuellen wie gemeinschaftlichen Grenzen behutsam zu erweitern. ! Kein Zwang. Das heißt, Kinder wie Erwachsene leben in der Gemeinschaft mit wachen Augen und sehen und erleben selbst, was für ein geschmeidiges Funktionieren des sozialen Organismus vonnöten ist. Daraus erwächst eine natürliche Disziplin und Ordnung. ! Freiwillige Verantwortung. Das heißt, Kinder wie Erwachsene übernehmen freiwillig Verantwortung für Lebensbereiche der Gemeinschaft, die ihnen jeweils angemessen sind. ! Bedingungsloser Schutz der unantastbaren Würde jedes Mitglieds der menschlichen Gemeinschaft. •
Sich vernetzen und zum Thema »Freilernen« informieren Bundesverband Natürlich Lernen! e. V.: www.bvnl.de Studien: www.kurzlink.de/studien-gray www.kurzlink.de/frelerner-erwachsen www.schulfrei-community.de Literatur: Anke Caspar-Jürgens: Lernen ist Leben. Die Familienschule: Wie Schule sein könnte, wenn das Lernen frei wäre. Drachen Verlag, 2012 Karen Kern, Stefanie Mohsennia: Wir sind so frei: Freilerner-Familien stellen sich vor. tologo, 2016