Gemeinschaft

Was ist der nächste Schritt?

Eine Reflexion über die Werkstatt »Gemeinschaft X.0«.
von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #38/2016
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Für die Gemeinschaftsbewegung liegt etwas in der Luft. Viele, die schon lange in Gemeinschaft leben, aber auch junge, neugierige Menschen haben den Wunsch, Gemeinschaft neu zu denken. Es gibt ungelöste Fragen – zum Beispiel anstrengende Entscheidungsprozesse, wirtschaftliche Ineffektivität, hohe Fluktuation, soziale Überforderung oder geringe gesellschaftliche Wirkung –, die angegangen werden wollen. Es ist ein Potenzial spürbar: Gemeinschaftliche Lösungen sind möglich – und gesellschaftlich auch nötig. Die menschliche Evolution hat eine Fülle unterschiedlicher Gemeinschaftsformen – von der Jäger-Sammler-Gruppe über Stämme, Kollektive und Netzwerke bis hin zur entstehenden Weltgemeinschaft – hervorgebracht. Die intentionalen Gemeinschaftsprojekte unserer Zeit wollen Vielfalt statt Kollektivismus fördern; sie haben sich auf die Suche nach Lösungen für ökologische, politische, soziale und innere Themen begeben. Doch diese ­Suche ist noch sehr neu; sie begann im Westen erst mit den sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit um die Mitte der 1960er Jahre.
Über 50 Delegierte von zwölf großen und zwei kleinen Gemeinschaften aus dem deutschsprachigen Raum sind im Februar der Einladung zu einem Treffen in Schloss Tempelhof gefolgt (siehe auch Seite 74). Auch Findhorn aus Schottland, das mit 54 Jahren älteste europäische Gemeinschaftsprojekt, ist vertreten. Träger der Veranstaltung ist der im Sommer 2014 gegründete Verein »Global Ecovillage Network Deutschland«.
Es ist immer wie ein schönes Familientreffen, wenn so viele Gemeinschaften zusammenkommen – doch diesmal geht es um eine besondere Herausforderung. »Gemeinschaft X.0 – time2upgrade!« nannten die Initiatoren François Michael Wiesmann und Maria Tacke ihre Einladung. »Zeit für ein Upgrade«? – Ich übersetze das neudeutsche Zauberwort für mich mit »Jetzt geht es ans Eingemachte!«. Wir sind nicht für einen intellektuellen Austausch, sondern für einen inneren und äußeren Forschungsprozess zusammengekommen: »Was gelingt uns, und wo sind wir ratlos, erschöpft oder resigniert? Was tut weh, und wo gilt es, auf tiefer Ebene zu heilen? Wie wirksam sind wir in der Welt? Sind wir in einer gemeinsamen Nabelschau gefangen? Inwiefern braucht der Gemeinschaftsbegriff selbst ein Update/Upgrade, eine Verbesserung – was bezeichnen wir als Gemeinschaft und was nicht?«

Zugehörigkeit und Entwicklung
Eine These des in Bad Belzig lebenden François wurde zum Ausgangspunkt aller Überlegungen: »Die Definition von Gemeinschaft über die Form (vegan, politisch, spirituell etc.) funktioniert immer weniger. Das neue Wir wird zusammengehalten von einem geteilten Innenraum.« In seinem Vortrag beginnt er mit nützlichem Basiswissen, dem Bindungsmodell von Gordon Neufeld. Der Psychologe unterscheidet kindliche Entwicklungsphasen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gegenüber den Eltern: emotionale Bindung durch Nähe und Zugehörigkeit (»Belonging«) und eigene Entwicklung durch Ziel- und Werteorientierung (»Becoming«). Übertragen auf das Zusammen­leben in Gemeinschaften bedeutet das, so François, dass Defizite aus der Kindheit unterschiedliche Erwartungen nach sich ziehen. »Wenn beispielsweise Zugehörigkeit zu einseitig verfolgt wird, drehen wir uns nur um uns selbst. Wenn Entwicklung zu einseitig verfolgt wird, heben wir ab. Das Belonging muss geklärt sein, bevor Becoming stattfinden kann.«
Eine wertvolle Forschungsfrage an alle, die in Gemeinschaft leben, könnte demnach lauten: »Aus welcher Entwicklungsphase heraus spreche und handle ich gerade?« Das Zulassen dieser Frage und der Austausch darüber könnte Klarheit und Kontakt schaffen, wo sonst unterschiedliche Bedürfnisse schnell gegen­einander geraten.
Eine zweite Erkenntnis, die ich aus dem Vortrag mitnehme, hat ebenfalls mit einer Verwechslung von Ebenen zu tun: Das verbreitete »All Leader«-Prinzip, demzufolge alle auf gleicher Augenhöhe sind und gemeinsam entscheiden, hat einen visionären Aspekt, kann aber auch zu einem starren Konzept werden. Eine ganz andere Qualität bringt die Idee einer »Kompetenzhierarchie« mit sich. Diese setzt zum einen voraus, dass Autoritätsthemen aus der Vergangenheit bearbeitet werden, und zum anderen, dass es einen ehrlichen und präzisen Austausch zum Thema Kompetenz gibt.
Thomas Hübl, ein spiritueller Lehrer, der sich in der Gemeinschaftsbewe­gung engagiert, wird später dazu sagen: »Das Konzept ›All Leader‹ ist dysfunk­tional. Jemand, der mal ein Medizinbuch gelesen hat, ist kein Leader bei Operationen. In einer Kultur, in der wir versuchen, alle gleich zu sein, hören wir auf zu atmen. Gemeinschaft ist immer gesunde Zugehörigkeit und ­gesunde Entwicklungschance in einer Kompetenzhierarchie. Eine gesunde Zugehörigkeit wirkt stärkend, denn sie schafft Struktur, ein Zuhause. Becoming ist der frische Entwicklungswind; man braucht offene Fenster im Haus, damit er einströmen kann. Wenn Belonging und Becoming von klein auf entwickelt werden, kann ich ein Mensch sein, der sich sowohl in Beziehung setzen als auch sich entwickeln kann.«
Damit sind wichtige Themen genannt, die auch nach meiner Erfahrung das Leben in Gemeinschaft oft schwermachen. Der Aufbau von sinnvollen Hierarchien ist ein mutiger Schritt. Nicht nur diejenigen sind kompetent, die planen, denken und machen, sondern auch diejenigen, die wahrnehmen, spielen und fühlen. Ich sehe immer deutlicher, wie wichtig eine bewusste Balance zwischen unterschiedlichen Menschentypen und Strömungen innerhalb einer Gemeinschaft ist: den »Speerspitzen«, die immer weiter voran wollen, und dem »Nährboden«, der Heimat schaffen möchte. Eine schöne Verbindung dieser gegensätzlichen Pole von Zugehörigkeit und Entwicklung wird in Findhorn praktiziert: Zu Beginn eines Treffens gibt es erst ein »Check-in«, bei dem jede und jeder auf die Frage »Wie geht es mir gerade?« antwortet. Dann folgt ein ­»Tune-in« (»Einstimmen«) mit der Frage: »Was wollen wir gemeinsam bewirken?«

Altbekannte Schattenseiten
Die Aufmerksamkeit für solche Feinheiten wird im Rahmen unseres Treffen immer wieder mit dem Bild eines »gemeinsamen Innenraums« umschrieben. Bislang ist eher der individuelle Innenraum bewusst, der je nach Situation mehr oder weniger deutlich zu spüren ist. Die nächste Frage aber könnte lauten: Wie kann eine Gemeinschaft einen gemeinsamen Innenraum wahrnehmen?
Momente, in denen das gelungen ist, beschreibt François als »ein leuchtendes Zusammensein, aus dem ganz von selbst eine Fürsorge für alles Lebendige hervorgeht«.
Die Frage nach dem nächsten Schritt wird in Gesprächskreisen mit Menschen aus unterschiedlichen Gemeinschaften besprochen. Als Knoten- und Stagnationspunkte wurden unter anderem Spiritualität, Ökonomie, Arbeit und Business, gesellschaftlicher Beitrag, Führung und Potenzialentwicklung sowie Beziehungskultur genannt. Es ist wie ein Déjà-vu: Diese abstrakten Themen habe ich doch schon Tausende Male gesehen und beackert! Auch die Leitung ist überrascht von der Oberflächlichkeit der Themen. Mit einem Augenzwinkern bemerkt François: »Wenn man Mist sammelt, sieht es immer schlecht aus!«
Ich selbst möchte vor diesem Punkt der Forschung aber nicht zurückscheuen, weil ich darin einen notwendigen Schritt für wirkliche Veränderung sehe. Wenn ich mich bewusst auf die Schatten-seiten von Gemeinschaft fokussiere, entsteht in mir folgender, unzensierter Gedankenfluss: Der Gemeinschaftsgedanke an sich ist schon ein Paradox: Ich erwarte von anderen, was ich nicht geben kann. Gemeinschaft zieht oft Menschen an, die unzufrieden sind oder in ihrem Leben nicht zurecht kommen. Neue Mitglieder werden anhand von Zielen und Konzepten ausgewählt, weniger anhand von Sympathie und Freundschaft. Die Menschen schauen weniger darauf, wer sie sind, als darauf, wie sie sein sollen. In der Regel arbeiten die Leute in Bereichen, von denen sie kaum Ahnung haben. Den meisten fehlt eine Ausbildung in Gemeinschaftswissen. Wenn die Gemeinschaft möglichst alle Lebensbereiche umfassen soll – wo bleiben dann Eigenraum und Eigensinn? Der komplexe und anspruchsvolle Alltag überlagert oft die Möglichkeit des Feierns, der Stille, der Intimität, der Kunst und der visionären Öffnung. Der Kontakt in Gemeinschaft findet oft in einem strukturierten Rahmen mit vielen Menschen, nicht freiwillig und spezifisch statt. In allen Gemeinschaften erlebe ich einen spezifischen »Gemeinschafts-Burnout«. Die Menge an Meinungen, Informationen, Funktionen und Emotionen überfordert die einzelnen. Gemeinschaft kann wie ein hungriges, vereinnahmendes Wesen sein. Ich frage mich auch, warum Partnerschaften in Gemeinschaft schneller auseinanderbrechen und warum Freundschaften so schwer zu pflegen sind. Sind die »Du«s schon an das »Wir« vergeben?
Diese Gedanken sind keine faktischen Behauptungen, sondern Fragen für weitere Forschungen und Erneuerungen. Es geht nicht dar­um, ein neues System, ein für alle gültiges Konzept zu entwickeln (eine allgemein verbreitete Reaktion, auch in Gemeinschaften). Wenn ich in einem weiten Rahmen denke, entsteht in mir das Bild eines »neuen Gesellschaftsvertrags«. Ein solcher wäre differenziert und individuell; neben der organisierten Gemeinschaft würde er auch Stille, Selbstliebe, Eltern, Familie, Freunde und alle Lebensanteile jedes und jeder Einzelnen umfassen. »Meine« Gemeinschaft setzt sich aus vielen Gemeinschaften zusammen. Nach innen darf sie die Eigenarten der einzelnen – von Licht bis Schatten – umarmen, nach außen kann sie sich in die Region und Gesellschaft hinein ausbreiten. Ein solcher »Vertrag« könnte beispielsweise in Aufstellungen und individuellen Vereinbarungen sichtbar gemacht werden. Als Individuum trete ich damit in die Selbstverantwortung ein, und die Gemeinschaft erkennt mich darin an – insbesondere bei der Aufnahme, und danach vielleicht in einem bestimmten Rhythmus. Das gemeinsame Leben findet in Phasen statt und braucht verschiedene Arrangements.
In dieser Vision sehe ich eine Verbindung zum Ausgangspunkt unserer Suche: dem Verlassen der Form. Sie erinnert mich an einen Gedanken von François, dass durch einen gemeinsam geteilten Innenraum Gemeinschaft persönlicher und intimer wird. Die Stabilität wird dann nicht mehr durch äußere Gleichheit aufrechterhalten, sondern durch die Fähigkeit, einen stabilen Beziehungsraum von vielen ­Menschen zu halten, der wahre Individualität und Einzigartigkeit ­tragen kann.

Fazit
Wie weit also sind wir gekommen mit der Suche? Gegen Ende der gemeinsamen Tage steht die Bedeutung der inneren Qualitäten im Vordergrund: »Den Raum des Nicht-Wissens erlauben«; »Dem Innenraum lauschen«; »Ängste sichtbar werden lassen«; »Individuelles Potenzial fördern, eigene und andere Potenziale erkennen«.
Für Maria, die das Treffen wesentlich mitinitiiert hat, ging eine
Sehnsucht in Erfüllung: »Die Fähigkeit, durch eine bewusste Gestal­tung des Zusammenlebens und -wirkens einen wesentlichen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, ist bei vielen Menschen in Gemeinschaft vorhanden. Diese Erfahrung geteilt zu haben, war für mich sehr ermutigend.«
Mit dem Erleben eines gemeinsamen Innenraums während des Treffens wurde ein Samen gelegt. Ob er auch aufgehen wird, ist noch offen. Jedenfalls wurde eine wunderbare Grundlage für die nächste Herausforderung geschaffen. Der »nächste Schritt« geht weiter! •


Selber über nächste Schritte nachdenken?
Film über das Treffen: www.vimeo.com/156766087
Rede von Thomas Hübl: www.kurzlink.de/4zDC3bLVB
Das Projekt wurde begleitet von Dr. Iris Kunze vom Institut für Integrale Studien in Freiburg sowie vom Zentrum für globalen Wandel und Nachhaltigkeit der Universität für Bodenkultur in Wien. www.community-research.eu

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