Zerreißprobe
Menschen aus einer fremden Kultur zu begegnen, ist oft einfacher, als solchen, die sich von Fremden bedroht fühlen. Wie lassen sich in alle Richtungen Brücken bauen?
Um die Jahrtausendwende verbreitete sich der aus dem amerikanischen Englisch übersetzte Text »Die Evolution der Integralen Kultur« des Soziologen Paul H. Ray, in dem dieser seine Entdeckung einer – neben den »Traditionalisten« und den »Modernisten« – dritten bedeutsamen gesellschaftlichen Strömung verkündete. Die »Kulturkreativen« sind charakterisiert durch ein Themen- und Wertemuster, wie es sich beispielsweise in Oya widerspiegelt. Ray sprach in seinem Essay von der Hoffnung, dass die Kulturkreativen angesichts der offensichtlich nicht mehr funktionierenden »Geschichte«, wie sie die westlich-industrielle Leitkultur erzählt, eine neue Geschichte erfinden würden, die sich an der Frage der Lebensdienlichkeit orientiert.
Seitdem warte ich darauf, dass jemand sich der wichtigen Herausforderung, explizit eine neue paradigmatische Rahmengeschichte zu formulieren, annimmt. – Nun, 15 Jahre später, sieht es so aus, als habe der Wirtschaftswissenschaftler, Psychologe und Geldkritiker David C. Korten mit »Change the Story, Change the Future – Weltsichten und ökonomischer Wandel« im vergangenen Jahr einen großen Schritt in diese Richtung getan.
»Menschen orientieren sich an Geschichten«, schreibt er. Sie leben ihr Leben durch geteilte Geschichten und haben ein tiefes Bedürfnis nach Sinn und Bedeutung. Wer die Geschichte einer Gesellschaft bestimmt, bestimme auch ihre Zukunft – die Machtelite nutze ihre Macht über die gegenwärtige hohle Story deshalb ganz bewusst.
David Korten verwendet den Begriff des »Heiligen« für das, was für das Wohlergehen der Gemeinschaft und ihrer Mitglieder sowohl am wichtigsten als auch am unentbehrlichsten ist und was deshalb besondere Achtung und Fürsorge verdient. Weil wir aber derzeit keine authentische heilige Leitgeschichte haben, auf die wir uns beziehen könnten, wird das entstandene Vakuum – so Korten – mit einer unauthentischen Geschichte gefüllt. Deren Folge sind eine dysfunktionale Wirtschaft und eine auf Lügen und falschen Heiligtümern aufgebaute Gesellschaft. Diese falsche Geschichte, mit der wir es derzeit (noch) alle zu tun haben, skizziert der Autor etwa folgendermaßen: Zeit ist Geld; Geld ist Wohlstand; Verbrauch und Konsum markieren den Pfad zur Glückseligkeit; Geldverdienen erzeugt Wohlstand, steigert den Verbrauch und damit das Glück und ist der sinnstiftende Aspekt von Menschen, Unternehmen und der Wirtschaft; Konkurrenz kennzeichnet das natürliche Verhältnis zwischen den Menschen; der Wert des Menschen richtet sich nach seinen Gütern; Unternehmen lassen sich angemessenerweise als juristische Personen bezeichnen und haben mindestens dieselben Rechte wie natürliche Personen; Neoliberalismus – der Staat soll sich nicht in den Markt einmischen; die gewinnorientierte freie Marktwirtschaft und die Ausrichtung am Wachstumsparadigma sind alternativlos; Umweltschäden sind ein unvermeidliches, außer Acht zu lassendes Übel …
Diese hohle »Geschichte des heiligen Geldes und heiliger Märkte« führt letztlich in eine Ökonomie der Selbstzerstörung. Sie ist nur insofern »überragend erfolgreich«, als sie es schafft, die Reichen immer noch reicher zu machen.
Gemäß dem Autor haben wir als Spezies dank der heutigen Kommunikationstechnik jedoch die Möglichkeit, ganz bewusst eine gemeinsame Geschichte zu wählen, die folgende vier Dinge leisten müsse: dem Leben Sinn und Zweck zu geben; einen Grund zur Annahme zu geben, dass notwendige Veränderungen auch im Angesicht starken Widerstands möglich sind; unseren Glaubenssatz infrage zu stellen, dass wir von Natur aus individualistisch, gierig und konkurrierend sind; in Richtung einer tragfähigen menschlichen Zukunft zu weisen. Glücklicherweise, so Korten, seien die Elemente einer neuen Geschichte »des heiligen Lebens und der lebendigen Erde« bereits am Horizont erkennbar: »Wir Menschen sind lebendige Wesen, die auf einer lebendigen Erde geboren und aufgezogen werden. Wahrer Reichtum ist lebendiger Reichtum. Zeit ist Leben. […] Leben besteht nur in der Gemeinschaft. Wir Menschen sind Geschöpfe, die über ein Gewissen verfügen und die nur als Mitglieder einer Gemeinschaft überleben und gedeihen können. Die Hauptaufgabe jener lebendigen Gemeinschaft besteht darin, die Bedingungen zu bewahren, die für das Leben seiner Mitglieder essenziell sind. Uns geht es am besten, wenn wir in einer Welt leben, die für alle funktioniert. Eine Verbindung zur Natur und Gemeinschaft ist für unsere körperliche und geistige Gesundheit und unser Wohlergehen notwendig. Es liegt in unserer Natur, uns ums Wohl von allen zu kümmern und zu sorgen. […] Der Sinn von menschlichen Institutionen […] liegt darin, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, ein gesundes und sinnvolles Leben in einer ausgeglichenen und koproduktiven Beziehung mit der Weltbevölkerung zu führen. [… Das, was] Menschen erschaffen, können wir auch verändern. Umweltverträglichkeit, wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine lebendige Demokratie sind untrennbar miteinander verbunden […]«
Es ist die derzeitige Wirtschaftsweise, die global große soziale und ökologische Verheerungen anrichtet. Deshalb zielt »Change the Story …« im Wesentlichen auf radikalen Wandel in diesem Bereich. Soweit ich das beurteilen kann, ist Kortens ausführliche Analyse der aus der falschen Story hervorgegangenen Geldwirtschaft richtig. Vieles von dem, was im weiteren Verlauf seines Buchs dazu gesagt wird, findet sich jedoch auch an anderer Stelle. Originell sind hingegen die Überlegungen zu einer lebensdienlichen, enkeltauglichen Rahmenerzählung. David Korten denkt darüber allerdings nicht allein nach: Fast zeitgleich mit Erscheinen dieser Oya-Ausgabe geht Ende April der kostenlose englischsprachige Film »A new Story for Humanity« online (siehe: newstoryhub.com).
Das wichtige Buch wurde im angelsächsischen Bereich vielfach mit Begeisterung aufgenommen. Leider krankt es in der aktuellen deutschen Version an einer nachlässig lektorierten Übersetzung.
Change the Story, Change the Future
Weltsichten und ökonomischer Wandel.
David C. Korten
Phänomen, 2015, 200 Seiten
19,90 Euro
Menschen aus einer fremden Kultur zu begegnen, ist oft einfacher, als solchen, die sich von Fremden bedroht fühlen. Wie lassen sich in alle Richtungen Brücken bauen?
Um die Jahrtausendwende verbreitete sich der aus dem amerikanischen Englisch übersetzte Text »Die Evolution der Integralen Kultur« des Soziologen Paul H. Ray, in dem dieser seine Entdeckung einer – neben den »Traditionalisten« und den »Modernisten«
Emanuel und Ursina Zwicky-Schmid setzen auf ihrem 40 Hektar großen Bio-Milchviehbetrieb für einen großen Teil der landwirtschaftlichen Arbeiten auf Pferdekraft. Sie nutzen ihre Rösser aber auch zum Fahren und Reiten in der Freizeit.