Titelthema

Milchsauer loslegen

Wie die Kooperation mit Mikroorganismen unseren Speiseplan bereichert.von Vanessa Bähr, erschienen in Ausgabe #39/2016
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Am liebsten würde ich sagen, Sie brauchen hier gar nicht weiterzulesen, bevor Sie nicht Folgendes ausprobiert haben: Nehmen Sie einen Weißkohl, schneiden Sie diesen in feine Streifen, und geben Sie geraspelte Möhren, etwas Knoblauch oder Kümmel sowie je nach Geschmack Salz hinzu. Diese Mischung schichten Sie in eine Schüssel und »kneten« sie so lange mit den Händen, bis so viel Saft ausgetreten ist, dass er das Gemüse bedeckt, wenn Sie es fest in die Schüssel pressen. Zum Schluss legen Sie einen Teller oder eine Platte so auf das Ganze, dass der Rand mit der Schüssel abschließt und der austretende Saft über diese Bedeckung steigt. Wenn Sie dann fünf bis sieben Tage warten, entsteht das möglicherweise Leckerste, das Sie je gegessen haben. Dann dürfen Sie weiterlesen.
Es geht in dieser Oya-Ausgabe zwar um das Konservieren von Lebensmitteln, aber zumindest während ich an diesem Artikel arbeite, ist mir dieser Aspekt noch nebensächlich: Mein gerade hergestelltes milchsaures Gemüse wird diese Woche nicht überleben. Es schmeckt so ungewöhnlich lecker, dass ich süchtig geworden bin.
Was aber ist »Fermentation«? Im weitesten Sinn könnte man diesen Prozess als die gezielte Veränderung von Lebensmitteln durch die Stoffwechselaktivität von Mikroorganismen definieren. Im Fall von Gemüse sind diese Organismen hauptsächlich milchsäureproduzierende Bakterien (Lactobacillales). Bei alkoholischen Getränken geschieht Fermentation durch Hefen, die sich unter Luftzufuhr vermehren und unter Luftabschluss Alkohol produzieren. Neben diesen beiden Varianten gibt es noch andere, seltener angewandte Methoden und Mischformen.
Rund ein Drittel der von Menschen verzehrten ­Lebensmittel wird einem Fermentationsprozess unterzogen. Dazu gehören Gemü­se, gesäuertes Brot, Käse, Gewürze und Saucen, Alkoholika, Kaffee, Kakao sowie weitere Getränke, Fleischprodukte und Fisch. Auch bei der Kompostierung kommt es zu Fermentationsvorgängen, ebenso in Kläranlagen, bei der Herstellung von Silage für Tierfutter (siehe Seite 46), bei Lehm­putz- und Färbetechniken, bei der Saatgutgewinnung, der Herstellung von Tabak und einigem mehr.

Ein Lebensprozess der Natur
Fermentation findet überall in der Natur statt, und dass die Menschheit entdeckt hat, wie sie sich diesen Prozess zunutze machen kann, hatte nicht nur für die Ernährung revolutionäre Folgen. Die Technik ist so simpel – und kann doch so viel bewirken. Einer, der das hautnah erfahren hat, ist der Permakulturdesig­ner Sebastian Kaiser, der das »Gartennetzwerk Dresden« – einen Verbund von Stadtgärten – mit aufgebaut hat. Sein Freiwilliges Ökologisches Jahr, das er mit 19 Jahren auf einem Bauernhof absolvierte, konfrontierte ihn mit einer Realität, die die meisten Menschen gar nicht mitbekommen, weil es selbst im Bioladen heutzutage das ganze Jahr über die meisten Gemüsesorten in konstanten Mengen zu geben scheint. Doch auf dem Feld sieht es anders aus: In einem kleinen Zeitfenster von manchmal nur wenigen Tagen oder Wochen wird die komplette Ernte einer Sorte Obst oder Gemüse eingefahren, meist im Spätsommer. Die Mengen sind so groß, dass sie unmöglich in dieser Zeit verzehrt, geschweige denn verkauft werden können: Die Kühlung ist teuer, weite Transporte sind aufwendig, und ein guter Teil der Ernte ist für den Verkauf nicht »hübsch« genug und wird aussortiert.
Sebastian wollte nicht zusehen, wie große Mengen der Ernte  vernichtet wurden, und suchte nach Möglichkeiten zur Haltbarmachung. Dabei stieß er auf Fermentation – und fand das Ergebnis äußerst schmackhaft. Auch nach seiner Zeit auf dem Hof experi­mentierte er weiter. Während seiner Permakulturausbildung wurde ihm immer deutlicher, wie wichtig es ist, mit der Natur statt gegen sie zu arbeiten: Lebendige Prozesse, denen Lebensmittel natürlicher­weise ohnehin unterliegen, lassen sich mit den Bedürfnissen der Menschen in Einklang zu bringen.
»Fermentation wurde wohl hundertfach auf der Welt aus Zufall entdeckt«, meint Sebastian. »Eines Tages hat jemand vielleicht eine Schüssel mit eingeweichten Sojabohnen, Hirse oder Kraut etwas zu lange draußen stehen lassen. Dann haben sich Mikroorganismen darüber hergemacht. Je nachdem, welche Bakterienstämme oder Hefekulturen es in der Region gab, und je nach Temperatur ist das Lebensmittel verdorben oder durchaus genießbar geblieben.« Dass Fermentiertes den Menschen schmeckt und wohltut, ist immer dann der Fall, wenn die aktiven Bakterien denjenigen im eigenen Verdauungstrakt ähneln. So ist es beim milchsauren Gemüse, das sogar besser verdaulich ist als frisches. Hat der Prozess einer Fermentation seinen natürlichen Balancepunkt erreicht, in dem nur noch die erwünschten Bakterien überleben, wird das Produkt sogar konserviert.
Zu Zeiten, als man noch nicht so viele Möglichkeiten wie heute hatte, Lebensmittel haltbar zu machen – ­Zucker oder Alkohol waren Luxusgüter, Weckgläser und Gefrierschränke noch nicht erfunden – war das Prinzip der Fermentation eine geniale Entdeckung.  Statt Nahrung mit teuren Beigaben zu konservieren, nutzen wir hier einen »Zerfallsprozess«. Er lässt sich steuern, indem Bedingungen geschaffen werden, in denen die für Menschen zuträglichen Mikro­organismen die Oberhand ­gewinnen.

Den »guten« Bakterien einen Vorteil verschaffen
Was bedeutet das in der Praxis? Nehmen wir als Beispiel die klassische Fermentation von Gemüse: Auf seinen Schalen und Häuten sowie in der Luft befinden sich alle möglichen Bakterien. Wir wünschen uns nun, dass ausschließlich die Laktobazillen in Aktion treten, und bedienen uns eines Tricks: Das geraspelte Gemüse wird mit Salz vermischt. Dann wird es geknetet, geschnitten oder gerieben, damit die Zellen aufbrechen und es mehr Kontaktflächen für die Bakterien bietet. Das Salz bewirkt, dass zum Beispiel Fäulnisbakterien und Schimmelpilze es höchst ungemütlich finden und im Wesent­lichen nur noch Milchsäurebakterien in diesem Milieu leben mögen. Diese freuen sich, dass sie alles Essen für sich haben, und legen munter drauflos, sich zu vermehren, während sie die Stärke und den Zucker des Gemüses durch ihren Stoffwechsel abbauen. Je mehr Salz in die Mischung gegeben wird, desto langsamer fermentiert das Gemüse und desto saurer wird es. Zuviel Salz lässt irgendwann selbst die Milchsäurebakterien absterben. Ungünstig ist auch Sauerstoff: Die Laktobazillen vertragen ihn zwar bzw. sterben nicht sofort von etwas Luftzufuhr,  vermehren sich aber nur unter Ausschluss von Sauerstoff. Deshalb ist wichtig, dass die Mischung aus Gemüse und Salz immer ganz vom Saft bedeckt bleibt. Ist dieser Zustand erreicht, heißt es, abzuwarten: Die ersten ein bis zwei Wochen gärt das Ganze am besten bei Zimmertemperatur, damit die Mikroorganismen gut in Gang kommen. Danach gilt es, die Fermentation durch kühle, dunkle Lagerung zu verlangsamen. Je länger das Gemüse warm steht, desto schneller wird es sauer. Leicht kühl gestellt, hält es sich mehrere Monate bis Jahre.
Außer Gefäßen aus Plastik und Metall eignet sich so gut wie alles, um einen Fermentationsprozess zu beherbergen. Fest verschlossene Schraub- oder Weckgläser sind deshalb günstig, weil durch das Entweichen von Gasen bei der Gärung ein Vakuum entsteht und das Gemüse nicht schimmeln kann, selbst wenn es irgendwann nicht mehr komplett mit Saft bedeckt sein sollte. Notwendig ist ein Verschluss aber nicht. Es reicht aus, das Gemüse mit einem Teller oder einem Stein so zu beschweren, dass es gut unter dem Flüssigkeitsspiegel bleibt. Man kann dann noch ein Tuch über das Gefäß legen, um Staub und Fliegen abzuhalten. Kleinteiliges Gemüse lässt sich auch mit Flüssigkeit bedeckt halten, indem zwei Möhren quer ins Glas geklemmt oder ein großes Kohl- oder Weinblatt aufgelegt wird. Klassisch ist die Verwendung von Gärtöpfen, in denen eine Scheibe aus Steingut oder Holz das Gemüse nach unten drückt. Ihr Deckel liegt in einer Wasserrinne, wodurch kein neuer Sauerstoff in das Gefäß eindringt. Die entstehende Gase können jedoch entweichen – in der ersten Fermentationsphase ist ein typisches Blubbern zu hören.

Lokale Qualitäten
Milchsäurebakterien sind nicht überall auf der Welt gleich. Wie alle Arten von Mikroorganismen sind sie auf ihre jeweilige heimische Pflanzenwelt abgestimmt. Die klassischen Rezepte gelingen somit am besten dort, wo sie herkommen, erklärt Sebastian Kaiser. Hierzulande sind es beispielsweise Roggensauerteig und Sauerkraut, in Nordafrika Hirsebrot, Joghurt auf dem Balkan, Tempeh aus fermentierten Sojabohnen in Indonesien, Kimchi aus scharf gewürztem Chinakohl in Korea usw. Alle Rezepturen, die auf Fermentation beruhen, lassen sich in ihrer Heimatregion am unkompliziertesten herstellen. Andernorts sind unter Umständen spezielle Starterkulturen und regulierte Temperaturen notwendig. Das hält Sebastian jedoch nicht davon ab, mit seinen Lieblings­rezepturen für selbstgemachtes Kimchi zu experimentieren.
Das Schöne an der Zubereitung milchsaurer Rezepturen ist, dass die Natur die wesentliche Arbeit selbst erledigt. Diese Per­spektive kann für Zivilisationsmenschen, aufgewachsen zwischen ­H-Milch und Kühlschränken, verstörend wirken: Wie bitte? Ich soll Bakterien fördern und für mich nutzen? Und sie auch noch essen?
Angesichts des Wissens über die Begrenztheit der fossilen Energiereserven lohnt es sich, darüber nachzudenken. Welche ­lebensfördernden Prozesse laufen auf unserem schönen Planeten ohne menschlichen Energieaufwand ab, und wie kann man sich in seiner Lebensgestaltung daran anschließen? Fermentation lässt sich ohne fossile Energiezufuhr durchführen, sie erhöht die Bekömmlichkeit und sogar den Vitamin- und Enzymgehalt der Lebens­mittel, verbessert den Geschmack und konserviert zuverlässig. Man benötigt dafür kaum mehr Technik als ein Tongefäß und keine speziellen Hilfsmittel – und für die Basisanwendungen nicht einmal sonderliches Talent.
Als Kinder des Industriezeitalters müssen wir uns an lebendige Nahrung erst wieder gewöhnen. Zwar sind viele unserer Lebensmittel durch Fermentation hergestellt worden, aber sie wurden erhitzt, um sie länger haltbar zu machen. Ein Sauerkraut aus dem Supermarkt hat keine der beschriebenen Superkräfte mehr – die Milchsäurebakterien sind tot. Gerade diese tun unserem Stoffwechsel aber enorm gut. Ohne ihre Anwesenheit würde in unseren Eingeweiden so gut wie nichts mehr funktionieren. Die medizinische Forschung zur Frage, welche Wechselwirkungen zwischen Mikro­organismen und den Zellen des Körpers stattfinden, steht noch am Anfang. Was bereits bekannt ist: Die kleinen Helfer spalten im Darm Nährstoffe auf, absorbieren Gifte, bilden Immunzellen aus und senden sogar Botenstoffe an das Gehirn. Damit haben sie Einfluss auf fast jeden Stoffwechselprozess im Körper. Ebenso wirkt die Zusammensetzung der Darmflora entscheidend auf die Psyche. Verschwinden nützliche Bakterien aus der Darmschleimhaut, so haben es ungünstige Einzeller leicht, sich dort breitzumachen. Durch degenerierte und giftige Nahrung, einseitige Ernährung, den Einsatz von Antibiotika und Stress kann die Darmflora leicht durchein­anderkommen.
Leider ist das hierzulande eher der Normalzustand als das wunderbar natürliche Gleichgewicht der Symbiose von Mensch und Mikroorganismen. Durch lebendige Nahrung kann sie jedoch langsam wieder aufgebaut werden. Damit sind fermentierte Produkte die wertvollere Alternative zu probiotischen Präparaten aus der Apotheke: Sie enthalten eine weitaus breitere Variation an Mikro­organismen, liefern als Nahrungsgrundlage der kleinen Freunde wasserlösliche Ballaststoffe (Präbiotika) gleich mit – und sind um einiges günstiger. An dieser Stelle ist der Selbstversuch die beste Empfehlung: Fermentieren, probieren, genießen! Der Appetit wird verraten, ob es guttut. Fehlgeschlagene Fermentationsversuche sind an ihrem unangenehmen Geruch oder Geschmack erkennbar.
Man könnte sagen, Lebensmittel zu fermentieren, heißt, Gemüse in Gefäße zu schichten und zu warten. Oder man sagt, es sei eine Kulturtechnik, ohne die die Entwicklung der Menschheit einen anderen Weg genommen hätte. Generatio­nen hätten Zeiten des Mangels ohne Sauerkraut kaum überlebt. Seeleute litten an Skorbut, bis milchsaures Gemüse auf den Handelsschiffen als Grundnahrungsmittel eingeführt wurde. Und was wäre aus der Menschheit ohne die Entdeckung des Alkohols geworden? Fermentieren heißt, sich in die Evolution aller Lebewesen einzubringen und mitzuspielen. Es macht mir ungleich mehr Spaß als Kochen; es ist geradezu abenteuerlich. Was wohl das nächste Mal passieren wird? •


Vanessa Bähr (28) hat Politikwissenschaft studiert. Wenn sie sich nicht gerade mit Milchsäurebakterien beschäftigt, praktiziert sie Rolfing und gibt Kommuni­kationsseminare. www.nonviolent.space

Die Kooperation mit nützlichen Mikroorganismen lernen
Seminare
Sebastian Kaiser gibt zusammen mit seinem Kollegen Gregor Scholtyssek ­regelmäßig Kurse in Fermentation. sebastian_kaiser_ÄT_ufer-projekte.de
Literatur
Sandor Ellix Katz: The Art of Fermentation. Chelsea Green Publishing, 2012

Claudia Lorenz-Ladener: Milchsauer eingelegt. Ökobuch, 2014
Bill Mollison: The Permaculture Book of Ferment and Human Nutrition. Tagari, 1993

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