Bildung

In kleinen Schritten Neuland entdecken

Alex Capistran sprach mit Barbara Stockmeier, der Koordinatorin des Pilotprojekts »Neue Oberstufe«, das exemplarisch an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum umgesetzt wird.von Alex Capistran, Barbara Stockmeier, erschienen in Ausgabe #39/2016
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© Björn Reißmann

Barbara, du hast einmal gesagt, du stündest dem Lehrerberuf kritisch gegenüber. Wie kam es, dass du nun doch an einer Schule angestellt bist?

Der Drang, in der Bildungslandschaft der Oberstufen etwas zu verändern, hat mich nicht losgelassen. Nach meiner Lehrerausbildung in der Schweiz bin ich 2011 an die Evangelische Schule Berlin Zentrum (ESBZ) gekommen, um deren Oberstufe mit aufzubauen und staatlich ­anerkennen zu lassen. Ich fuchste mich in Paragrafen und Richtlinien ein, machte das zur Zufriedenheit aller äußerst korrekt, und die Oberstufe wurde von der Schulaufsicht genehmigt. Meine Schülerinnen und Schüler hatten aber eine ganz andere Meinung: »Anerkennung gut und schön, aber das Problem ist doch, dass das strenge ­Kurssystem uns in ein Gefängnis sperrt, in dem wir nicht mehr frei lernen können.«

Bietet das in der Oberstufe übliche Kurs­system nicht immerhin noch mehr Freiheiten als der starre Klassenverband?

Kleine Wahlfreiheiten bietet es schon, aber die meisten Schülerinnen und Schüler waren zuvor auf unserer eigenen Mittelstufe oder auf alternativen Schulen, wo nicht das System, sondern die Menschen im Mittelpunkt stehen. Jedenfalls wurde mir in dieser Situation noch einmal besonders klar, dass wir hier neue Wege gehen müssten. So entstand die Idee, eine »Neue Oberstufe« zu konzipieren. In einem kleinen Team haben wir es uns gegönnt, ein weißes Blatt auf den Tisch zu legen und uns zu fragen: Welchen Lernraum brauchen junge Menschen, um gut lernen zu können? Mit »gut« meine ich sinnstiftend. Was ermöglicht es ihnen, wirklich die Verantwortung für sich und ihr Lernen zu übernehmen? Mit Hilfe von Drittmitteln haben wir für die aufwendige Konzeptionsarbeit eine eigene Stelle geschaffen. So konnte ich dem Aufbau der Neuen Oberstufe nachgehen – eine Aufgabe, die mich bis heute umtreibt. Als große Skeptikerin gegenüber dem Lehrerberuf bin ich also doch in der Schule geblieben.

Du unterrichtest auch noch?

Aktuell unterrichte ich nur in den neuen Lernformaten, begleite Lernexpeditionen und sogenannte Pulsare. Ich persönlich habe kein Interesse mehr am klassischen Unterricht, schon gar nicht in traditioneller Form.

»Lernexpeditionen«, »Pulsare« – das klingt ziemlich ungewohnt. Was kann ich mir dar­unter vorstellen?

Pulsare sind bei uns ein Lernformat, in dem Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte sich eine Woche lang in jahrgangsgemischten Gruppen bunt zusammenwürfeln und fokussiert an einem Thema mit viel Raum zur individuellen Auseinandersetzung arbeiten. Lernexpeditionen sind ebenfalls einwöchige Einheiten, in denen die jungen Menschen raus ins Leben gehen und ein freies Thema vertieft erkunden oder etwas kreativ gestalten können, zum Beispiel in einem Tonstudio etwas aufnehmen oder ein Handbuch, wie man Geflüchteten in seinem Kiez helfen kann, konzipieren.

Das klingt gar nicht so revolutionär – Projektwochen und Praktika hatte ich auch in der Oberstufe. Was macht die Neue Oberstufe in deinen Augen zu etwas wirklich Neuem?

Der Kern des Ganzen ist ja, dass sich die Haltung zum Lernen grundsätzlich verändert. Die Oberstufenjahre sollen den jungen Menschen Raum bieten, sich zu bilden – und zwar nicht nur als Lernende, die Wissen ansammeln, sondern als ganze Menschen. Unsere vier Säulen dabei heißen »Lernen, Wissen zu erwerben«, »Lernen, zusammenzuleben«, »Lernen, zu handeln« und »Lernen, sich zu kennen und zu sein«.
Ich glaube, noch wichtiger als diese abstrakten Grundsätze ist, dass die Jugendlichen von einer konsumierenden Rolle wieder ins Gestalten kommen. Das geht nur über viel Mitsprache und eigene Freiheit: Sie selbst haben die Wahl und die Verantwortung, sich für ein Thema und den Umgang damit zu entscheiden: Wie nähere ich mich dem Thema an? Wie und mit wem möchte ich daran arbeiten? In welcher Form möchte ich etwas mit den anderen teilen und dokumentieren?
In so einem Prozess in die Gemeinschaft des Oberstufen-Projekts eingebunden zu sein, ist ein wesentliches transformatives Element: Im Regelunterricht arbeiten die Schülerinnen und Schüler in der gleichen Zeit am gleichen Thema und sollen dann mit dem gleichen Wissen nach Hause gehen. Bei uns geht es um ein offenes und partizipatives Geschehen, in dem es in Ordnung ist, einzelne Aspekte herauszugreifen, zu scheitern, sich zu verschätzen oder zu verfranzen. Besonders unterstützend wirken dafür meiner Erfahrung nach informelle Räume, achtsame Lernbegleiter und Bewertungsfreiheit.

Was heißt das konkret für den Alltag?

Bei uns sieht Lernen in Pulsaren so aus: Sobald die Jugendlichen am zweiten Tag ihren individuellen Lernwegen und Vertiefungen nachgehen, ist die Zeit nicht mehr steif getaktet. So entstehen viele Begegnungen und Gespräche. Festgelegt sind nur der gemeinsame Check-in am Anfang, der Check-out am Ende und nach Bedarf ein Zwischentreffen. Lehrer dürfen wachsam im Raum sein, werden bei Bedarf angesprochen und agieren als Coaches. Dazu kommt auf Seiten der Schüler die Freiheit, zu entscheiden, wie sie arbeiten und mit den anderen teilen wollen, was sie gemacht haben. Häufig entsteht dabei eine ganz natürliche Art von Stolz auf das Eigene. Das erzeugt eine Atmosphäre gemeinsamen Lernens, die große Freude macht. Ungewöhnliche Dinge passieren: Sehr berührt hat mich eine Schülergruppe, die für eine grandiose Pulsarwoche ihre sehr guten Noten einfach nicht haben wollte, weil für sie die Möglichkeit der Bewertungsfreiheit so wertvoll war.

Kaum zu glauben, dass es in Deutschland eine anerkannte Oberstufe gibt, die nach solchen Grundsätzen aufgebaut ist.

Leider ist es noch nicht so weit: Unser Konzept der ganzheitlichen Oberstufe wird nur in Teilen innerhalb des konventionellen Rahmens verwirklicht. Es gibt noch keine Schule, die die Neue Oberstufe in vollem Umfang umsetzt. An der ESBZ werden lediglich einige Elemente exemplarisch ausprobiert. Pulsare und Lernexpeditionen sind dort anerkannte Lernformate, allerdings kommt man derzeit nur auf maximal acht Wochen pro Schuljahr – die restlichen 28 sind, abgesehen von Klassenfahrten, konventioneller Unterricht mit Klausuren und dem vollen Programm. Wir wollten aber von Anfang an die Neue Oberstufe im staatlichen Schulwesen etablieren. Von daher ist erstmal viel Träumen und anstrengende Pionierarbeit dabei.

Es ist mutig von euch, mit einer großen Vision zu starten. ­Welche Schwierigkeiten gab es konkret bei den ersten Schritten der ­Umsetzung?

Einen ziemlichen Tiefpunkt hatten wir Ostern vor einem Jahr. Da wurde uns klar, dass es nach der Anfangszeit nicht mehr geht, einen Großteil der Entwicklungsarbeit bei nur einer Person, die sich hauptamtlich engagieren kann, zu bündeln. Hinzu kam die Unsicherheit, ob wir jemals etwas im staatlichen Schulwesen umsetzen dürfen, weil wir bis dato noch keine positive Rückmeldung von der Senatsverwaltung bekommen hatten. Aber die Krise hat uns ­Flügel verliehen: Fünf weitere Kollegen kamen mit Zeit und Kraft ins Team. Im letzten August erhielten wir dann auch den Bescheid, dass wir die ersten Elemente ausprobieren dürfen. Es ist manchmal frustrierend! Zum Beispiel ist jahrgangsstufenübergreifendes Lernen in Berlin in der Oberstufe zum Großteil nicht erlaubt – da war viel Überzeugungsarbeit nötig, um eine Genehmigung zu erwirken. Nicht zu sprechen von der Mischung von Grund- und Leistungskursen. So klein die Schritte sein mögen, die Bedeutung für den Wandel des traditionellen Systems ist dennoch groß. Man darf nicht vergessen, wie schwer es ist, ein jahrhundertealtes System zu transformieren. Da geht es ja nicht nur um Institutionen, sondern auch um verkrustete Prägung, Verhaltensmuster, Glaubenssätze. Das Kollegium, das Entwicklungsteam und ich müssen immer prüfen, was die konventionelle Oberstufe schon »vertragen« kann, was in der Mischung aus alten und neuen Elementen schon umsetzbar ist. Dieses Spannungsfeld testen wir gerade aus, und wir wissen auch noch gar nicht, wo das dann tatsächlich endet.

Warum nehmt ihr diesen kompromiss­reichen, zehrenden Weg auf euch? Ihr könntet doch so etwas wie die Neue Oberstufe ohne staat­liche Anerkennung mit jungen Leuten, die auf solche Weise lernen, uneingeschränkt verwirklichen?

Für mich und das Team gab es immer zwei wesentliche Kriterien: Das, was wir entwickeln, darf sich nicht nur für eine Schule oder Schulform eignen, sondern soll übertragbar sein und von vielen genutzt werden können. Das zweite Kriterium war, dass möglichst viele Kinder und Jugendliche von dem Modell profitieren sollen. Klar, die Neugründung einer Ergänzungsschule hätte uns wahrscheinlich viele Nerven und Mühen gespart. Gleichzeitig hätte ich permanent eine Spur von schlechtem Gewissen, dass ich nur für einen kleinen Kreis von bildungsnahen Familien etwas kreiert habe. Gerade wenn man – so wie ich – oft in größeren Städten wie Berlin unterwegs ist, und die Vielfalt, Voraussetzungen und Möglichkeiten der Familien sieht, die hier leben, drängt sich der Gedanke auf, dass wir die Verantwortung haben, möglichst viele Jugendliche zu ­einer bestmöglichen Bildung kommen zu lassen. Daher war klar: Wir wollen das ins staatliche Schulwesen bringen.

Ob sich das wirklich lohnt, solange »bestmögliche Bildung« im staatlichen Schulwesen nicht ganzheitlich begriffen wird?

Ich bin eigentlich ganz gelassen dabei: Selbst wenn wir in den nächsten drei, vier Jahren bei den ersten kleinen Schritten stehenbleiben, ist das schon gut. Jede kleine Verbesserung ist wertvoll und macht das Lernen für viele besser, als es aktuell ist. Aber noch sind wir beharrlich und bekommen von vielen Seiten stärkenden Rücken­wind. Ich glaube daran, dass eine Neue Oberstufe innerhalb des staatlichen Schulwesens möglich ist. Sollte der Fall eintreten, dass wir uns in fünf Jahren als gescheiterte Idealisten wiederfinden, können wir immer noch eine freie Schule gründen.

Aber ist nicht ein wirklich freies Lernen so weit von der staatlichen Oberstufe entfernt, dass beide nie zusammenkommen können? Wie steht es um die heilige Kuh »Abitur« in der Neuen Oberstufe?

Am Abitur sieht man ganz gut, wie das doch vereinbar sein kann: In der Vision der Neuen Oberstufe hat es einen Platz, ist aber in keiner Weise verpflichtend oder alternativlos. Neben einer Flexibilisierung der Lernzeit in der Oberstufe zwischen zwei und vier Lernjahren plädieren wir für unterschiedlichste Varianten und Formen, die Schule zu beenden. Das kann ein Abitur sein, aber ebenso ein Portfolio, eine Kunstmappe – warum nicht ein erstes »Gesellenstück«? Für uns geht es darum, durch engen Austausch mit einem Schüler oder einer Schülerin den für ihn oder sie richtigen Weg zu finden. Damit erreicht man nebenbei auch, dass die Oberstufe nicht nur für leistungsstarke Schüler geöffnet ist. Dann könnten alle nach der zehnten Klasse weiter lernen, ihre Persönlichkeit bilden und ihre Berufsorientierung voranbringen, wenn sie das wünschen.

In euren alternativen Lernformaten arbeiten die Schülerinnen und Schüler in festen Gruppen eine Woche lang an einem Thema. ­Warum lasst ihr nicht noch mehr Freiraum – zum Beispiel, dass sie sich frei zwischen den Gruppen bewegen dürfen?

Spannende Frage – ich kann mir vorstellen, dass es etwas mit dem unbewussten Bedürfnis nach Planung und Koordination zu tun hat und womöglich in letzter Instanz nach einer Form von Kontrolle. Trotzdem finde ich, dass die verbindliche Form, die wir gefunden haben, viele Vorteile bringt: Man kann im Vorfeld mit anderen in der Gruppe in Kontakt kommen und sich innerlich auch auf die Woche einstellen. Es ist auch so, dass das Miteinander leidet, die Magie der Vertiefung und das Kreieren des Gesamtbilds der Woche, wenn es zuviel hin und her gibt.

Hand aufs Herz: Ist es realistisch, dass eine normale Staatsschule mit der Umsetzung der Neuen Oberstufe beginnen könnte, oder ist das nur etwas für Schulen in freier Trägerschaft, so wie die ESBZ?

Schulentwicklungsarbeit gehört zu jeder Schule. Ob etwas Neues ausprobiert wird, hängt aus meiner Sicht ausschließlich vom Engagement des Kollegiums und vom jeweiligen Leitbild ab. Prinzipiell geht das also sofort. Daher ist mein wichtigstes Anliegen, dass alternative Vorstöße im Oberstufenbereich sichtbar gemacht werden – es gibt ja diverse, nicht nur uns! Das soll anderen Mut machen, auch anzufangen. Sie sollen sich aber nicht gegenseitig kopieren, sondern haben ja alle ihren eigenen Stallgeruch, woraus ihr Profil erwächst. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass es sich für alle Beteiligten lohnt, das staatliche Schulsystem mutig aufzubrechen.

Vielen Dank für das ermutigende Gespräch! •


Barbara Stockmeier (35) erwarb ihr Lehrdiplom in Französisch und Spanisch in der Schweiz. Ihr Drang nach Neuem führte sie als Bildungs­referentin nach Ecuador. Nach einem Zwischenstopp an ihrem Ausbildungslehrstuhl ging sie 2011 an die Evangelische Schule Berlin Zentrum, wo sie seit 2012 die Entwicklung der »Neuen Oberstufe« vorantreibt.

Die Ideen zur »Neuen Oberstufe« im Netz nachlesen
www.neue-oberstufe.berlin

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