von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #39/2016
Der französische Symbolist Stéphane Mallarmé, der dem Buch »Satin Island« von Tom McCarthy in einem Motto vorangestellt ist, schrieb einmal: »Alles auf der Welt existiert nur, um in einem Buch zu enden.« Dieses Buch – den »Großen Bericht« – zu schreiben, wurde der Protagonist beauftragt. »Ich? Nennt mich U.«, stellt er sich den Lesern in bester Melville’scher Tradition vor. Als Firmenanthropologe soll er den definitiven Bericht über die Gesellschaft der Gegenwart verfassen: »Das erste und das letzte Wort über unser Zeitalter.« – Kein Wunder, dass das schiefgehen muss, nicht zuletzt deshalb, weil dieser Bericht schon laufend durch Website-Monitoring, Ortungsdienste und Videoüberwachung geschrieben wird. Im seinem Kellerbüro googelt U. den Zeichen der abendländischen Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts hinterher, sichtet Filmaufnahmen über bemerkenswerte Verkehrsstaus in Lagos, über eine Ölpest oder die Pilgerreise nach Mekka. Da es für einen Anthropologen kein Artefakt gibt, das grundsätzlich frei von Interesse wäre, ergibt sich in dieser »Präsensanthropologie« ein rauschhafter Mix aus Populärkultur und Hochkultur, in dem alles vor potenzieller Bedeutsamkeit vibriert, letztlich aber in einem Meer aus Gleich-Gültigkeit versinkt: Protestsong oder Werbejingle? Levi Strauss & Co. oder Claude Lévi-Strauss? Ist das Kunst, oder kann das weg? Am besten kann man sich »Satin Island« musikalisch nähern, wobei »Musik« im klassischen Sinn irreführend wäre. Tom McCarthys Roman liest sich so, wie ein Stück konkreter Musik klingt: Eine Collage aus Soundbites, ausgeflockt aus einem Audio-Protokoll des weißen Rauschens der Prä-Kollaps-Gesellschaft, in der aus scheinbar willkürlich zusammengetragenem Zivilisationsmüll eine erstaunlich stimmige, schöne, ja, wahre Komposition entsteht. An seinem Bericht muss U. scheitern, aber im Traum erscheint ihm dann doch noch die allesumfassende Metapher für unsere Gegenwart: »Satin Island«, eine mythisch überhöhte Verballhornung von »Staten Island«, wo die inzwischen stillgelegte New Yorker Mülldeponie liegt, die 2001 eigens wiedereröffnet wurde, um die Überreste des World Trade Centers aufzunehmen. Die Deponie der Geschichte als Sinnbild unserer Zeit – wenn’s weiter nichts ist. ◆
Satin Island Tom McCarthy Deutsche Verlagsanstalt, 2016 224 Seiten 19,99 Euro
Weiterlesen: Herman Melville: Moby Dick • David Markson: Wittgensteins Mätresse • Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen