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Eine Art Vorwortvon Der Schwarm, erschienen in Ausgabe #40/2016
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An dieser Stelle steht normalerweise das Editorial der Zeitschrift Oya, und 39 Ausgaben lang folgten danach Reportagen, ­Essays, Porträts und Interviews zum jeweiligen Schwerpunktthema. Diesmal aber ist alles anders. Statt der gewohnten Artikel sind acht Kapitel eines kleinen Buchs entstanden – Reiseberichte über eine Expedition ins Unbekannte, gemeinschaftlich verfasst von Mitgliedern der Oya-Redaktion.
Jeder unserer Versuche, für die 40. Ausgabe von Oya ein »normales« Heft zu konzipieren, ging ins Leere, denn keiner der vielen guten Vorschläge fühlte sich stimmig an. Das hatte tiefreichende Gründe. In den vergangenen fünf Ausgaben hatten wir uns in verschiedene Extreme begeben: Einerseits waren wir mit den Heften über gute Nachbarschaft, Stroh- und Lehmbau sowie das Haltbarmachen von Lebensmitteln auf der sonnigen Seite des Traums von einer enkeltauglichen* Welt unterwegs gewesen. Andererseits hatten wir uns mit den kritischen Ausgaben zur Bioökonomie, die alles Lebendige zur Ware macht, und zur Unmöglichkeit, mit Hilfe »grüner« Technik den ökologischen Fußabdruck wirkungsvoll zu senken, tief in den Schatten des Karten­hauses der Industriemoderne begeben. Der Spalt zwischen diesen Polen scheint kaum überbrückbar zu sein: So haben wir zwar Beweise dafür gefunden, dass das Zusammenspiel zwischen Menschen und dem, was wir »Natur« nennen, gelingen kann – erleben uns selbst aber auch als Zeugen einer dramatisch scheiternden Zivilisation. An welchem Rand dieses Spalts wir uns auch aufstellten – es war, als hätte es uns die Sprache verschlagen! Wie sollte da ein Heft entstehen, noch dazu das vierzigste, das wir ursprünglich sogar ein bisschen feiern wollten? – Wir mussten alles Planen seinlassen, innehalten und uns unserer Sprachlosigkeit zuwenden.
»Gönnt euch eine Pause, veröffentlicht eine Oya mit vielen leeren Seiten!«, empfahl uns eine Freundin. Wir dachten darüber nach.
Bald sieben Jahre lang – seit der Konzeption der ersten Ausgabe im Herbst 2009 – haben wir landauf, landab, ermutigende Projekte besucht, in denen Menschen sich bemühen, ein gutes Leben* zu verwirklichen. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, treffen sich aber in dem einen Punkt, dass sie »gut« umfassend verstehen: gut nicht nur für mich, sondern gut für ein »Ganzes«, ein Haus, einen Garten, ein Dorf, eine Stadt und die nicht-menschlichen Lebewesen – »gut« im Sinn eines nährenden Beitrags zur Lebendigkeit*.
Bald sieben Jahre lang haben wir die Diskurse ­wacher Denkerinnen und Denker rund um die Frage, was gutes Leben gelingen lässt, erkundet. Stets enden diese in der Auseinandersetzung mit dem, was in der Gegenwart Lebendigkeit vernichtet – mit dem in der ­Geschichte noch nie dagewesenen Ausmaß an Verwüstung und Ausbeutung von allem, was auf unserer Planetin* wachsen will.

Während wir wunderbare Unternehmungen beschreiben – von der solidarischen Landwirtschaft über das Mehrgenerationen-Wohnprojekt, von ökologischer Stadtplanung bis hin zu internationalen sozialen Bewegungen – verändert sich die Welt in einem Tempo zum ­Negativen, dass einem angst und bange wird: Mehr als drei Erden wären für den gegenwärtigen Lebensstil in unseren Breiten nötig! Unsere Bemühungen prallen auf Trump, Erdoğan und Pegida, in Moscheen wird Hass gepredigt, und auch die Kirchen huldigen mittelalterlichen Vorstellungen. Anderswo sind ­Menschen, vom Rest der Lebewesen ganz zu schweigen, in ihren Lebensräumen bedroht. Die Mehrheit der Mitglieder unserer industriemodernen Gesellschaften mag das anders sehen – aber sind wir nicht alle in eine Existenz geworfen, die wir, allen gegenteiligen Bemühung zum Trotz, nur verschlimmern können, weil sie schon lange vor uns aufs falsche Gleis eingeschwenkt ist? Unsere Abhängigkeit vom dahinrasenden Zivilisations-Zug ist so vielfältig geworden, dass wir nicht mehr abspringen können.
Diesen dahinrasenden Zug bezeichnet der Historiker Fabian Scheidler als »Megamaschine«* – ein ­Konstrukt aus Macht, Geld und Technik, dessen Grundgerüst bereits in der Antike zusammengeschraubt wurde und das den Römern den Aufbau ihres Imperiums ermöglichte. Seit der Zeit des Absolutismus und der Kolonisierung hat es sich zu einem global wirksamen Monster ent­wickelt, dessen Zerstörungswirkung vor den planetaren Grenzen* nicht haltmacht. In der März-Ausgabe von Oya haben wir die Megamaschine auch als »megatechnischen Pharao«* bezeichnet. Jeder Cent, den wir über den Ladentisch schieben, jeder Liter Benzin, der verbrannt wird, jede E-Mail, die verschickt wird, huldigt ihm und füttert ihn.
Inzwischen hat sich unser Verdacht, dass Reformbewegungen Teil des Selbsterhaltungsmechanismus der Megamaschine sind, verfestigt. Solange die Menschen das Gefühl haben, es werde doch alles besser, umweltfreundlicher, gerechter und friedlicher auf der Welt, sehen sie wenig Grund, Sand ins Getriebe der ­Maschine zu streuen. Als im Frühjahr 2010 die erste Oya-Ausgabe erschien, waren viele ökologisch denkende Menschen hoffnungsfroh: Durch die Finanzkrise wurde eine Wirtschaft ohne Wachstum diskussionfähig, die Energiewende wurde beschlossen – die Welt schien noch zu retten zu sein, viele kleine Projekte, viele unerschrockene Weltverbesserer, würden dazu beitragen. »Wir können das Ruder herumreißen und drohende Kata­strophen abwenden!«, so schallte es durch die Nachhaltigkeits-Szene – und auch Oya stimmte da zuweilen ein. Von Anfang an aber ertönte in Oya ein skeptischer Grundton, der sich heute in der Erkenntnis artikuliert: Weltrettungsformeln sind Lockgesänge der Sirenen am Hof des ­megatechnischen Pharaos, die von wirksamen Schritten zu einer Post-Kollaps-Zukunft ablenken.

Ist das überzogen? Was sollte angesichts der globalen Krisen anderes zu tun sein, als die Welt zu retten?! Es lohnt sich, die klassische Formel unter die Lupe zu nehmen:
• Es geht nicht darum, irgendwelche in der Zukunft drohenden »Katastrophen abzuwenden«, sondern darum, den Mut zu entwickeln, sich mit dem Leiden in der katastrophalen Gegenwart hautnah in Beziehung zu setzen.
• »Das Ruder herumreißen« ist eine typische Metapher des Machbarkeitswahns, der die Megamaschine überhaupt erst auf Hochtouren gebracht hat.
• »Weltverbesserung« gehört zur Taktik des megatechnischen Pharaos: Im Sinn des Fortschrittsdenkens ist Verbesserung lediglich die Optimierung des Bestehenden! So wird die Welt niemals gut. Und eine gute Welt brauchen wir, keine etwas bessere als die heutige. In der ­guten Welt haben Pharao und Maschine ausgedient.
• »Weltrettung« ist nicht weniger problematisch: »Die Hybris ablegen, die Illusion ablegen, den Größenwahn, die Verweigerung des Todes, die Fantasie der Unverletzlichkeit, den Glauben, sich retten zu können …« – das sei es, worum es ginge, schrieb der Philosoph Andreas Weber schon 2010 in der November-Ausgabe von Oya.

Oya wird als ermutigend wahrgenommen, weil wir tatsächlich auf der Suche nach dem »richtigen Leben« im falschen sind – nicht »richtig« im dogmatischen Sinn, sondern im Sinn einer Existenzweise, die nicht auf Ausbeutung beruht. Uns interessieren Muster, nach denen Menschen sich friedlich, gemeinschaftlich und gleichwürdig organisieren und ihre Mitwelt nicht nur nutzen, sondern vor allem pflegen! Dass es solche Praktiken in den verschiedensten Zusammenhängen und Kulturen weltweit gibt, lässt uns – allem Schrecklichen zum Trotz – nicht verzweifeln. Diese Suche nach Elementen lebensfördernder Kulturen ist aber etwas anderes, als im Hamsterrad der Weltrettungsversuche mitzulaufen! Aber wie – verflixt nochmal! – wird das deutlich? Wie werden Geschichten in Oya Einladungen zum Ausstieg aus der Megamaschine und zu ihrer Demontage, statt auf geschickt verschleierte Weise subtil weiterhin Schmierstoff – schöner grüner – für ihr Getriebe zu sein?

Je länger wir im Oya-Team solche Gedanken kreisen ließen, desto deutlicher wurde uns: Wenn wir den Ausstieg ernst meinen, müssen wir damit bei uns selbst anfangen und diesen Prozess zum Thema der 40. Oya-Ausgabe machen. Das ist nicht mit der Bewusstmachung getan, dass Herstellung und Vertrieb von Oya industrielle Infrastrukturen nutzen, oder damit, dass wir darüber fantasieren, selbst Papier zu schöpfen, eine pedalbetriebene Druckmaschine mit biologisch abbaubaren Holzlettern und Pflanzenfarben anzuwerfen und Oya mit der Pferdekutsche auszutragen – wobei das ein spannendes Experiment wäre. Worauf es ankommt, ist die Auf­deckung all der Denk- und Verhaltensmuster, die Ausbeutung reproduzieren, ist der Widerstand gegen die subtile strukturelle Gewalt* der Megamaschine, die wir Westler mit der Muttermilch aufgesogen haben. ­Autorinnen wie Friederike Habermann und Veronika Bennholdt-Thomsen haben in Oya über die Notwendigkeit, das Denken zu »dekolonisieren«, geschrieben. Können wir das ernstnehmen und auf unsere Arbeit anwenden? Wo sind unsere blinden Flecken? Wie lassen sich radikale Konsequenzen umsetzen, ohne dass etwas zu Bruch geht? Ist es möglich, einen solchen Prozess gemeinsam mit unseren Leserinnen und Leser zu durchleben?
Unsere erste Idee war, zwölf Menschen auszuwählen, die uns in der Vergangenheit besonders inspiriert haben, und mit ihnen zur Zukunft von Oya zu forschen. Wer sollte das sein? Sind nicht alle Menschen gleichermaßen inspirierend? Wir verwarfen die Idee als zu künstlich. Der Redak­tions­schluss rückte näher, aber etwas in uns verbot uns streng, in den üblichen Aktionismus zu verfallen. Wir übten uns in der Kunst des »aktiven Wartens« und ließen den Zustand des Nicht-Wissens mehr und mehr von uns Besitz ergreifen. Als Werner Küppers mit dem »Omnibus für Direkte ­Demokratie« seinen Besuch in Klein ­Jasedow – dem Sitz der Redaktion – ankündigte, kam eine Ahnung auf, wohin der Weg gehen könnte: Könnten wir nicht abwarten, wen der Fluss des Lebens zu uns bringen würde, und uns mit diesen Menschen zu unseren brennenden Fragen beraten? Könnten wir an unserem »Sitz-Platz« bleiben und nicht handeln, sondern wahrnehmen, was sich an Begegnung ereignen möchte?
So ereignete sich das, was unsere Freundin Hildegard Kurt »die Wahrnehmung ent-automatisieren« nennt. Wir gewannen Mut, das 40. Heft aus dem »wirklichen Leben« heraus entstehen zu lassen. Mit diesem Schritt – so schien es uns – würden wir uns noch näher an die ermutigenden Menschen heranbewegen, für die und durch die wir unsere schreibende Arbeit machen. Schon immer drückt Oya die ehrlichen Anliegen der Redaktion aus. Dennoch waren wir bisher nicht ganz frei von der Befürchtung, bestimmten Ansprüchen genügen zu müssen, ein bestimmtes Bild in der Öffentlichkeit erzeugen, möglichst vielen Lesebedürfnissen gerecht werden zu müssen und so fort. Das fiel nun von uns ab. Wir wollten nichts anderes, als uns sichtbar zu machen und ohne Ablenkung mitten in unserem Alltags­leben zwischen Werkstatt, Garten, Büro und Haushalt zu forschen. Wenn wir uns dabei doch aus Klein Jasedow wegbewegten, dann wegen eines Rufs, der uns an unserem Ruhe- und Beobachtungsplatz ereilt hatte. Die Bewohner der mehr-als-menschlichen Welt*, die Beikräuter und Gänse in unserem Garten, die Stare auf den Bäumen und in den Lüften waren uns auf der Reise nicht weniger wichtige Gegenüber als Weggefährtinnen und -gefährten aus der Menschenwelt, und ebenso wichtig wie die tatsächlich geführten Gespräche war uns die non­verbale Kommunikation mit vielen Freundinnen und Freunden, die Oya seit Jahren begleiten.

Nach einer Weile wurde uns bewusst, dass wir mit unserem Experiment etwas Archaisches begonnen hatten. Wie in einem Märchen folgten wir einem inneren Ruf und suchten Rat. Manchmal tauchte ein ­ratgebender Mensch unerwartet auf, manchmal erforderte es etwas Glück und Magie, damit ein Treffen gelingen konnte. Wie in Märchen üblich, bekamen wir keine klaren Antworten, sondern rätselhafte ­Metaphern und Geschichten geschenkt. Gelegentlich verliefen wir uns und wussten nicht weiter, und erst mitten in der Textarbeit erkannten wir, welchem roten Faden wir tatsächlich gefolgt waren: Wir müssen diese Oya als Geschichte erzählen!
Die folgenden acht Kapitel sind somit Fragmente aus unserem Reisetagebuch.

So eigen- und verschiedenartig die Mitglieder des Oya-Redaktions- und -Produktionsteams auch sein mögen – in entscheidenden Fragen sind wir uns einig und waren bei dieser Ausgabe mehr denn je in einem gemeinschaftlichen Prozess. Deshalb haben wir uns entschieden, in den Texten auf die Perspektive des gemeinschaftlichen »Wir« zurückzugreifen, nicht in einem vereinnahmenden Sinn, sondern aus einem gemeinstimmigen* Grundton heraus, der alle Vielstimmigkeit, die sich im alltäglichen Tun immer wieder ergibt, in den Einklang führt. Deshalb sind die in einer intensiven Schreibwerkstatt entstandenen Buchkapitel nicht namentlich gekennzeichnet. Während des Vorbereitungs- und Schreibprozesses gab es immer wieder Momente, in denen zwischen uns ein Schwarmgefühl entstand. Es resonierte mit den pulsierenden Rhythmen der sich sammelnden Zugvögelschwärme, die unsere tägliche Arbeit begleiteten.

»Fachjargon«, »Privatsprache«, »Das versteht doch keiner!«, »Könnt ihr das nicht auch auf Deutsch sagen?!« – Immer wieder bekamen wir während der vergangenen 39 Oya-Ausgaben solche Kommentare zu hören. Manchmal hält die eigene Sprache keine geeigneten Begriffe bereit, die einen komplexen Sachverhalt präzise zu fassen vermögen oder das gute Leben in seinen mannigfaltigen Bedeutungsebenen lebendig werden lassen. In manchen Fällen ist es uns gelungen, Wortneuschöpfungen zu prägen oder aufzugreifen, in anderen haben wir uns für ein Fremdwort – nein, besser: ein »Gastwort« aus einer anderen Sprache – entschieden. Von Oya-lesenden Großmüttern wissen wir, dass sie sich bei ihrer Lektüre mit dem guten, alten Fremdwörterbuch behelfen. Für alle ­anderen ­haben wir diesmal auf den Seiten 46 und 47 ein Glossar, ein ­»Wörterbuch des Menschen«, angelegt. Die dort erläuterten Begriffe erscheinen uns als wichtig, weil sie die Augen ­öffnen, den Blick schärfen und einige Irrtümer unserer Zivilisation zurecht­rücken können. Das kleine Glossar versteht sich als Stoffsammlung, die als Grundlage für weitere Spracharbeit dienen kann. Bei der Erstnennung in jedem Kapitel sind die erläuterten Begriffe mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet.

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