Mit dem Bus fahre ich von Thalassery ins Ghats-Gebirge, durch kleine Dörfer und traumhafte Ausblicke auf Laub- und Palmenwälder, Teeplantagen und Berggipfel. Die letzten Kilometer ab Peria lege ich mit einem Tuk-Tuk zurück – einer dreirädrigen Autorikscha, die ihren Namen wohl ihren Geräuschen verdankt. Der Fahrer quält sie die steile Straße hoch und setzt mich an einer Auffahrt ab. Ich stehe vor dem Tor des »Gurukula Botanical Sanctuary«. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Ich gehe hinein und auf das Haupthaus zu, über einen Platz, auf dem ein großes steinernes Grab steht, das wie ein Hochbeet reichlich bepflanzt ist. Im November 2014 starb der Gründer des Projekts, der Berliner Wolfgang Theuerkauf. Er wurde hier, im Eingangsbereich seines Lebenswerks, begraben. Vögel zwitschern, von weit her höre ich Hundegebell. Exotische Blumen und Pflanzen – manche habe ich schon in Blumengeschäften in Deutschland gesehen, aber hier sind sie viel größer und kraftvoller. Einige haben Blätter, die größer sind als ich, und stehen wie auf einer Versammlung oder bei einem Empfang beieinander, ruhig und würdevoll. Als eine junge Frau aus dem Haus kommt, frage ich nach Suprabha Seshan, die mir in den nächsten Tagen das Projekt zeigen wird.
Gurukula bedeutet »Familie des Guru«, wobei in Indien ein Guru einfach ein Lehrer ist. Hier ist die Natur die Lehrerin, und das Gurukula Botanical Sanctuary (»Sanctuary« bedeutet sowohl »Heiligtum« als auch »Schutzraum«) versteht sich als Lebensgemeinschaft von Menschen, Tieren und Pflanzen, in der alle Lebewesen heilig sind. Im Mittelpunkt stehen jedoch die Pflanzen. So heißt es auf der Website des Projekts: »Die Pflanzen arbeiten härter als die mächtigsten Regierungen der Erde. Sie geben uns kostenlose Nahrung und Wasser. Denk daran, wir sind die einzigen, die für Nahrung und Wasser bezahlen. Alle anderen bekommen es kostenlos. Sie lachen darüber, wie wir unserem Lebensstil verfallen sind, während sie die Erde kontinuierlich mit Leben und Liebe und Wasser und Schönheit füllen. Wem sollen wir dienen? Pflanzen oder Maschinen? Die Pflanzen des Sanctuary sagen: ›Komm zu uns!‹« Wolfgang Theuerkauf kam aus der Berliner Hippie- und Kommuneszene. Wie viele andere Suchende reiste er Mitte der 1960er Jahre durch Nepal und Indien, kehrte dann kurz nach Berlin zurück, und verließ seine Heimatstadt um 1969 endgültig. In Kerala traf er Nataraja Guru, einen intellektuellen geistigen und spirituellen Lehrer mit sozialreformerischen Ideen, und trat seinem Ashram bei. Als Nataraja im Zug einer Landreform ein Stück Wald bekam, bat er Wolfgang, dorthin zu gehen und es zu pflegen. Für einige Jahre lebte der junge Berliner dort in der Einsamkeit. Dann heiratete er die Inderin Leelamma, und sie bekamen zwei Kinder, Sandilya und Anna. Als sein deutscher Pass abgelaufen war, gelang es ihm, die indische Staatsbürgerschaft zu erhalten – vor allem, weil er die regionale Sprache Malayalam beherrschte. Unterstützt durch seine Verwandten in Deutschland, erwarb er 1981 ein Stück Land und versuchte sich im Anbau von Gemüse, um seine Familie zu ernähren. Viele Jahre lebten sie sehr einfach, ohne Strom und ohne Telefon. Das Wasser holte Wolfgang täglich vom Fluss unterhalb des Grundstücks.
Pflanzen sind die Grundlage allen Lebens In ihrer Umgebung wurde immer mehr Regenwald für Teeplantagen abgeholzt. Wolfgang entwickelte die Vision, den Wald und die vom Aussterben bedrohten Pflanzen zu schützen und ihnen wieder zur Ausbreitung zu verhelfen. In den Pflanzen sah er die Grundlage allen Lebens – ohne sie können weder Tiere noch Menschen existieren. Darum rettete er Pflanzen, indem er sie auf seinem Grundstück ansiedelte und vermehrte. Wolfgangs tiefe Liebe zur Pflanzenwelt entfachte eine große Wissbegierde in ihm, und er begann zu forschen, begleitete pflanzenkundliche Exkursionen, las wissenschaftliche Werke, besuchte Universitäten und tauschte sich mit Fachleuten aus. Nach und nach wurde er zu einem anerkannten Experten. Sein Bruder Thomas erzählt mir, dass der Botanische Garten der niederländischen Universität Leiden Wolfgang einmal mit »Doktor« anschrieb. Als dieser bescheiden antwortete, dass er nicht so angesprochen werden möchte, entschuldigten sie sich und korrigierten die Anrede in »Professor« – offenbar konnten sie sich nicht vorstellen, dass sich jemand autodidaktisch ein solches Wissen aneignet. Das Projekt wuchs in der Fläche, und es kamen weitere Menschen hinzu. Heute umfasst das Gurukula Botanical Sanctuary mehr als 25 Hektar. Der größte Teil ist Regenwald, der sich selbst überlassen wird, um sich zu regenerieren. In einer Baumschule und einem Garten werden seltene und vom Aussterben bedrohte einheimische Pflanzen gepflegt und vermehrt und dann wieder in die Wildnis bzw. in Naturreservate gebracht. Zu Unterrichtszwecken gibt es vereinzelt Pflanzen aus anderen Ländern. Eine kleine Farm dient der teilweisen Selbstversorgung. Bis zu seinem Tod war Wolfgang derjenige, der bei Entscheidungen das letzte Wort hatte. »Er war ein Patriarch«, sagt sein Bruder, berichtet jedoch auch, dass es Wolfgang dabei um die Sicherheit derjenigen ging, die im Sanctuary arbeiten oder es besuchen – denn so ein Ort in der Wildnis ist nicht ungefährlich. Treppenstufen im Gelände müssen instandgehalten werden, damit niemand stürzt; es gibt Skorpione und Giftschlangen. »Wolfgang liebte sie«, berichtet Suprabha: »Gegenüber denjenigen, die sich vor ihnen fürchteten, bestand er darauf, dass wir lernen müssen, mit ihnen zu leben. Tatsächlich beschützte er Schlangen vor den Menschen! Für ihn war die Wildnis ein freundlicher Ort, und Städte waren gefährlich. Die Wildnis war seine Familie, und wir lernten alle, mit ihr als unserer Familie zu leben.« In der Anfangszeit hatte Wolfgang einmal einen umgefallenen Baumstamm vom Flussufer hochgetragen und zu Brennholz gehackt. Er erkrankte daraufhin schwer, denn der Baum war giftig; darum hatten die Einheimischen das Holz liegengelassen. Dass Wolfgang schon mit 66 Jahren starb, war nicht zuletzt auch eine Folge von Infektionen, die er in der Wildnis erlitt. Nach dem Tod des Gründers wird das Projekt nun gemeinsam von fünf Frauen geleitet. Die erfahrenen Pflanzenschützerinnen Laly Joseph, Suma Keloth und Purvi Jain wurden von Wolfgang ausgebildet. Sie sind verantwortlich für verschiedene gefährdete Arten in Baumschule, Gärtnerei und Biotopen. Leelamma Theuerkauf ist für die Gemeinschaftsküche und den Farmbetrieb zuständig. Suprabha Seshan leitet Renaturierungsaktivitäten, Bildungsprogramm und Öffentlichkeitsarbeit. Sie kam 1993 ins Sanctuary; als Autorin und auf Vortragsreisen bringt sie ihr Wissen und die Erfahrungen aus dem Projekt in die Welt. In ihrer Rolle als Direktorin der Stiftung, die einen Teil des Geländes verwaltet, betreut sie das Fundraising. Ihre Arbeit im Sanctuary beschreibt sie als »täglichen Tanz zwischen Verzweiflung und belebender Freude«. Etwa zehn weitere Menschen gehören zum festen Team oder verbringen jedes Jahr einige Monate im Projekt.
Würdige Arbeit für die Nachbarschaft Das Sanctuary ist auch ein wichtiger Arbeitgeber für das Dorf. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter kommen täglich um acht Uhr aufs Gelände, außer sonntags. Sie legen Beete und Wege an, gießen die Pflanzen, helfen bei Bauarbeiten und allem, was sonst zu tun ist. Die Arbeit in der Hitze ist oft schwer, aber alle, denen ich begegne, wirken zufrieden und lachen mich an. Sie strahlen Würde aus, und ich kann die Wertschätzung spüren, die ihnen hier entgegengebracht wird. Täglich gibt es zwei Mahlzeiten, um 17 Uhr ist Feierabend. Jedoch haben die meisten Mitarbeitenden kein Interesse, die aufwendige Pflanzenpflege genauer zu erlernen. Körperliche Arbeit ist nicht besonders angesehen; viele möchten lieber im Büro arbeiten und gehen in die Städte. Frauen hören oft auf zu arbeiten, wenn sie heiraten. Über die Jahre wurden jedoch mehr als hundert Frauen in Pflanzenschutz und -zucht ausgebildet. Auf einem Spaziergang durch den Regenwald erzählt mir Suprabha, dass es mit seiner Zerstörung immer schlimmer wird. Waren bisher Teefarmen das größte Problem, so wird nun zunehmend Wald für den Bau von Luxushotels gerodet. Weil die Stiftung aus rechtlichen Gründen kein weiteres Land dazukaufen kann, erwerben Freundinnen und Unterstützer nun Flächen und stellen sie dem Projekt zur Verfügung. Dies wird jedoch dadurch erschwert, dass die Landpreise sich seit einigen Jahren vervielfachen. Plötzlich bleibt Suprabha stehen und bedeutet mir, ruhig zu sein. Sie hat etwas gehört, was ein großes Tier sein könnte. Mir ist nichts aufgefallen, aber ich spüre ihre Anspannung. Eine ganze Weile verharren wir schweigend, dann entspannt sich ihre Haltung, und sie sagt, es sei nun gut. Vielleicht war es ein Elefant. Mir wird klar, wie verloren ich in der Wildnis bin – ich kann ihre Zeichen nicht deuten, ja nicht einmal wahrnehmen. Als wir weitergehen, zeigt sie mir den überwachsenen Rest einer Teeplantage, von der sie mühsam die Teepflanzen entfernt haben, damit die Natur sich die Fläche zurücknehmen kann. Manche Nachbarn halten sie für verrückt, weil sie nicht versuchen, mit Tee Geld zu verdienen.
Pflanzen vermehren, pflegen, auswildern Durch den Garten führt mich Suma, die 1993 als Arbeiterin ins Sanctuary kam. Neben der Jacobina mit ihren feinen gelben Blüten, die mir sofort ins Auge springt, zeigt sie mir die vielen verschiedenen Araceen, deren Merkmal ihre langen Blütenstände sind. Bei manchen von ihnen ragen diese wie Nasen aus farbigen, oft fast unnatürlich glänzenden Blättern hervor. Ananasgewächse (Bromelien) wachsen auf Bäumen, in deren Höhlen sie sich einnisten, ohne von der Baumsubstanz zu zehren. Einige Farne werden baumhoch, manche haben Haare an den Stengeln. Sie werden 300 bis 400 Jahre alt, an ihren Stämmen wachsen gerne Orchideen. Es gibt hier mehr als 500 verschiedene Sorten von Orchideen, die zu unterschiedlichen Zeiten blühen. Juwelen-Orchideen etwa wachsen am Boden und verdanken diesen Namen ihren Blättern, die in der Sonne eine besonders feine Musterung aufweisen. Als Vorrat für Trockenperioden speichern Orchideen Wasser in den Blättern oder in Verdickungen der Blattstengel. Impatiens (Ungeduldige) haben Samenkapseln, die plötzlich aufspringen; darum werden sie auch »Springkräuter« genannt. Wilde Begonien bilden an einer Pflanze, ja sogar an einem Blütenstengel, gleichzeitig weibliche und männliche Blüten aus. Ganz besonders faszinieren mich – eine lebenslange Vegetarierin – die mehr als 50 verschiedenen Sorten von fleischfressenden Pflanzen. Manche schnappen zu, nachdem sie Insekten mit ihren klebrigen Blättern »gefangen« haben. Andere weisen feine Härchen auf, die ein Sekret absondern, das sogar kleine Vögel lähmen kann. Die ganz großen sehen aus, als könnten sie in ihrem Beutel Vögel oder Mäuse »verschlucken« – was aber hier laut Suma bisher nicht beobachtet wurde. Die Pflanzen erhalten den Nährboden, der ihren natürlichen Bedürfnissen am nächsten kommt – zum Beispiel selbst hergestellte Holzkohle oder Kompost aus Strauchschnitt, aus dem sorgsam alle Blätter von giftigen Bäumen entfernt werden und der dann auf einem Feuer erhitzt wird, um ihn gegen Pilzbefall zu sterilisieren. Eine Mitarbeiterin reinigt gerade eine feinblättrige Huperzia, die – ebenso wie die Platycerien – zu den nicht-blühenden Pflanzen gehört. Platycerien halten sich mit ihren grau-braunen Blättern an Bäumen fest, während ihre grünen Blätter faszinierende Formen annehmen und an den Spitzen nach und nach einen braunen Belag von Sporen bilden. In der Gärtnerei wachsen sie – ebenso wie manche Orchideen – an senkrecht aufgehängten Brettern aus Palmenstämmen, an denen Büschel von Farnwurzeln befestigt werden. Für eine Weile helfe ich mit. Ich löse eine Orchidee, die mehr Platz für ihre Wurzeln braucht, vorsichtig vom Holz. Dafür verwende ich ein Holzstäbchen und säubere die Wurzeln anschließend von festhängenden Holz- und Farnwurzelresten. Es ist eine Herausforderung, diese fummelige Arbeit ohne jede Idee von schnell-schnell zu erledigen, fast meditativ und mit der notwendigen Fürsorge für die Pflanzenwurzeln, die nicht zerstört werden sollen. Dabei muss ich auf jede Perfektion verzichten, denn mitunter geht doch ein kleines Stück Wurzel kaputt, und ganz sauber werden die Wurzeln auch nicht. Die sorgfältige Reinigung ist wichtig, obwohl sie für die Pflanze Stress bedeutet – denn wenn das Trägermaterial verrotten würde, bekäme ihr das nicht. Nach einigen Jahren, wenn sie kräftig genug ist, wird sie an einen Baum gesetzt.
Der Mann, der eine Million Blumen pflanzte Die Western Ghats sind eines der artenreichsten Gebiete der Erde. Das Sanctuary versteht sich als »Flüchtlingslager für Pflanzen«. Suprabha hat 2006 den renommierten »Whitley-Award« für das Projekt entgegengenommen, der jährlich an herausragende Naturschutzvorhaben vergeben wird. Das Sanctuary finanziert sich aus Bildungsarbeit und Spenden und wird zum Beispiel von der bekannten Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy – einer engen Freundin von Suprabha – unterstützt. Es ist kein Botanischer Garten mit Öffnungszeiten und Eintrittsgeldern, jedoch ein Ort, an den jedes Jahr etwa 3000 Menschen kommen. Schulklassen – vor allem solche aus der Umgebung, aber auch aus Großbritannien – lernen hier in der Wildnis. Am 19. Juli 2016 blühte eine Titanwurz, die Suma acht Jahre lang liebevoll gepflegt hatte. Viele Gäste und Hunderte Schulkinder kamen, und die Medien berichteten, es sei das erste Mal, dass dieses seltene Ereignis in Indien beobachtet wurde. Die Titanwurz wurde zwei Meter hoch. Wolfgang Theuerkauf lebt nicht nur in dem von ihm begründeten Sanctuary weiter, sondern auch in dem nach ihm benannten Frosch »Raorchestes theuerkaufii« und in der Pflanze »Impatiens theuerkaufii«. Thomas Theuerkauf vermutet, dass es weitere bisher nicht beschriebene Pflanzen gibt, die sein Bruder entdeckte, aber nicht offiziell registrieren ließ, weil ein solches Anerkennungsverfahren langwierig und kostspielig ist. In der Bibliothek des Sanctuary werden viele Aufzeichnungen und Fotos bewahrt, die hoffentlich eines Tages ausgewertet und zugänglich gemacht werden. Wolfgang war eher ein Mensch der Praxis – von manchen wegen seiner Hingabe an Pflanzen für verrückt erklärt, von anderen hochgeschätzt. Suprabha erinnert sich an ihn als »meinen Freund und Mitverschwörer auf dieser Reise mit Pflanzen – an einen Mann, der eine Million Blumen pflanzte«.•
Elisabeth Voß (61) publiziert, unterrichtet und berät zu Selbstorganisation und alternativem Wirtschaften. Sie verfasste den »Wegweiser Solidarische Ökonomie«. www.voss.solioeko.de