Die Kraft der Vision

Die Welt ist Spiel

Eine Flaschenpost aus dem Neolithikum erinnert an das Eigentliche.
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© Wikimedia / Tamgaly / Tokatosha

Schau mich an! Schau mich an! Ich habe mich in den Fels geschlagen, wie ich bin. Nein, es ist kein »Selbstbildnis«, wie ihr es heute zu missverstehen beliebt. Es ist auch kein »archaisches« Zeugnis meiner etwa beschränkten Mal- und Zeichenkünste. Wie tief wir die Bilder der sichtbaren, sinnlichen Natur in uns tragen, haben meine Ahnen schon vor Tausenden von Jahren eindrucksvoll an den Wänden nachtdunkler Höhlen bewiesen. Wir haben gewaltige Stelen errichtet, die auch uns Menschen abbilden – das können wir, und konnten es schon lange. Mein Bildnis erfasst das Wesentliche – das Wirkliche, das, was in mir und durch mich wirkt. Ich bin ein Sonnenmensch, eingeboren in einen dichten Kosmos aus lauter Leben. Das Leben lebt vom Licht. Und alles Licht kommt von der Sonne her. Sie ist die Spenderin der Kraft, aus der die Erde ihre Wesen schöpft. Kein Etwas würde sich bewegen, würde es nicht vom Licht der Sonne berührt und zum Schwingen gebracht. Kein Stein würde altern, kein Wasser fließen, kein Lufthauch sich regen, wäre da nicht der Lichtstrom, der aus dem Sonnenherzen hervorbricht und alles mit dem Atem des Lebens begabt. Schau mich an! Was ich bin, verdankt sich dem Licht, verdankt sich der Sonne, mit der sich die Erde vermählt, jederzeit, immerfort, in äonenlanger Verschmelzung eins, resonierend, antwortend, mit allem Lebendigen Zeugnis ab­legend für die Wahrheit der Verbundenheit von allem.

[Bild-2]Schau mich an! An dem Ort meines Leibs, an dem du zu denken vermeinst, weil du dein Gehirn überschätzt, siehst du den Kosmos. Ich bin nichts anderes: Was an mir hätte ich selbst gemacht? Ist nicht das kleinste Teilchen meines Leibs Sternenstaub? Geboren aus dem Lebenszyklus der Sonne, geboren aus dem gewaltigen Spiel der kosmischen Kräfte? Verdaut und verwandelt, bereichert und beseelt von allen Wesen, zu deren Leibern mein Sternenstaub seit Jahrmillionen schlüssig beigetragen hat? Ein Mysterium – doch der tiefen Erfahrung zugänglich? Zusammengefügt aus unendlicher Anziehung, aus unendlicher Wandlung, aus Lust an Beziehung, aus Lust an den fantastischsten Kombinationen der Spielsteine im kosmischen Domino?

Ich bin das Ganze. Nichts trennt mich von allem, was war und was sein wird. Ich Mensch bin nicht das, was du mit deinen heutigen Augen siehst. Ich Mensch bin ewig, überall, unvergänglich. In der Hülle meines Körpers scheine ich dir konkret anwesend zu sein. Doch das ist nur ein kurzes Aufblitzen einer konkreten Variation des Möglichen. Vorher und nachher gibt es mich nicht als Manifestes. In Wahrheit bin ich nicht mit den Händen zu greifen. In Wahrheit bin ich Teil des Lebens­atems und kenne mich nicht als Ich. Ich bin in der Erde verkörpert – und vergesse nicht, wo ich zu Hause bin. Mein Sehen durchdringt die unzähligen Sphären des Seienden beliebig tief, und überall sehe ich Leben, gewesenes, zukünftiges, gerade jetzt existierendes. Ich stehe mit meinen ­Füßen auf dem Boden, der vor Leben brodelt. Meine Arme umfassen die Wesen der Lüfte und greifen hinein in die zarte, durchsichtige Haut der Erde. Mein Gesicht wendet sich der Sonne zu; ich grüße sie, ich spüre ihren Ort im Gewebe des Kosmos, ich bin sie, bin alle Sonnen, bin das Ganze.

Nun zu dir! Du magst mir gleichen; so sehr verschieden sind unsere Körper nicht. Unsere Fähigkeiten unterscheiden sich nicht. Auch du atmest, isst, trinkst, scheidest aus, schläfst, pflanzt dich fort. Doch während in deinem Kopf Wörter und Satzteile umherirren wie Kaulquappen in einer Pfütze, spielen meine Gedanken mit Liedern und Gesten, erfinden Bilder der Dankbarkeit. Sie schlüpfen in alles, was sie sehen, riechen, schmecken, tasten, hören – und werden zu dem, was sie sehen, riechen, schmecken, tasten, hören. Sie summen als Bienen in der Luft. In bewegter Stille fliegen sie aneinander vorbei, winken mit den Flügeln, tragen Nektar und Blütenstaub. Ich fange mit Armen und Händen Gedanken auf, lasse sie auffliegen als Schmetterlinge über einer Sommerwiese, gebe sie ab in den Raum um mich ­herum, wo sie in weiten Bögen tanzen. Für dich ist die Welt ein Uhrwerk, das mechanisch abläuft und dir weder Zeit noch Raum gibt, daraus auszubrechen. Wohin bist du gekommen? Warum hast du vergessen, dass du im Spiel des großen Ganzen frei bist? Ich bin dein Ahne – was habe ich falsch gemacht, dass du verlernt hast, wie ein Berg zu denken, wie das Wasser zu tanzen, wie die Erde zu atmen? Wenn das Spiel abhanden kommt, hat das Leben ausgespielt. Wann und wo auf dem Weg von mir zu dir ist das Spiel verlorengegangen – aus der erwachsenen Wahrheit des Lebens zu einer Sache geworden, die du und deine Zeitgenossen dem entwürdigten »Kind« noch zugesteht, bevor es sich dem mechanischen Uhrwerk zu beugen hat? Meine Ältesten ahnten, dass einmal eine Zeit kommen werde, in der die Menschen das Spiel einsperren würden. Jetzt ist diese Zeit da. Du und deine Zeitgenossen, ihr habt es getan, und wir – wir haben den Boden dafür bereitet, auch wenn wir es anders wollten: Sprich einen Ort heilig, und du entweihst alle anderen. Errichte einen Spielplatz, und der Rest der Welt wird frei von Spiel. ­Jeder Tempel ein Reservat, jeder Spielplatz ein Ghetto, jede Kathedrale eine Quarantänestation. Einer meiner Ahnen, in einer Zeit, weit bevor ich dir mein Bildnis anvertraue, richtete den ersten Stein auf, damit seine Quarze mit den Sternen sprechen und mit den Strahlen des aufgehenden Sonnenauges spielen sollten. Doch es blieb nicht bei einem Stein. Er zeugte Bauwerke, immer größere, auf dass sie den Lichtstrom der Sonne einfingen und ihren Rhythmus auf Skalen messbar machten. Das Spiel verfärbte sich, es verblasste. Es machte Orten voller Bedeutung Platz, und wer dort wirkt, hält sich bis in deine Zeit – und wenn du dich davon nicht abwendest, gewiss weitere Jahrtausende lang – für bedeutender als andere.

Lass die Bedeutung, die du dir gibst, von dir wehen wie die ­Haselnuss ihren Blütenstaub im Frühling, und du findest es wieder, das Spiel als Essenz des Lebens – Fülle, Vielfalt, Freude am Gelingen, Verzweiflung über den Schmerz, Genuss des Schlüssigen, Rekombination, Variation, Staunen über das Neue, Ausdruck dessen, was ist. Im Spiel bedeutest du nichts, das eine ist nicht wichtiger als das andere – die Bewegungen des Tanzes selbst tragen alles in sich.

Die Welt als Ganze ist heilig
Ich und die Meinigen tanzen um unser Leben, wir wirbeln mit den Elementen – wir kennen die unzähligen Gesten des weichen Wassers, die Macht der wilden Lüfte, das Verzehrende des wärmenden Feuers und die Tiefe der schwarzen Erde. Unser Leib spricht ihre Sprache, er darf nicht schweigen, auf dass der Tanz der Elemente nicht erlahme. Die Welt als Ganze ist heilig, das ­Leben tanzt seinen Reigen frei durch uns hindurch, solange unser Leib lebt.

Im Lauf des großen Sonnenauges und der Mondin, im Kreisen der Gestirne, im Auffluten und Abebben der Jahreszeiten, in den Zügen der Vögelstämme erkennen wir die Rhythmen, in denen wir atmen, wachen, schlafen.

Dass ausgerechnet ich dich an diesem Punkt unserer Geschichte an diese Einheit erinnere, ist kein Zufall: Die Kultursteppe, die du und die Deinigen bewohnen, die Glas- und Stahlwüsten, die ihr eure Städte nennt, die vergifteten Böden, Gewässer und Lüfte – all das reicht in seinen Anfängen zurück in jene Zeit, als meine – und deine! – Urahnen das erste Samenkorn in die Erde steckten. Damals geschah dies mit dankbarer Geste; sie staunten über den neuen Spielzug, der ihnen ­großartige Geschenke der mehr-als-menschlichen Welt eröffnete. Wie konnte daraus der unverzeihliche Irrtum erwachsen, dies sei geschehen, um dem Menschen Macht über die Natur zu verschaffen? Wie konnte aus dieser unschuldigen Geste des dankbaren Erkennens die Hybris werden, der Mensch habe nun endlich das Spiel des Lebens in seiner Hand, er sei nun endlich Sieger über die »feindliche Natur«? Wie konnten deine Vorfahren – meine Nachfahren – sich so furchtbar irren? Das große Spiel kennt keine Gewinner, keine Verlierer! Es spielt sich um seiner selbst willen. Unterjocht man das Spiel und führt es einem Zweck zu, löst man die Verbindung mit dem Ganzen und trennt sich von allem.

Das Spiel als Lebensraum
Schau dich an! Da bist du und siehst dich im Spiegel. Wo in meinem Bildnis der Kosmos zu sehen ist, siehst du bei dir nur dein Allerweltsgesicht mit einer hübschen Frisur. Nichts in deinem Antlitz lässt ahnen, dass du verbunden seist. Getrennt von der Erde bist du, von der Sonne, von allem Leben, das jenseits deiner Mess­instrumente tanzt und spielt. Ist nicht die Zeit angekommen, da die Wiedervereinigung mit dem Anderen, dem ewig Alten, ewig Neuen, das erwachte und erwachsene Mitspielen im Reigen der mehr-als-menschlichen Welt unausweichlich geworden ist?

Es scheint mir wichtig zu sein, dass du meinen Worten lauschst und verstehst, dass du und ich gleichen Ursprungs sind. Betrachte mich als Boten. Du trägst meine Botschaft in dir. Mein Bild im Fels, von mir mit großer Genauigkeit und in liebender Sorge um dich Zukünftigen Schlag für Schlag in den Stein gemeißelt, erinnert dich daran, wer du Mensch einst warst – und es gibt dir eine Idee davon, wer du wieder sein kannst. Schau mich an, dann wirst du verstehen.

Nein, du verstehst nicht? Dann lass dich erinnern: Meine Heimat ist auch deine. Wir sind nicht verschieden, und die Erde, die uns trägt, wird auch für deine Nachfahren Heimat sein – wenn du und die Deinigen sie nicht verspielen! Unser gemeinsamer Wurzelgrund in der Weite der Welt ist schwerelos, wie die Äste großer Eichen leicht sind, weil sie über den Stamm hinab in der Tiefe eines Wurzelgrunds ankern; dem droht keine Gefahr. Die Wurzeln des Menschlichen sind schwerelos wie die hängenden Äste ausgewachsener Eichen. Doch hier wie dort bedürfen die Wurzeln der Pflege. Jahrtausendelang haben meine Ahnen sich in der Pflicht solcher Pflege gewusst, und auch ich sehe mich außerstande, in dieser Pflege nachzulassen. Das meine ich, dir und deinen Kindeskindern schuldig zu sein. Alt und jung, wie ich bin, gieße ich meine Weisheit in das regellose Treiben zwischen dir und der Welt. Ich sause durch das Astwerk der Büsche und Bäume, ohne mich von der Stelle zu rühren, eile auf den Wegen hin und her, hinauf und hinab, vor und zurück, als könnte ein Wesen der Ausdehnung die Gleichzeitigkeit aller Wege empfehlen. Mein Lebensraum ist das Spiel, ich stamme vom Ursprung ab, bin nichts als Spiel. So schaue ich dich an, so spreche ich zu dir; du siehst und hörst mich – doch bin ich dir wohl zu schnell. Deine Augen erblinden, deine Ohren verschließen sich – und dein Mund erzählt schon lange keine Geschichten mehr davon, wie alles begann.

Spiel auf, Welt! Für das, was du und deine Zeitgenossen Musik nennen, brauche ich kein Orchester, kein Instrument, kein Wiedergabegerät. Die Melodien, Weisen, Kadenzen erklingen zu jeder Zeit in mir, ich bin der Resonanzraum der Welt. Schau mich an: Das Konzert des Lebens erklingt um meinen Kopf – die Musik der Sphären, das große Spiel, alles ist in unendlicher Vielstimmigkeit immerfort gleichzeitig präsent. Ich lausche still, bis mein Einsatz kommt und ich einstimme mit allem, was ich bin – und wenn meine Pause kommt, halte ich inne, um wieder zu lauschen, wohin sich die kosmische Partitur bewegt.

Jeder meiner Schritte ist ein Tanz, jeder bemooste, steinerne, ­irdene, belaubte Tritt ist Austausch und Vereinigung mit dem lebens­spendenden Grund. Was ist mit dir? Wann hast du zuletzt mit nackten Füßen Ur-Boden betreten? Welcherart Austausch betreibst du mit den Asphaltflächen, den Betonböden, den uniform geschotterten Parkplätzen und den kahlgeschorenen Rasenflächen, auf die du tagtäglich deine beschuhten Füße setzt?

Mein Kopf ragt in den Himmelsraum, ich antworte der Sonne. Ein Schauder durchfährt mich, wenn sie nach ihrem Lauf durch des Tages Helle ins Dunkel des Urgrunds einfährt, Freude durchströmt mich, wenn sie sich wieder daraus erhebt! Du magst das Kreisen der Mondin um unsere irdische Heimat aufs Genaueste vermessen können, doch entgeht dir die Essenz ihres köstlichen Reigens, wenn sie auf ihrer Bahn mit dem Sonnenlicht spielt und mit sanfter Bestimmtheit die großen Wasser zu sich ruft und wieder von sich stößt! So ist es mit allem, was dich und euch umgibt. Auf der Suche nach Verbindung bohrt ihr Löcher in alles, was sich euch nicht von selbst öffnet, zerspaltet Ganzheiten, schickt Sonden, Fähren, Schiffe in die Weiten des Alls. Und überall findet ihr nur Totes, weil ihr selbst kaum noch lebendiger als eure Apparate seid und vergessen habt, dass Lebendiges sich nur im Angesicht des Lebendigen erkennt.

Schau mich an! Ich bin, was ich bin. Ich bin das Gewesene und das Kommende, ich bin das Ganze, und ich bin du. Du hast dich vom Ursprung entfernt. Du bist ein ­Kiesel, vom Tidenhub des Seins an die Gestade der Zeit gespült. Und dennoch bist du auch ich.

Zyklische Zeit und tiefe Erinnerung
Schau mich an! Du meinst, ich sei nur ein seltsames Idol aus einer Zeit, die du als »steinzeitlich« abtust. Von ungelenker Hand in eine Felswand gekratzt. Ausdruck eines veralteten, »animistischen« Weltbilds, Lichtjahre entfernt von den Segnungen der Aufklärung. Du täuschst dich! Wir sind, was wir tun. Für mich und die Meinigen gilt dies im Wortsinn: Nichts trennt uns von unseren Handlungen und Gedanken. Wir leben mit und in allem, was wir als lebendig erfahren – und das ist eben alles. Wir erfahren Zeit nicht als unumkehrbaren Pfeil, der in eine fiktive Zukunft rast. Zeit ist für uns ein kreisendes Phänomen, das uns immer wieder zu Stationen zurückführt, die wir uns in neuer Variation erspielen. Deswegen kann ich heute zu dir sprechen – du aber glaubst, deine Worte verwehten in einer unwiederbringlichen Vergangenheit. Doch wisse: Weil du einst warst, was ich bin, kannst du dich an das erinnern, was du glaubst, nicht mehr zu sein. Gemeinsam mit mir kannst du zu etwas Neuem werden. Alles, was du dazu brauchst, sind zyklische Zeit und tiefe Erinnerung. Erinnerung an deine Existenz als Sternenstaub, Schachtelhalm, Reptil. Zeit, die eine Flechte braucht, um vom einen Berghang zum anderen zu wandern. Zeit und Raum, die ein Gebirge braucht, um wieder Ozean zu werden. Lasse den Sternenstaub in dir spielen. •


»Vorwort aus dem Neolithikum«, aus: »Spiel-Zeuge. Hommage an das Spiel« von Albert Vinzens, 2015 bei thinkOya erschienen.


Der Sonnenmensch von Tamgaly wurde in der historischen Region des Siebenstromlands im östlichen Kasachstan, 120 Kilometer nordwestlich der Stadt Almaty, gefunden. Er ist eine von 5000 Petroglpyhen (Felszeichnungen), die dort an rund 50 Fundstellen von vorgeschichtlichen mensch­lichen Behausungen und Grabstätten in den Fels geritzt wurden. Neben Menschen und weiteren »Sonnenmenschen« zeigen die Abbildungen teils mythologische, teils naturalistische Darstellungen von Pferden, Kamelen, Wölfen, Rehen, Steinböcken, Stieren und anderen Tieren. Die ältesten Zeichnungen werden auf das 2. Jahrtausend vor unserer Zeit datiert. Sie stammen somit aus der Zeit der Wende vom Neolithikum zur Bronzezeit. Seit 2004 ist Tamgaly Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Inspiriert durch das Bild des Sonnen­menschen entstand der nebenstehende Text 2015 in gemeinsamer Arbeit von vier schreibenden Menschen als Vorwort zum Buch »Spiel‑Zeuge« von Albert Vinzens.

http://whc.unesco.org/en/list/1145

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