Gesundheit

Gesund in der Nachbarschaft

Die »BürgerGenossenschaft Südstern« möchte in Berlin nachbarschaftliche Werte stärken.
von Leonie Sontheimer, erschienen in Ausgabe #40/2016
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© Leonie Sontheimer

Die Idee zur Gründung der BürgerGenossenschaft Südstern hatte Heidrun Loewer. Wenn die 74-Jährige davon erzählt, spürt man, wie viel Energie sie in das Projekt gibt. Dabei wohnt sie selbst gar nicht in dem Kiez, den sie lebenswerter machen möchte.

Ein Schlüsselerlebnis, das sie antreibt, war das Ableben einer guten Freundin ihrer Mutter, die sie liebevoll Tante nennt. Nach einem Herzinfarkt musste diese ihr gewohntes Zuhause samt Dackel zurücklassen und in ein Heim ziehen. Heidrun Loewer besuchte sie dort, so oft es ging, doch sie musste schnell feststellen, dass ihre Tante abbaute: »Sie saß drei Jahre lang im selben Zimmer im selben Sessel mit der immergleichen Aussicht. Ihr fehlte es an Ansprache und mitmenschlichem Verkehr.« Da kamen bei Heidrun Loewer Fragen auf: Was machen wir mit unseren alten Menschen? Traurig musste sie feststellen: »Wir entsorgen sie.« Eine Einsicht, die im Kopf schon vorhanden war, ist damals im Herzen angekommen. Im Ruhestand legte Heidrun los: Drei Projekte gemeinschaftlichen Wohnens versuchte sie aufzubauen. Als auch das letzte scheiterte, kam ihr die Idee einer Bürgergenossenschaft, die es den Menschen ermöglichen soll, bis zum Lebensende in ihrem Umfeld zu bleiben.
Die BürgerGenossenschaft Südstern wurde im Juni 2015 als Verein gegründet und ist als gemeinnützig anerkannt. Ziel ist es, nachbarschaftliche Selbsthilfe zu fördern und damit einen Beitrag zu Lebensqualität und gesundheitlicher Prävention im Kiez zu leisten. Von simp­ler Geselligkeit über Kinderbetreuung bis zur Computer-Reparatur  – wesentlich bei der solidarischen Unterstützung im Alltag ist, dass alle Mitglieder sowohl Hilfe in Anspruch nehmen als auch etwas einbringen können.

Mitten im Kiez
Jeden Dienstag lädt die BürgerGenossenschaft zum Stammtisch ins Brauhaus Südstern ein. Heidrun Loewer und Veit Hannemann, der die Pressearbeit für den Verein macht, bringen sich gegenseitig auf den neuesten Stand der Geschehnisse: Das Straßenamt lässt mit einer Antwort zu den Verschönerungsplänen einer Grünfläche auf sich warten, es gibt eine neue Koopera­tionsanfrage, und so fort.
Die Biertischgarnituren des Brauhauses stehen dicht aneinander. Das Stimmengewirr angeregter Gespräche breitet sich über den autofreien Weg aus, der in die Hasenheide führt – einen großen Volkspark, in dem die Leute ihre Hunde laufen ­lassen, sich auf hohen Slacklines im Balancieren üben oder im Gebüsch Drogen kaufen. Die Hasen­heide ist die südliche Begrenzung des Stadtteils, in dem die BürgerGenossenschaft Südstern aktiv ist. Im Norden von der Schienentrasse der Hochbahn U1, im Westen und Osten von Mehringdamm und Kottbusser Damm begrenzt, umfasst das Gebiet schätzungsweise 50 000 Bewohner – und damit Tausende verschiedene Realitäten und Bedürfnisse.
»Wir leben in einer sehr individualisierten Gesellschaft«, sagt Veit Hannemann. »Viele Menschen ziehen hierher, weil sie sich Anonymität und Selbstbestimmung wünschen.« Doch mit zunehmendem ­Alter käme bei vielen Bewohnerinnen und Bewoh­nern des Kiezes die Sorge auf, ob sie so weiterleben können.
Hannemann wohnt bald 20 Jahre in Kreuzberg und geht mit offenen Augen durch die Straßen. Er ist 58 Jahre alt und hat sich schon auf verschiedene Art und Weise politisch engagiert. Nun versucht er, lokal etwas zu bewirken.

Gemeinsame Sorgen
Gemeinsam mit Studierenden hat die BürgerGenossenschaft eine Umfrage im Kiez durchgeführt. Als drängendstes Problem wurde die allgemeine Erhöhung der Mieten genannt. »Nirgendwo in Deutschland sind die Mieten in den letzten fünf Jahren so gestiegen wie bei uns«, sagt Hannemann. Menschen von überall her drängten nach Kreuzberg. Diejenigen, die die hohen Preise zahlen könnten, bekämen die Wohnungen. Viele Ansässige hätten Angst, verdrängt zu werden. Hinzu kämen besonders im Alter persönliche Sorgen wie gesundheitliche Einschränkungen oder eine zu niedrige Rente. Veit Hannemann zögert nicht, diese Missstände mit den wirtschaftlichen Entwicklungen in Verbindung zu bringen: »Der Sozialstaat wurde durch die neoliberale Dominanz gekürzt.« Man müsse sich ­daher zunehmend selbst organisieren, sein Umfeld aktiv gestalten und trotzdem nicht aufhören, mehr vom Staat zu fordern. Auch Heidrun Loewer spricht vom nötigen »Druck von unten«.
Ihre Initiative soll staatliche Leistungen nicht ersetzen und will auch nicht als Dienstleisterin verstanden werden. Sie fördert gegenseitige Unterstützung und Hilfe. Was Struktur und Mitgliederzahlen angeht, fungieren Seniorengenossenschaften als Vorbild – Zusammenschlüsse von älteren Menschen, die sich im Alltag unterstützen, damit ihre Mitglieder möglichst lange in ihrem gewohnten Umfeld ein sozial eingebundenes Leben führen können. »Die meisten unserer 35 Mitglieder sind tatsächlich über 50«, sagt Hannemann. Doch das soll nicht so bleiben. Mehrere Tausend Mitglieder soll die Genossenschaft einmal zählen; besonders junge Familien will die Initiative in nächster Zeit gewinnen. Längerfristig sollen auch Geflüchtete einbezogen werden – und zwar nicht nur als hilfsbedürftige Personen, sondern als Menschen, die ihren Nachbarn etwas zu bieten haben.
Der Vereinsbeitrag liegt bei 60 Euro pro Jahr. Da niemand aufgrund finanzieller Schwierigkeiten ausgegrenzt werden soll, gibt es einen Mindestbeitrag von 12 Euro. Bei 35 Mitgliedern kommt man damit nicht sehr weit. »Wir sind ein Verein ohne Geld«, sagt Hannemann dazu. »Die Unterstützungsleistungen sollen ohne Geld laufen.« Ausnahme seien Sprit- oder Materialkosten, die könne man abrechnen. Die erste Investition des Vereins war die Herstellung und der Druck von Flyern. Hier halfen Stiftungen. Die Flyer seien der erste Schritt, um mehr Mitglieder zu gewinnen. »Das letzte Jahr war für die BürgerGenossenschaft Südstern Aufbauphase«, sagt Hannemann. »Nun wollen wir uns verstärkt der Kommunikation nach außen widmen«.
Interessierte Menschen können die Genossinnen immer dienstags im Brauhaus kennenlernen oder freitags beim Nachbarschaftscafé. Die regelmäßigen Treffen helfen, sich zu vernetzen und vor allem Vertrauen zu fassen.
Im Gespräch betonen Loewer und Hannemann immer wieder, dass gegenseitige Hilfe nur funktioniert, wenn die Menschen sich kennen und einander vertrauen. Fremden Leuten Zutritt in die eigene Wohnung zu gewähren, sei für viele undenkbar. Wenn ein jüngerer Nachbar dem mobil eingeschränkten alten Herrn also etwas aus dem Supermarkt mitbringen soll oder ihn auf einen Kaffeeklatsch besuchen möchte, ist Vertrauen elementar – und nur wer seine Nachbarn kennt, weiß, wer von ihnen womöglich Hilfe benötigt. Bisher entstehen die meisten Unterstützungsleistungen auf diesen persönlichen Wegen.
Einige Früchte der Arbeit des Vereins sind bereits zu sehen: Ein Genosse fährt eine Dame gelegentlich zum Arzt, der dreijährige Julius hat unter den älteren Mitgliedern bereits einen Wahlopa gefunden, der Computerspezialist Roland gibt regelmäßige Nachhilfekurse, und der Stadthistoriker ­Lothar führt die anderen Mitglieder gerne zu unbekannten Sehenswürdigkeiten im eigenen Kiez.

Zusammen gesünder
»Wir sind derzeit noch vorwiegend Menschen, die Hilfe leisten möchten, und weniger solche, die Unterstützung brauchen«, sagt Hannemann. Seiner Erfahrung nach mache es zufrieden, zu helfen. Das »Helfer-High«, der Wohlfühlzustand des Helfenden, mache gesund – das sei die eine Seite. Auf der anderen Seite machten sich viele Menschen Sorgen über ihren Gesundheitszustand und darüber, ob sie ihr Leben im gewohnten Umfeld weiterführen können. »Vereinzelung, der Mangel an sozialen Kontakten und einer sinnstiftenden Tätigkeit – das sind Probleme, die ich hier beobachte«, sagt Hannemann und ergänzt: »Probleme, die Risiken für die Gesundheit darstellen«. Die Mitglieder der BG Südstern wollen dafür mit ihren vielfältigen Möglichkeiten der nachbarschaftlichen Solidarität Lösungsansätze bieten.
»Wir sind zusammen nicht nur ­besser, sondern auch gesünder«, sagt Heidrun Loewer nachdrücklich. Ihr Traum ist es, dass die BürgerGenossenschaft Südstern als Leuchtturmprojekt zeigt, wie ein nachbarschaftliches Miteinander die Lebensqualität steigern kann – und dass viele Nachbarschaften ihre Idee nachahmen. •


Leonie Sontheimer (24) studiert Philosophie und Biologie in Berlin. Sie ist Teil des journalistischen Kollektivs »collectext« und lebt nur zwei U-Bahn-Stationen vom Südstern entfernt.


Interesse an solidarischem Kiezleben?
www.bg-suedstern.de

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