Gemeinschaft

Zwei Seiten einer Medaille

Ökodörfer und die Degrowth-Bewegung können in einer fruchtbaren Beziehung stehen.
von Christiane Kliemann, erschienen in Ausgabe #40/2016
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© Center for Creative Ecology - Kibbutz Lotan

Spätestens seit der Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 ist dieses englische Wort in der alternativen Szene in Deutschland ein Begriff. Dabei gilt: Degrowth ist mehr als »Postwachstum«! Andrea Vetter schrieb damals im Oya-Heft zur Konferenz (Ausgabe 28): »Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, was für wen überflüssig ist, ebenso wie über die Frage, was das Leben letztlich reich, schön und beglückend macht. Vielleicht wäre eine Degrowth-Gesellschaft eine Gesellschaft des Wesentlichen.« Die Degrowth-Bewegung will nicht nur die Abkehr von einem System, das von unendlichem Wachstum abhängig ist, sondern erforscht auch, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, deren Vision das »gute Leben für alle« bei achtsamem Umgang mit der Erde und ihren Lebewesen ist. Das bedeutet vor allem eine Verringerung von Produktion und Konsum und zugleich den Aufbau regionaler Ökonomien mit starker demokratischer Teilhabe. Die zentrale Frage dabei ist nicht »Durch welche Techniken können wir unseren derzeitigen Lebensstil und unser Wirtschaftssystem so lang wie möglich erhalten?«, sondern »Wie können wir unsere Gesellschaften so organisieren, dass wir die planetaren Grenzen achten und die materiellen wie immateriellen Bedürfnisse aller intelligenter, besser und mit weniger Konsum befriedigen?«.
Als ich 2013 zum Organisationsteam der Leipziger Konferenz stieß, hoffte ich naiverweise noch, Degrowth könne der konzeptuelle Rahmen sein, der die vielfältigen Ansätze zu einer kraftvollen neuen Bewegung zusammenführt. Schnell musste ich jedoch lernen: Noch vielfältiger sind diese Alternativen in ihrer Gesamtheit, und so verwehren sie sich zu Recht der Reduktion auf ein bestimmtes Konzept. Gleichzeitig aber träumen sie alle den Traum von einer breiten Bewegung, die der kapitalistischen Megamaschine die Stirn bieten und zeigen kann, wie viele Menschen es schon sind, die anders denken und leben wollen.
Deshalb geht es der Degrowth-Bewegung inzwischen vermehrt darum, Allianzen zu schmieden und auszuloten, was ihr Ansatz zu vermehrter Kooperation beitragen kann. Ökodörfer und Gemeinschaften können hier wertvolle Partner sein – nicht zuletzt wegen ihrer Erfahrung mit integrativen sozialen Prozessen.

Ökodörfer: praktische Experimentierfelder
Während Degrowth ursprünglich als theoretisches Konzept entstanden ist, das wachstumskritische Fragen von der Gesamtgesellschaft her denkt, haben Ökodörfer und andere kooperative Basisprojekte schon im kleinen Rahmen damit angefangen, diesen Anspruch in der Praxis zu erproben. Beide Ansätze vereint ihr ganzheitlicher Impuls: Degrowth in der Theorie und auf übergeordneter gesellschaftlicher Ebene; Ökodörfer in der alltäglichen und umfassenden Praxis sowie im lokalen Kontext. Diese ganzheitliche Praxisorientierung macht Ökodorfprojekte zu einem idealen Erfahrungsfeld – sowohl was Erfolgsfaktoren als auch was Schwächen und offene Fragen angeht.
Die grundsätzliche Frage dabei ist, wie das Leben in einer von Degrowth geprägten Gesellschaft aussehen und sich anfühlen könnte – und zwar nicht nur punktuell, sondern tagtäglich in allen Lebensbereichen über Jahrzehnte hinweg. Wer auf Dauer eine zukunftsfähige Alternative schaffen will, muss die richtige Balance zwischen dem eigenen Anspruch und den erstaunlich hartnäckigen »mentalen Infrastrukturen« (Harald Welzer) der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft – also den aus dieser entstandenen Gewohnheiten und Prägungen – finden. Sonst scheitern idealistische Projekte schnell an der Realität.
Um sich langsam in die angestrebte Richtung zu bewegen, schaffen erfolgreiche Ökodorfprojekte Bedingungen, die idea­lerweise dabei unterstützen, hinderliche mentale Infrastrukturen schrittweise zu erkennen und zu verändern, ohne zu überfordern. Das bedeutet für die beteiligten Menschen eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen inneren Grenzen – in Bezug auf die Ansprüche an sich selbst und an die anderen. Dabei wird deutlich, dass eine Veränderung der äußeren Strukturen immer mit einem Wandel der inneren Strukturen einhergehen muss, um nachhaltig zu sein. Auf individueller Ebene kann ein solcher innerer Wandel – bei allen Herausforderungen – ein großer persönlicher Gewinn sein.

Gemeinschaftsbildung und Kommunikation
Von der Ökodorf-Bewegung aus betrachtet, bewegt sich Degrowth noch zu sehr im theoretischen Bereich. Die Erfahrungen der Ökodörfer können beispielhaft zeigen, was geschieht, wenn man die theoretischen Ideale mit dem konkreten Leben konfrontiert: Welche sozialen und persönlichen Veränderungen sind notwendig? Wie ist es, sich als ganzer Mensch auf das Neue, Andere einzulassen und alle Lebensbereiche langfristig davon durchdringen zu lassen? Was sind die inneren und äußeren Grenzen und Hürden eines solchen Lebensentwurfs?
In diesem Spannungsfeld zwischen politischem Anspruch, gelebter Realität und den konkreten persönlichen Bedürfnissen und Eigenheiten der Beteiligten spielt der starke soziale Fokus der Ökodorf-Bewegung eine entscheidende Rolle. In ihren Projekten gilt es, gemeinsam Mittel und Wege zu finden, um schrittweise alte Muster zu überwinden und die Sehnsucht nach Verbundenheit zu leben, die dahinter liegt. Es gilt, Räume zu schaffen, in denen sich die Erfahrung machen lässt, dass unsere wichtigsten immateriellen und auch materiellen Bedürfnisse nur zusammen mit anderen erfüllt werden können. Eine langjährige Bewohnerin Sieben Lindens beschreibt das so: »Unser Ökodorf ist ein wunderbares Forschungsfeld dazu, was es bedeutet, Mensch zu sein – wie wir alle so ticken und wie unterschiedlich wir sind.«
Die Erfahrung vieler Jahre lehrt, dass die Pflege des Miteinanders und der Aufbau einer konstruktiven Kommunikationskultur für den langfristigen Erfolg von Gemeinschaften zentral sind. Neben dem – zumindest im Vergleich zum normalen und auch ökobewussten Einzelhaushalt – verringerten ökologischen Fußabdruck bemisst sich das Gelingen von Gemeinschaft auch an der inneren Zufriedenheit der beteiligten Menschen. So liegt die Kernkompetenz der Ökodorf-Bewegung im Bereich der Gemeinschaftsbildung und Kommunikation. Diese Kompetenz kann sie auch in andere soziale Bewegungen und politische Gruppen einbringen. Wo Menschen gemeinschaftlich etwas erreichen wollen, stehen oftmals zwischenmenschliche Belange einem langfristigen Erfolg im Weg. Gemeinschaftsbildende Techniken zum Beispiel aus künstlerischer oder meditativer Praxis, aus gewaltfreier Kommunikation oder Tiefenökologie ermöglichen hier immer wieder eine andere Qualität von menschlicher Begegnung, aus der Verbindung und Verständnis erwachsen können. Im Zug ihrer langjährigen Entwicklung konnten Gemeinschaftsprojekte einen vielseitigen Erfahrungsschatz in solchen sozialen Techniken auf Alltagsebene aufbauen.

Anspruch und Wirklichkeit
Allerdings: In vielen Ökodorf- und Gemeinschaftsprojekten gibt es durchaus auch Diskrepanzen zwischen theoretischem Anspruch und gelebter Realität. Angesichts der vielen unterschiedlichen Vorstellungen ist es oft schwer, in der Praxis auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Die Tatsache, dass Kommunikations- und Entscheidungsfindungsprozesse hier großen Raum einnehmen, strengt die Menschen an. Aus der Erfahrung älterer Ökodorf-Projekte geht hervor, dass oft vor allem die sehr aktiven und engagierten Menschen im Lauf der Zeit ausbrennen. Es kommt eine gewisse Müdigkeit auf, wodurch die Gefahr besteht, in Routine und alte Muster zu verfallen. Häufig fehlt es auch an Personen, die für praktische Tätigkeiten, auf die es im Projekt ankommt, langfristig Verantwortung übernehmen. Ohne diese Basis funktioniert das gemeinsame Leben freilich nicht oder nur schlecht. So wird die Menge an Zeit und Energie, die soziale Prozesse einnehmen, oft unterschätzt, wodurch wiederum zu wenig Raum bleibt für das Praktische – ein wichtiger Fokus von Ökodörfern.
Aufgrund dieser Erfahrung sieht es die Ökodorf-Bewegung auch als ihre Aufgabe, allzu naive Vorstellungen von einem Degrowth-kompatiblen Leben zu relativieren. Theoretikerinnen unterschätzen in der Regel, dass es eben sehr viel harte Arbeit bedeutet, ein vergleichsweise hohes Maß an regionaler gemeinschaftlicher Selbstversorgung zu erreichen – harte Arbeit, die oft die Vernachlässigung eigener emotionaler Bedürfnisse zur Folge haben kann, bis hin zur Erkrankung. Die Balance zwischen den praktischen Erfordernissen eines materiell genügsameren Lebens sowie der angestrebten wie notwendigen inneren Zufriedenheit zu finden, gehört in Gemeinschaften zu den größten Herausforderungen. Deshalb lautet eine Frage, die sie sich ebenso wie die Degrowth-Bewegung stellen muss: »Wieviel Radikalität ist möglich, und wieviel Anpassung an die Gesamtgesellschaft ist nötig, um einen wirklich nachhaltigen und umfassenden Wandel vor­anzutreiben?«.

Als Pioniere des Wandels sichtbar werden
Für die Zusammenarbeit mit Degrowth und anderen Bewegungen ist es aus der Perspektive der Ökodörfer besonders wichtig, dass die verschiedenen Pioniere des Wandels als Teile einer vielfältigen gemeinsamen Bewegung sichtbar werden. Wo den klassischen Parteien jegliche Phantasie zu fehlen scheint, den multiplen Krisen des Kapitalismus zu begegnen, darf es für die sogenannte Mitte der Gesellschaft nicht bloß die Wahl zwischen der Aufrechterhaltung des Status quo einerseits und dem Populismus vom rechten Rand andererseits geben. Damit eine emanzipatorische Alternative jedoch überhaupt eine Chance hat, als realistische Option wahrgenommen zu werden, braucht sie dringend ein Dach, unter dem sich alle wiederfinden können.
Bei der Herausbildung eines solchen Bewegungs-Daches kann die Ökodorf-Bewegung dazu beitragen, stärker auf das Verbindende als auf das Trennende zu schauen – genau so, wie es in vielen bestehenden Gemeinschaften bereits Praxis ist. Die Chance sozialer Bewegungen liegt darin, sich in all ihrer Verschiedenheit als unterschiedliche Instrumente eines Orchesters zu sehen, die zusammen ein Konzert geben. Ganz konkret können Ökodörfer im Degrowth-Konzert erfahrene Prozessbegleiter für mehr Kooperation, Mitgefühl und Ehrlichkeit sein. »Degrowth in Bewegung(en)« möchte durch den Austausch und die Vernetzung der verschiedenen Bewegungen dazu beitragen, die Fundamente hinsichtlich des Baus eines gemeinsamen Hauses zu legen. Gelingt dies, können wir sehr stark sein und die Welt verändern.
Wir sind bereits dabei! •


Christiane Kliemann (48) ist freie Autorin und lebt im Ökodorf Sieben Linden. Sie hat die Degrowth-Konferenz in Leipzig mitorganisiert und betreut den Blog auf degrowth.de.

 

Zum Projekt »Degrowth in Bewegung(en)«
www.degrowth.de/de/dib/degrowth-in-bewegungen

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