Titelthema

10 (Vorwort)

Eine Art Vorwort, in dem wir neuen Leserinnen und ­Lesern mitteilen, warum dieses als zehntes Kapitel ­eines Reiseberichts zählt, und generell erklären, wie ­dieses Heft entstanden ist.von Der Schwarm, erschienen in Ausgabe #41/2016

Liebe Leserinnen und Leser,
sollte dies die erste Ausgabe sein, mit der Ihnen Oya begegnet, wundern Sie sich vielleicht über die vielen Beiträge, in denen die Redaktion über sich selbst nachdenkt. Selbstverständlich war das nicht immer so! 39 Ausgaben lang widmeten wir die Hefte verschiedenen Themen, um die Motive, Ziele und Wege von Menschen, die sich einen Wandel hin zu einer »enkeltauglichen Kultur«  wünschen, tiefgründig zu erforschen. So hat sich Oya zum Beispiel intensiv mit Ökonomie, Landwirtschaft, Kunst, politischem ­Widerstand, Gemeinschaftsprojekten oder traditionellem Handwerk beschäftigt. Wir haben einige der »grünen« Mythen, wie den Glauben an eine ressourcensparende Technisierung, unter die Lupe genommen, ­haben uns mit sozialen Bewegungen in ganz Europa, dem Leben in der Stadt, der Selbstversorgung auf dem Land, dem Lieben, dem Spielen, dem Lachen und dem Sterben auseinandergesetzt. Viele der zurückliegenden Ausgaben können noch über www.oya-online.de erworben werden; die meisten der bisher erschienenen Artikel und weitere Texte sowie Gesprächsmitschnitte sind auf der Internetseite zugänglich.
Im vorherigen Heft, der Ausgabe 40, hat die Gruppe der Oya-Verantwortlichen sich selbst die Frage gestellt: Wie geht es uns nun, da so vieles gesagt ist? Wie geht es uns damit, dass sich die weltweiten Krisen immer mehr zuspitzen und all die ökosozialen Projekte, über die wir berichten, so gut wie nichts dagegen ausrichten können? Es schien uns nicht sinnvoll zu sein, das bisher Gesagte weiter zu wiederholen. Die Erkenntnis, dass das globalisierte Zivilisationsmodell nicht zu reformieren, sondern in seinem Kern destruktiv ist, wurde immer deutlicher und warf nur noch mehr Fragen auf. Ist es nützlich, weiter ein Heft aus Papier in die vollgestopfte Welt zu bringen und über strom- und ressour­cenfressende Computer zu kommunizieren – oder sollten wir nicht selbst damit beginnen, ein materiell reduziertes Leben zu führen, das ganz nah an den physischen Fähigkeiten der lebendigen Erde ist, ohne ihre Lebensquellen zu erschöpfen? Ist es richtig, weiter im Medienmarkt mitzuspielen und hier eine Nische im Segment »Nachhaltigkeit« zu bedienen, ohne tatsächlich »nachhaltig« zu sein, oder verstehen wir unsere ­Arbeit als etwas ganz anderes?
All diese Fragen haben in eine Ratlosigkeit geführt. Es ist Teil unserer Kultur, zu meinen, man müsse stets alles im Griff und einen soliden Plan haben – doch das erschien uns zunehmend als Unkultur. Menschen, bei denen wir Rat suchten, ermutigten uns, uns weiter auf dem Weg ins Land des Nicht-Wissens vorzupirschen. »Oya 40« dokumentierte diesen Weg in neun ­Kapiteln als eine Art Reisebericht, den wir hier mit dem zehnten Kapitel fortsetzen. Ein wesentliches Motiv war bisher das Innehalten: Nach Hause gehen, ausatmen, zur Ruhe kommen, schlafen gehen, etwas sterben lassen, »Lassenskraft«* üben – so lauteten die Ratschläge, die wir unterwegs bekamen. Was dabei »sterben« sollte, waren offenbar alle Mechanismen und Ansprüche, die mit der kapitalistischen Verwertungslogik zu tun haben und denen wir trotz gegenteiligem Streben zu großen Teilen unterliegen. Oya war nie als handelsübliches »Produkt« gemeint gewesen, doch es gab diesen Aspekt eben auch.
Am Schluss des Reise­berichts der letzten Ausgabe überlegten wir:
»Mit Silke Helfrich haben wir in Kapitel 8 den Gedanken eingefangen, wie es wäre, Oya nach dem Modell einer solidarischen Landwirtschaft zu organisieren. Eine SoLaWi besteht nicht aus Erzeugern und Kunden, sondern aus Menschen, die sich eine Ernte teilen und auf verschiedene Weise zum Ermöglichen dieser Ernte beitragen. Sie nehmen sich die Freiheit, sich so zu organisieren, wie es ihnen entspricht. Und der Gedanke, uns diese Freiheit auch in Bezug auf Oya zu erlauben, wirkt wie ein Lichtschein, der aus einer sich öffnenden Tür dringt. Wer sagt denn, dass Oya immer so auszusehen hat, wie sie es nun 39 Ausgaben lang getan hat? Können wir mit unseren Leserinnen und Lesern über Formen nachdenken, die ihnen, uns und dem Zeitgeist mehr entsprechen? Muss sie wirklich immer gedruckt werden – oder kann Oya auch mal an Hunderten von Orten in Form von Zusammenkünften stattfinden?«
Das sollte eine Richtung andeuten, noch keine konkreten Zukunftspläne.

Viele Leserinnen und Leser, Genossenschaftsmitglieder, Freundinnen und Freunde haben uns seitdem darin bestärkt und ermutigt, in der Durchdringung unseres Innehaltens nicht nachzulassen. »Bleibt dran!«, »Habt den Mut, zu sagen, dass ihr nicht weiterwisst!«, oder auch »Was wünscht ihr euch von uns?« – so schallte es uns aus Zuschriften und Gesprächen entgegen. So lautet auch die Quintessenz des wunderbaren Wochenendes Anfang September, an dem 60 Oya-Freundinnen und -Freunde den Weg zum Sitz der Redaktion im winzigen Dörfchen Klein Jasedow am Peenestrom in Vorpommern gefunden und uns in kleinen und großen Runden beim Nachdenken, Wahrnehmen und Fragenstellen ­geholfen haben.

Im Nachklang dieses Treffens, das kurz nach Erscheinen der Ausgabe 40 stattfand, fehlten uns die Worte und die Bilder. Was vor einem Monat noch einen zusammenhängenden Erzählstrang ergeben hatte, war nun in Auflösung begriffen. In regelmäßigen Runden saßen wir Oya-Verantwortlichen beisammen und überlegten, wie es weitergehen könnte. Ließ sich die Ausgabe 40 noch wie eine schöne Erzählung über Qualitäten des gegenwärtigen Zeitgeists lesen, ging es jetzt um den Ernstfall in der Praxis. Die Erzählung spann sich in der ganz unromantischen Wirklichkeit fort: Die Oya ­Medien eG, eine Genossenschaft mit 500 Mitgliedern, hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle zwei Monate eine ermutigende Zeitschrift herauszugeben; sie ist ihren Mitarbeitenden und ihrer Leserschaft verpflichtet – und hat ein Redaktionsteam, dem es die Sprache verschlagen hat! Wir konnten spüren: Etwas drängt nach grundlegender Änderung, will seine Form aber noch nicht preisgeben. So taten wir das Naheliegende und sichteten die Zettel, auf denen die Teilgebenden* während des Treffens Fragen und Impulse notiert ­hatten, lasen Berge von Leserbriefen, führten Dialoge mit Lesern und Mitdenkerinnen, befragten uns selbst und befragten einander. Der Einbruch des herbstlichen Regenwetters Anfang Oktober brachte einige von uns dazu, mit Grippe das Bett zu hüten, was uns weiter verlangsamte.
Doch ganz innehalten konnten wir auch nicht: Das Klein Jasedower Büro, in dem neben Oya weitere Projekte verwaltet werden, muss ja funktionieren! Die Begleitung von kleinen Kindern und alten Menschen in unserem Umfeld ist täglich zu organiseren, Gärten und Tiere müssen versorgt werden; Nüsse und Saatgut waren zu sammeln, Äpfel zu mosten, der Haushalt zu betreuen, Gemüse einzumieten – zu schweigen von kommunal- und bildungspolitischem  Engagement.

Auf der Suche nach einem roten Faden für das neue Heft spielten wir in unseren Planungsrunden mit verschiedenen Metaphern: Heimkehr, Einkehr, Häuslichsein, Nestbau, Netz, Gewebe, Schwach-sein-Dürfen, Müdigkeit, Schlafengehen, Seinlassen, Schwärze, Schweigen. So sinnig uns diese Bilder für sich genommen auch erschienen, passte doch keines auf unsere Gesamtverfassung. Manchmal, wenn wir nicht weiterwussten, warfen wir Münzen. Doch das Bild fürs große Ganze war noch nicht in Sicht.
Es war eine essenzielle Wegweisung, als wir zum ersten Mal inmitten des Rätselns über die Gründe für unseren totalen Stillstand entdeckt haben, dass unser Prozess am ehesten einer »Metamorphose« gleicht: Der griechische Wortstamm meta heißt laut Wissens-Allmende* Wikipedia: »1. a) (räumlich) inmitten, zwischen; b) mit, zugleich mit, zusammen mit, unter, in, bei; 2. auf (etwas) los, zu oder nach (etwas) hin; 3. (zeitlich oder in der Rangfolge) nach, hinter«, der zweite Wortteil »die (innere oder äußere) Form und Gestalt betreffend«. »­Metamorphose« ist also »die Wandlung von etwas (in eine andere Gestalt oder in einen anderen Zustand)«, mithin ein Zwischenschritt im Lebenszyklus eines Wesens, der jedoch keinen »Endschritt« kennt, sondern überhaupt nur aus »Zwischenschritten« bestehen kann. Warum? Weil die Zukunft unbekannt ist und das metamorphierende Wesen zu jeder Zeit nur kennt, was es bisher gewesen ist.
Schon vom Menschen auf andere Lebewesen zu schließen, ist fragwürdig, noch mehr, ein materielles ­Objekt wie ein gedrucktes Heft mit einem »Lebens­zyklus« in Verbindung zu bringen. Doch haben wir nicht 40 Ausgaben lang erfahren, dass die Arbeit an einem gedruckten Heft einen gemeinschaftlichen ­Organismus hervorbringt, der alle einzelnen Mitarbeitenden als Organe einbindet und eine Gestalt bildet, die durchaus als »Wesen« wahrgenommen werden kann? Warum sollte dann ein solches nicht einen eigenen Lebensrhythmus entfalten?
Die Wissenschaft hat nur eine ungefähre Kenntnis von den Metamorphosevorgängen etwa während des Verpuppungsprozesses einer Raupe. –27 Noch weniger können wir wissen, wie es sich für die Raupe anfühlt, sich im stillen Dunkel in die Ungewissheit hinein aufzulösen. Bei uns versetzte dieses Bild jedoch so vieles in Schwingung, dass wir nicht anders konnten, als daran festzuhalten. Erst als wir unseren Prozess als Verpuppung und diese Ausgabe als »Aufzeichnungen aus einer ­Puppenhaut« verstehen konnten, bekamen wir sie zu greifen, begann das vorhandene Material, sich sinnhaft zu ordnen. Es fühlte sich nicht mehr bedrohlich an, dass so vieles in Auflösung begriffen erschien, denn es war ja auch eine Lust am Wandel der Gestalt spürbar.

Die bisherige Beweglichkeit der Raupe endet mit der letzten Häutung zur Puppe. Eine innere Bewegung setzt ein und führt zum Abbau alter Strukturen, zur Orientierung an das, was in der DNA der Imaginalzellen  als tiefe Erinnerung an das Gesamtwesen gespeichert ist, zum Aufbau neuer Organe, die neue Fähigkeiten mit sich bringen. In dieser Ausgabe 41 tun wir deshalb nichts anderes, als alte Muster in Frage zu stellen und mitzuteilen, was Oya für uns wesentlich macht. Dies tun wir nicht in ­literarisch erdachten Texten, sondern indem wir tatsächlich geschriebene Briefe, E-Mails, gesprochene Dialoge und Geschichten aus unserer Verpuppungszeit wiedergeben. Dazwischen beziehen wir uns immer wieder auf die vielen Gedanken-Zettel, die während des Oya-Treffens im September entstanden sind. In all diesen unterschiedlichen Textfragmenten gelangen wir immer wieder zu ähnlichen Schlüsselstellen, zu – bei Licht betrachtet – sehr einfachen Aussagen. Bei der einen oder anderen haben wir den Verdacht, sie könnte eine Imaginalzelle von Oya sein. Noch liegen die Fragmente nebeneinander, doch kann man erkennen, dass Bezüge bestehen, die das Alte mit dem Neuen verbinden, die das Alte in das Neue hinüberführen, die die Substanz des Alten nutzen, um in sinnvoller Rekombination das Neue zu schaffen. Unser Versuch, die Struktur dieser Bezüge erkennbar zu machen, sind die Verweise auf andere Seiten. Finden Sie irgendwo im Text eine olivgrüne Seitenzahl (), können Sie dorthin springen und finden das Thema in einem anderen Kontext fortgeführt. Begriffe, die gesonderter Erklärung bedürfen, haben wir auch diesmal wieder mit einem Sternchen (*) versehen und auf den Seiten 50 und 51 im Glossar, einem sich fortschreibenden »Wörterbuch des Menschen«, erläutert.

Über die Gestalt des zukünftigen Insekts wissen wir noch nicht viel. Sie könnte ganz anders aussehen als ein Heft mit soundsovielen Seiten, das regelmäßig durch die Lande kutschiert wird. Womöglich ist die Veränderung aber auch ganz unspektakulär, und wir setzen äußerlich das Bestehende fort – wenn auch aus einem neuen Selbstverständnis heraus. Auf jeden Fall ist der Zustand der Verpuppung endlich. Wie lange er letztlich dauern wird, können wir nur erahnen. Unser ­derzeitiger Eindruck ist, dass es gut wäre, in den kommenden sechs Monaten der Puppe die Chance zu geben, ihre Meatmorphose gründlich zu vollziehen und in diesem Zeitraum nicht wie sonst drei Hefte, sondern nur zwei herauszugeben. In dieser Zeit können Sie, liebe Leserinnen und Leser, und wir als Oya-Verantwortliche uns gemeinsam fragen: Was gehört zum Alten, das sich getrost auflösen kann, was ist das Essenzielle, das die neue Gestalt bildet? Wir freuen uns über Zuschriften! Ähnliche Wandlungsprozesse scheinen sich auch bei vielen anderen Projekten zu vollziehen. Davon sollten wir einander erzählen. •••

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Metamorphose

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